Das moderne Denken beeinflusst das Handeln der Muslime in der Welt. Von Abdulhakim Andersson

Ausgabe 220

(iz). Der Zweck dieses Textes ist es nicht, das volle Spektrum säkularer Ideen und Wirklich­keiten in der Moderne abzudecken. Doch geht es um Erklärungen der Tugend oder Untugend säkularer Gesellschaften. Vielmehr dient er zum Verständnis, wie das Säkulare in seinen verschiedenen Diskursen unser Denken und Handeln in der modernen Welt beeinflusst. Um diese Perspektiven verständlich zu machen, beginnen wir jedoch damit, unsere Begrifflichkeit und die grundlegenden Konzepte zu klären.

Der Säkularismus und das Säkulare
Die klassische These zur Säkularisati­on sieht drei wesentliche Elemente vor: Erstens, eine strukturelle Unterscheidung der sozialen Sphären, die in ­einer Trennung von Religion und Politik mündet, zweitens, eine Privatisierung von Religion, und drittens, ihre schwindende soziale Bedeutung. Viele ­Aspekte dieser These wurden von der ­modernen Lehre in Frage gestellt. Auch wenn diese Debatten interessant sind, ist es nicht das Ziel, diese These selbst herauszufor­dern. Es geht vielmehr um einen Umgang mit der Idee der Säkularisierung – als Narrativ und auch als normative Idee, die unser Leben in der ­modernen Gesellschaft formt.

Der bekannte Anthropologe Talal Asad legt nahe, dass der Säkularismus neue Vorstellungen und Imperative in Religion, Ethik und Politik voraussetzt. Sie stehen in engem Zusammenhang mit dem Entstehen des kapitalistischen Nationalstaates. Asad argumentiert, dass Säkularismus als ein politisches Medium funktioniert, das Praktiken neu definiert und überwindet, die durch ­Klasse, Geschlecht und Religion ausge­drückt werden. Vor der heutigen politi­schen Doktrin des Säkularismus jedoch steht es das Konzept des Säkularen. Wie Asad in „Formations of the Secular“ (2003) formuliert, wurde das Säkulare gebildet durch das Zusammenkommen in der Zeit als Vielfalt aus Konzepten, Praktiken und Empfindungen. Er schließt mit dem Gedanken, dass es nicht als angeblich rationaler Nachfolger der Religion gelten kann.

Diskurs
Das Wort „Diskurs“ beschreibt Gedankensysteme, die aus Ideen, Einstellungen, Handlungsweisen und Glaubensüberzeugungen bestehen. Sie ­bilden systematisch die Subjekte und die Welten, über die sie reden. Dis­kur­se sind Darstellungen und Erzeuger sozialen Wissens. Daher stehen sie in engem Zusammenhang zu ­weiteren Machtbeziehungen.

Demnach werden Diskurse kontrolliert von 1.) Objekten, über die gespro­chen werden kann, 2.) Ritualen, wo und wie man sprechen kann, und 3.) Privilegien, wer sprechen darf. Denn ­Sprache oder Wissen sind mit Praxis verbunden. Sie trifft auch auf das, was man tut, wo und wie man etwas tut und wer es tut. Daher stehen Sprache und Recht – die Kernthemen der beiden ­folgenden Darstellungen – in enger Beziehung zueinander. In bestimmten Zusammenhängen definieren sie, was gesagt und was getan werden kann. Dies wiederum bestimmt, was Identität sein kann oder nicht.

Die Religion und das Säkulare
Einer der nützlichsten Wege zum Verständnis der säkularen Gesellschaft findet sich in ihrer Darstellung des Religiösen. Diese ist einer der Gegenpole, durch den säkulare und demokratische Gesellschaften sich selbst verstehen. In diesem Sinne ist Religion ein wesentlicher Bestandteil des Säkularen. Genauso ist es Teil des Konzeptes von Religion – wenn sie als von weltlichen Angelegenheiten getrennt verstanden wird.

Die Herausbildung des Säkularen und seiner Ideen hat sich natürlich unterschiedlich entwickelt – entsprechend der in Frage kommenden Gesellschaft. Oft enthalten sie überlappende und auch widersprüchliche Identitäten. Aber einige, gemeinhin anerkannte Annahmen des Säkularen formen trotzdem die praktischen, politischen und sozialpolitischen Wirklichkeiten. Oft geschieht es, dass in säkularen Gesellschaften jene Gruppen, die nicht in die ­vorgefertigte Darstellung der Mehrheits-Identität passen, als Minderheit definiert und ausgeschlossen werden. Oft religiöser Natur, werden diese Gruppen in die Defensive gedrängt, da „Minderheiten nur als Minderheiten in hierarchischen Machtstrukturen definiert werden“. Diese Darstellungen, die prinzipiell der Bestimmung der Mehrheitsidentität dienen, werden dann mit Hilfe der Diskurse in säkularen Gesellschaften vermit­telt, sei es durch Recht, Medien, Erziehung u.a.

Da die institutionelle Darstellungsweise der säkularen Demokratien das Säkulare als selbstverständliches Ideal ansehen, definieren diese Konzepte den öffentlichen Diskurs seiner Minderheiten. Die Bildung von Identität – insbesondere in der modernen Welt – ist nicht nur eine Angelegenheit zur Schaffung von erkennbarer Gleichartigkeit im wörtlichen Sinne. Es geht auch um die Repräsentation von Identität in Bezug zu anderen. Daher sind diese diskur­siven Darstellungen entscheidend für die Erzählformen aller Individuen und Gruppen der Gesellschaft.

Zeit und Zeitlichkeit
Die Bildung säkularer oder religiöser Identitäten ist eng mit der Zeit verbun­den. Ein Grund für die Schwierigkeit der muslimischen Darstellung in den säkularen Diskursen Europas ist, dass die Zeit und Zeitlichkeit der in der Tradition verwurzelten Praktiken und Weltanschauungen des Islam nicht in die homogene Zeit (das heißt, die säku­lare) der nationalen Politik übersetzt werden können. Das Narrativ der islamischen Lebensweise entzieht sich natürlicherweise der instrumentalisierten Ausrichtung moderner Politik. Gleichermaßen bricht die ganzheitliche Weltsicht des Islam – die das ­spirituelle und das weltliche beides umfasst – aus dem säkularen Konzept von Religion aus.

Die bestimmenden Diskurse sind jedoch keine plangesteuerten Fakten. Sie ändern sich permanent. Daher ist ein Verständnis ihrer Strukturen oder ­Arten des Einflusses notwendig, um unsere Identität zu bewältigen und um eine Lebensweise für diese Zeit und diesen Ort zu finden. Die sich aufdrängende Frage ist, wie die vorherrschenden Darstellungen in der säkularen Gesellschaft die Weltsicht von Muslimen beeinflus­sen, von denen die meisten ihren Gebo­ten unterliegen? Noch praktischer: Wie sollen Muslime mit Muslimen und Nichtmuslimen innerhalb dieser säkularen Diskurse zusammenwirken?

Beispiele
Um diese Fragen beantworten zu können, brauchen wir Beispiele, die ein Licht darauf werfen, wie säkulare ­Ideen über Religion die Art und Weise beein­flussen, wie moderne Muslime ihre eige­nen Traditionen betrachten. In den dominanten säkularen Diskursen gilt ­Islam als statisch, irrational und ausschließlich auf vor-modernen Überzeugungen beruhend. Dies mache Muslime anfällig für (ungeregelte) Gewalt, soziale Ungleichheit usw. Das sind Kernwerte, gegen die sich die säkulare Gesellschaft selbst entwirft und lässt Muslimen – daher – nur zwei Optionen: Entweder übernehmen sie „moderne“ Werte und werden zu geduldeten, „gemäßigten“ Muslimen, oder sie bestätigen die nega­tive Darstellung von Muslimen, indem sie ihre Grundlagen verteidigen. So ordnen sie sich selbst als „Extremisten“ ein.

Das symbolträchtige Thema der muslimischen Frau ist ein Beispiel. Gemäßigte Muslime sind jene, die das Image der Ungleichheit ablehnen, indem sie moderne europäische Werte annehmen, während extremistische Muslime ­solche sind, die das moderne Konzept von Gleichheit ablehnen, indem sie verteidigen, was Säkularisten als ungleich und unterdrückend festlegen. Beide Antwor­ten sind jedoch eng mit den Diskursen der säkularen Dominanz verbunden. Diese bilden nicht nur die säkulare Wahrnehmung des Islam, sondern bestimmen auch Verhalten und Erwartungen von Muslimen.

Ein anderer Aspekt von Religion – auf jeden Fall in der säkularen Definition – ist, dass sie sich nur mit individu­eller Moralität und Theologie (das heißt, statischen und irrationalen Überzeugungen) beschäftigt – oder beschäf­tigen sollte. Wird Islam ausschließlich als „Religion“ dargestellt, wird er unausweichlich seiner sozialen, politischen, wirtschaftlichen und historischen Reali­täten beraubt. Nehmen Muslime die defensive Identität einer religiösen Minderheit an, wird ihnen gestattet, ihre religiöse Identität aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig scheitert jeder Versuch, die anderen Aspekte der islamischen ­Lehre darzustellen, an der Übersetzung in säkulare Politik, Ökonomie usw. Ein Muslim, der mehr als religiös im mode­raten Sinne ist, gilt im dominanten säkularen Diskurs als bedrohlich oder wird – im schlimmsten Fall – auf ­seinen grundlegenden Status als Mensch reduziert; das heißt, ohne Staatsbürgerschaft und daher ohne ­Menschenrechte.

Talal Asad merkte etwas an, woran man sich in Relation zur modernen Politik von Terror, Krieg und Gefängnislagern erinnern sollte: „Ein ­säkularer Staat garantiert keine Duldung. Er bringt verschiedene Strukturen von Ambition und Furcht ins Spiel. Das Recht hat niemals die Abschaffung von Gewalt zum Ziel, da sein Ziel immer in der Regulierung von Gewalt besteht.“

Diskurs ist mehr als Rede. Er bestimmt sowohl Weltsicht als auch Praxis. Man muss nur über die architekto­nische Zeichensprache moderner Schulen oder Finanzinstitutionen nachdenken oder über die verfahrenstechnische Zeichensprache der Wahl-Demokratie, die kommerzielle Zeichensprache von Supermärkten, die militärische Zeichensprache von modernen Flughäfen oder vielleicht die juristische Zeichensprache von Meinungs- und Religionsfreiheit. Wie wirkt sich der ­säkulare Diskurs auf Verhalten und Weltanschauung von Menschen aus, die innerhalb dieser Gesellschaften interagieren?

Gibt es neue muslimische Diskurse?
Es mag nützlich sein, mit Beispielen von neuen muslimischen Diskursen in säkularen Gesellschaften zu schließen, denen es gelungen ist, die säkulare Darstellung des Islam zu überwinden und gegen das zu tauschen, was er traditionell für Muslime ist. Jüngere ­Initiativen in Richtung einer Erneuerung (Tadsch­did) bei Lehre, Politik, Wirtschaft, Medien, Sozialarbeit, Landwirtschaft usw. verdienen sicherlich eine Untersuchung.

Diese Themen jedoch brauchen eine gesonderte Untersuchung. Und der Anfang von allem liegt in der vorsichtigen Betrachtung entscheidender Fragen zu muslimischen Identitäten, Weltanschauungen und Lebensweisen innerhalb – oder vielleicht außerhalb – der Grenzen des Säkularen.