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Das Rechte gebieten – aber wie?

Ausgabe 317

Beim Ansprechen von Fehlentwicklungen und Ungerechtigkeit ist die Frage nach dem Wie ebenso wichtig. (Foto: Laila Fadel)

(iz). In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich in abgeschlossenen Zirkeln, auf YouTube sowie in sozialen Netzwerken die unangenehme Angewohnheit ausgebreitet, nach der sich nicht wenige Muslime berufen fühlen – unter dem Gebot des „das Rechte gebieten und das Falsche verwehren“ –, als Richter über andere und ihr Verhalten zu agieren. Dabei wird übersehen, dass diese qur’anische Anweisung mit erheblichen Bedingungen und Auflagen versehen ist.

Allah, der Erhabene sagt in Seinem Qur’an: „O die ihr glaubt, fürchtet Allah und sagt treffende Worte. So lässt Er eure Werke als gut gelten und vergibt euch eure Sünden. Und wer Allah und Seinem Gesandten gehorcht, der erzielt ja einen großartigen Erfolg.“ (Ahzab, Sure 33, 70-71)

Die Befehle in Hinblick auf das Sprechen sind die Rezitation des Qur’an, das Gottesgedenken (arab. dhikrullah) sowie Bittgebet (arab. du’a). Hinzukommt eine vierte Sache: das Rechte zu gebieten und das Falsche zu verwehren. Hierzu heißt es im Qur’an: „Und es soll aus euch eine Gemeinschaft werden, die zum Guten aufruft, das Rechte gebietet und das Verwerfliche verbietet. Jene sind es, denen es wohl ergeht.“ (Al-i-’Imran, Sure 3, 104)

Der andalusische Qur’ankommentator Ibn Dschuzaij Al-Kalbi sagt in seinem Kommentar (arab. tafsir): „Dieser Vers zeigt, dass das Gebieten des Richtigen und das Verwehren des Falschen verpflichtend ist. Und Seine Worte ‚aus euch’ belegen, dass es sich um eine gemeinschaftliche Verpflichtung handelt. Wenn jemand sie erfüllt, dann sind andere hier nicht nachlässig. Das heißt, es ist eine Fard Kifaja. (…) Aber einige haben gesagt, es meint ‚seid eine Gemeinschaft, die zum Guten aufruft und sich am Richtigen erfreut…’. Die Veränderung des Falschen kann mit der Hand, der Zunge oder dem Herzen in Abhängigkeit von den Umständen geschehen.“

Der Prophet Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte über das Falsche, wie es in einer Überlieferung von Abu Sa’id Al-Khudri heißt: „Ich hörte den Gesandten Allahs sagen, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben: ‚Wer von euch etwas Falsches sieht, der soll es mit seiner Hand ändern, und wenn er es nicht kann, dann mit seiner Zunge, und wenn er es nicht kann, dann mit seinem Herzen, und das ist der schwächste Iman.’“ (überliefert von Imam Muslim)

Imam An-Nawawi, möge Allah ihm gnädig sein, sagte hierzu: „Das Gebieten des Richtigen und das Verwehren des Falschen ist eine Verpflichtung für die Gemeinschaft. Und zwar derart, dass, wenn einige sie erledigen, andere nicht der Unterlassung schuldig sind (Fard Kifaja). Sie kann ausdrücklich obliegen – im Gegensatz zu Handlungen der Erinnerung, die freiwillig sind. Die Belohnung für obligatorische Handlungen sind größer als die für empfohlene. Das belegen Seine Worte, Er sei erhaben, ‚mein Sklave nähert sich Mir nicht mit etwas, das Mir lieber ist als das, was Ich ihm zur Pflicht gemacht habe), die von Imam Al-Bukhari überliefert wurden. Einer der Gelehrten sagte: ‚Die Belohnung für eine verpflichtende Handlung übersteigt die für eine optionale um 70 Gradstufen.’“

Die Erfüllung dieser Pflicht kann durch Sprechen, Schreiben oder den Einsatz von Medien geschehen – privat oder öffentlich, geheim oder zugänglich. Dies geschieht nach den Vorgaben der nötigen Weisheit. Das Gebot des Richtigen und das Verbot des Falschen ist der Akt der Korrektur, der aus vier Elementen besteht: der Person, die andere korrigiert, der Sache, wegen der sie korrigiert, der Person, die korrigiert wird, und dem Akt des Korrigierens.

Soweit die Person betroffen ist, die etwas richtigstellt, so gibt es für sie gewisse Vorbedingungen, die erfüllt werden müssen: Es muss sich dabei um einen geistig gesunden, erwachsenen Muslim handeln. Sie muss in der Lage sein, die Handlung des Korrigierens zu vollziehen, und das nötige Wissen über den behandelten Sachverhalt haben. Und sie muss sicherstellen, dass eine Zurückweisung des Falschen nicht zu einem größeren Schaden führt. Ein Beispiel dafür wäre, wenn die Verhinderung des Trinkens von Alkohol zu einem Mord führen würde. Das Fehlen dieser Voraussetzungen macht es unzulässig, sich auf diese verpflichtende Handlung zu berufen.

Die handelnde Person muss wissen oder sich ziemlich sicher sein, dass ihre Verwehrung des Falschen dazu führt, dass es endet. Und dass ihr Gebot des Richtigen nützlich und vorteilhaft ist. Fällt diese letzte Vorbedingung weg, dann ist dies nicht mehr verpflichtend, sondern bleibt nur erlaubt oder empfohlen. Es gibt unterschiedliche Meinungen darüber, ob jemand, der selbst ein Übeltäter ist, das Richtige gebieten und das Falsche verbieten kann oder nicht.

Die zu korrigierende Person kann jeder sein; unabhängig davon, ob ihr Verantwortung übertragen wurde. Gerade für unsere Zeit ist es wichtig, dass unsere Pflicht zum guten Rat nicht auf die muslimische Gemeinschaft begrenzt ist. Sondern wir stehen in der Pflicht, die Gesellschaft im weiteren Sinne zum Richtigen aufzurufen.

Auch die Sache, wegen der jemand korrigiert werden kann, hat Vorbedingungen. Sie muss falsch sein. Und diesbezüglich kann es keinen Zweifel oder Mehrdeutigkeiten geben. Ich möchte hinzufügen, dass es sich hier nicht um detaillierte Fragen des Fiqh oder Unterschiede in den Rechtsschulen handeln kann; und auch nicht um unwichtige Nebensächlichkeiten. Diese Unsitte hat heute ein derartiges Ausmaß erreicht, dass manche Leute andere für Dinge kritisieren, die durch einige der Leute des Wissens entweder als erlaubt oder empfohlen eingestuft sind.

Eine weitere gravierende Einschränkung: Hier handelt es sich nicht um Dinge, die geschehen sind. Also Handlungen, die in der Vergangenheit liegen. Diese Aufgabe kommt den Behörden und Autoritäten zu. Noch betrifft es zukünftige Dinge, es sei denn, man ruft zu ihnen auf oder hält zu ihnen an.

Die behandelte Sache darf nicht durch das Ausspionieren von Leuten bekannt sein. Wenn eine Person sich zurückzieht und hinter verschlossenen Türen handelt, ist es untersagt, sie auszuspähen. Und wir würden hinzufügen, dass es nicht zulässig ist, darüber zu spekulieren, was jemand hinter verschlossenen Türen tut, oder darüber zu tratschen.

Der höchste Grad dieser Handlung besteht darin, Dinge mit seiner Hand zu ändern. Wenn man dazu nicht in der Lage ist, geht man dazu über, darüber zu sprechen. Und ist man dazu nicht in der Lage oder fürchtet das Ergebnis, geht man zum dritten Grad über, der darin besteht, die Dinge mit dem Herzen zu ändern.

Eine Verbesserung der Dinge durch das Sprechen hat verschiedene Abstufungen: das Verbot, die sanfte Ermahnung (sie ist angemessener und besser), dann Tadel und schließlich deutliche Worte.