Ein Gastkommentar von Aiman Mazyek über die Erosion des Völkerrechts im Gazakrieg.
(iz). Angesichts der gegenwärtigen Ereignisse im Gaza-Krieg wird deutlich, dass sämtliche Handlungen im Widerspruch zum Völkerrecht stehen: die Massentötung von Zivilisten, Journalisten und humanitären Helfern, die fortlaufende Besetzung palästinensischen Territoriums, die weitreichende Zerstörung Gazas – darunter Krankenhäuser, Moscheen, Kirchen und Schulen – sowie die Folter von Gefangenen und die absichtliche Aushungerung der Bevölkerung.
Fot: Anas-Mohammed, Shutterstock
Kontrast zwischen regelbasiertem Völkerrecht und realer Kriegführung
Noch nie zuvor wurde der massive Kontrast zwischen den auf Regelungen basierenden Prinzipien des Völkerrechts und der aktuellen Kriegsführung täglich und über eine so lange Zeit vor Augen geführt.
Die Konsequenzen für die Integrität der internationalen Beziehungen und Ordnung sind bedeutend. Die Weltmächte haben effektiv die Weltordnung, die sie größtenteils nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen haben, zerstört – nicht zuletzt aufgrund einer Doppelmoral, die einerseits die bedingungslose Einhaltung der Menschenrechte einfordert, sie aber in anderen Fällen bewusst ignoriert.
Foto: UN Women, via flickr | Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0
Im freien Fall: verheerende Botschaft der Großmächte an die internationale Gemeinschaft
Die Botschaft, die vom Gaza-Krieg (und der Lage in der Westbank) ausgeht, lautet: Institutionen, Regeln und Normen, auf denen eine wertebasierte Außenpolitik und eine globale Weltordnung beruhen, sind bedeutungslos geworden.
Wir befinden uns nun praktisch im freien Fall in einem Weltsystem, in dem die Autorität von Polizei, Regierungen und grundlegenden Überzeugungen infrage gestellt wird. Dies verändert alles.
Gaza ist nicht nur ein Friedhof für mittlerweile 33.000 Menschen, sondern auch ein Friedhof der internationalen Ordnung geworden. Die größten Unsicherheiten bestehen nun darin, ob eine neue Weltordnung ohne einen großangelegten globalen Konflikt und Krieg entstehen kann, wer die Grundlagen dafür legen wird und wie sie gestaltet werden kann, um für alle fair zu sein und von allen respektiert zu werden.
Foto: Deutscher Bundestag / Florian Gaertner / photothek
Wie positioniert sich Deutschland?
Und in Deutschland? „Nie wieder“ bedeutet, dass die Lehren des Holocaust, die in ihrer beispiellosen und von Menschen gemachte (in dem Fall deutschen Nazis) Vernichtung alles Jüdischen, universell gültig sind, und zwar für alle Menschen weltweit gelten. Deutschland hat sich dazu verpflichtet, wenn es sagt: „Nie wieder“.
Bedauerlicherweise haben uns wir im deutschen Diskurs – und die Welt reibt sich darüber verwundert, teils auch mit Schrecken die Augen – davon entfremdet und erreichen sogar einen Punkt, an dem der Holocaust in Teilen instrumentalisiert und als Rechtfertigung für den Verzicht auf moralische Klarheit herangezogen wird.
Doch die Furcht vor einem Verrat an den Lehren des Holocaust muss immer größer sein als die Angst vor der Kritik an Kriegshandlungen einer in diesem Fall rechtsextremen, fundamentalistischen Regierung, die versucht, alle ihre Kritiker (einschließlich Juden, Israelis selber) als Antisemiten zu brandmarken und zu verunglimpfen, die sie für ihre Kriegsverbrechen kritisieren.
* Dieser Text wurde erstmals am 11.04.2024 auf der Webseite der taz unter dem Titel „Gefährliche Doppelmoral“ veröffentlicht. Wiedergabe mit Einwilligung des Autors. Die IZ-Seite veröffentlicht ihn in seiner vollen Länge.