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Debatte: Als „Islamist“ gilt mittlerweile so ziemlich jeder

Foto: Klaus Oberhausen, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC0 Universal Public Domain

In seinem Jahresbericht 2020 macht der Verfassungsschutz aus so ziemlich jedem Muslim, der sich in einer der großen muslimischen Organisationen engagiert, einen „Islamisten“. Damit stigmatisiert die Behörde nicht nur zehntausende gesetzestreue Bürger, sie trivialisiert auch echte extremistische Bedrohungen.

(iz). Für den Großteil der Pressekonferenz schienen Innenminister Horst Seehofer und Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang eigentlich einen ganz guten Job zu machen. Bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2020 waren sie auf neue Bedrohungen im Rahmen der Corona-Proteste eingegangen, hatten proaktiv die Sorgen vieler Bürger vor zunehmender Überwachung adressiert.

Und doch war da diese eine Szene, die das Grundproblem des Berichts offenlegte: Wie die beiden dazu stünden, dass der CDU-Bundestagskandidat und ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans Georg Maaßen, antisemitische Verschwörungstheorien verbreite, wollte ein Journalist ganz am Ende der Pressekonferenz wissen. Über Einzelpersonen rede er nicht, wiegelt Haldenwang die Frage über seinen Vorgänger ab. Und Seehofer versicherte, dass Maaßen „zweifelsfrei auf dem Boden unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ stünde.

Die kurze Szene ist deshalb so interessant, weil sie zeigt, wie unterschiedlich die Einschätzungen der Verfassungsschützer bei ganz ähnlichen Sachverhalten sein können. Würden Seehofer und Haldenwang ihren Parteifreund Maaßen mit jenem Maß messen, das sie an Muslime anlegen, sie müssten nicht nur Maaßen, sondern die gesamte CDU/CSU und das Bundesamt für Verfassungsschutz selbst zur extremistischen Bedrohung erklären.

Mutmaßungen,  Pauschalisierungen,  Kontaktschuldvorwürfe

Um es kurz zu machen: Als „Islamist“ gilt dem Verfassungsschutz mittlerweile so ziemlich jeder, der sich in einer der großen muslimischen Organisationen in Deutschland engagiert. Da werden Zehntausende gesetzestreue Menschen pauschal zu Extremisten erklärt, ohne auch nur den Versuch zu machen, ihnen Straftaten oder extremistische Äußerungen nachzuweisen. Organisationen, die sich jeden Tag etwa in Integrationsarbeit und interreligiösem Dialog engagieren, werden zur Gefahr für das friedliche Zusammenleben erklärt, ohne auch nur einen konkreten Beleg zu liefern. Es bleibt das Geheimnis der Verfassungsschützer, wie es zehntausende Menschen schaffen, seit Jahrzehnten an der Abschaffung der freiheitlich demokratischen Grundordnung und der Errichtung einer islamischen Herrschaftsordnung zu arbeiten, ohne dass ihnen Deutschlands mächtigster Geheimdienst auch nur eine einzige subversive Tat nachweisen kann.

Belege brauchen die Verfassungsschützer auch in der 2020er-Auflage ihres Jahresberichts kaum. Stattdessen hagelt es Mutmaßungen, Pauschalisierungen und Kontaktschuldvorwürfe. Im Fall des türkisch-islamischen Kulturvereins ATİB dient beispielsweise ein einziger Facebook-Post eines einzigen Ortsvereinmitglieds als Beleg für den Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus tausender Menschen. Im Fall von Millî Görüş gibt es nicht einmal das und der Leser bleibt mit der Frage zurück, wie es der Moscheeverband überhaupt in den Bericht geschafft hat.

Alu- statt Schlapphüte

Einen Vorteil haben die Unterstellungen, Mutmaßungen und behaupteten „Näheverhältnisse“: Die beschuldigten Organisationen können sich kaum juristisch gegen sie wehren. Im Gegenteil: Versuche, sich gegen die Vorwürfe zu verteidigen, werden in ihr Gegenteil verkehrt.

Dass Abstreiten von Verbindungen zur Muslimbruderschaft und Bekenntnisse zu Grundgesetz und freiheitlich demokratischer Grundordnung „gehört zu ihrem konspirativen Vorgehen und verdeutlicht die Janusköpfigkeit der Organisation“, heißt es beispielsweise zur Deutschen Muslimischen Gemeinschaft.   Während die Beamten in vorhergehenden Kapiteln sich umfassend mit rechten Verschwörungstheorien auseinandersetzen, wirken die Kapitel zu islamischen Organisationen in weiten Teilen so, als hätten die Verfassungsschützer beim Schreiben selbst einen Aluhut aufgehabt.

Bagatellisierung echter extremistischer Bedrohungen

Dabei finden sich von Salafisten über türkische Nationalisten bis hin zu Al-Qaida-Anhängern in dem Bericht auch jede Menge echte extremistische Bedrohungen. Doch genau diese relativieren die Verfassungsschützer, wenn sie sie mit gewöhnlichen deutschen Moscheegängern gleichsetzen. Eine Statistik zum „Personenpotenzial Islamismus/islamistischer Terrorismus“ besteht beispielsweise zum großen Teil aus völlig gesetzestreuen und bestens integrierten IGMG-Mitgliedern. Da fallen die paar Al-Qaida-Anhänger kaum noch ins Gewicht.

Was ist der analytische Mehrwert eines „Islamismus“-Begriffs, der den „Islamischen Staat“ und das „Islamische Zentrum Hamburg“ zu unterschiedlichen Strömungen desselben politischen Extremismus erklärt? Es gibt keinen. Es ist pure Demagogie.

Die Abwegigkeit der „Islamismus“-Analyse des Verfassungsschutzes, wird besonders deutlich, wenn man sich anschaut, wie sie mit anderen Bedrohungen umgehen: Während auf dutzenden Seiten über Mutmaßungen und Assoziationsketten gesetzestreue Muslime zur islamistischen Bedrohung verklärt werden, schaffen es ganz reale und gut belegte rechtsextreme Umsturzpläne oft nur auf wenige allgemein gehaltene Zeilen oder Absätze.

Mitglieder terroristischer Gruppierungen wie der „Gruppe S.“, „Nordkreuz“ und „Uniter“ legten Waffenlager an, führten Feindeslisten, planten Anschläge auf Moscheen und die Emordnung von Politikern, wollten Bürgerkriege herbeiführen und das politische System stürzen. Die Ausführungen des Verfassungsschutzes gehen dennoch selten über die Aufzählung von Anklagepunkten der Staatsanwaltschaft oder dem vagen Versprechen „jedem einzelnen Fall entschlossen zu begegnen“ hinaus. Für die Frage, was die Existenz solcher Gruppen, in denen sich auch SEK-Polizisten und KSK-Soldaten versammelten, über den Zustand von Sicherheitsbehörden und Bundeswehr aussagt, interessiert sich der Verfassungsschutz ebensowenig wie die ideologischen Anknüpfungspunkte dieser Gruppen zur Ideologie bürgerlicher „Islamkritiker“.

Muslime gibt es nur als Täter, nicht als Opfer

Das mag auch daran liegen, dass der Verfassungsschutz Muslime nur in einer Rolle wahrzunehmen scheint: als Täter. Nach extremistischen Bedrohungen, die sich gegen die muslimische Bevölkerung Deutschlands richten, sucht man – trotz rund 100 Angriffen auf Moscheen im vergangenen Jahr – nahezu vergeblich. Zur Veranschaulichung: Auf 394 Erwähnungen bringt es der Begriff „Islamismus“ (und abgeleitete Begriffe) im Verfassungsschutzbericht 2020. „Islamfeindlichkeit“ und andere Begriffe, die Feindseligkeiten gegen Muslime beschreiben, bringen es gerade einmal auf fünf Nennungen. Bis auf einen Fall geht es dabei allerdings auch wieder um „Opfernarrative“ und unberechtigte „Vorwürfe“ durch „Islamisten“.