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Constantin Schreibers Roman „Die Kandidatin“ ist ziemlich belanglos

Ausgabe 313

Schreibers Hauptfigur Hussein ist offenkundig der Politikerin Sawsan Chebli nachgebildet. (Foto: photocosmos1, Shutterstock)

(iz). Dieses Buch ist ein Ärgernis. Aber nicht, weil es politisch so extrem wäre. Auch nicht, weil es an irgendeinem literarischen oder intellektuellen Anspruch scheiterte, denn es hat keinen. Sondern schlicht und ­einfach, weil es so durchsichtig ist wie Wassersuppe. Constantin Schreibers ­Roman „Die Kandidatin“, von den Qualitätsmedien erst tapfer ignoriert, inzwischen aber unter anderem in der „Süddeutschen“ und im SPIEGEL rezipiert, ist ein Schlüsselroman, wie es platter nicht ginge.

Die Hauptfigur, Sabah Hussein, ist so offensichtlich der Berliner Staatssekre­tärin Sawsan Chebli nachgebildet, dass man sich fragen muss, was in der Vergangenheit zwischen Schreiber und Chebli vorgefallen sein mag. Enttäuschte Liebe? Jedenfalls trägt der ganze Roman derart plakative Züge einer General­abrechnung mit der Hauptfigur, dass ­jeder politische Anspruch, den man ­dahinter erkennen mag, verblasst.

Die Figuren um Hussein herum sind nicht minder Verschlüsselungen: Da ist Peter Helderberg, ihr Kollege in der Ökologischen Partei (ÖP), eine Mischung aus Winfried Kretschmann und Robert Habeck (hinter der „ÖP“ selbst verbergen sich natürlich die Grünen); Gerhard ­Reuter, ihr Mentor in der Berliner Politik, in dem wir unschwer Michael Müller wiedererkennen; Jonas Klagenfurt, der für das Boulevardmagazin AKUT (sic) arbeitet, ist „mit dem halblangen Bart, den strubbeligen Haaren und dem zerknitterten beigen Cordjackett“ leicht als Paul Ronzheimer enttarnt; und in der streitbaren Anwältin Asli Basoglu, die sich einst vom „konservativen Islam“ löste und eine liberale Moschee gründete, nun aber „als Einsiedlerin in Norwegen“ lebt, begegnet man natürlich Seyran Ates. Und das ist nur ein Auszug.

„Die Kandidatin“ soll eine Dystopie sein. Wir befinden uns etwa in den 30er Jahren des 21. Jahrhunderts. Es herrscht der Kampf der Identitätspolitiken. Man singt nicht mehr die National-, sondern die „Diversity Hymne“, wer etwa an einer Hochschule eingestellt werden möchte, muss die sogenannte „Peinliche Analyse“ bestehen, in der der Kandidat auf etwaige minoritätenfeindliche Haltungen abgeklopft wird, auf der Sonnenallee in Berlin-Neukölln ruft der Muezzin zum Gebet, und das dortige Ernst-Abbe-Gymnasium heißt inzwischen Präsident-­Erdogan-Schule. Karriere macht man nur noch mit „Minderheitenmerkmalen“, und wer in einer Talkshow statt „Hijab“ „Kopftuch“ sagt, dem ist ein Shitstorm gewiss. Die Rapperin „Yasemine Brutal“ singt Sachen wie „Ich scheiß auf Hegel und Schiller, ich hab meine eigenen Vorbilder, Alter, meine Kultur und Religion. Was hast du dagegen schon?“.

Dank dem „Gute-Namen-Gesetz“ können „Frauen und Diverse“ ihre patriarchalen Namen ändern, gewählt ­werden darf schon ab 16, aber nicht mehr über 70, und ein neues Gesetz schreibt künftig jedem Menschen Kategorien über den Grad seiner Diskriminierung in den Personalausweis. „‘Du bist privilegiert aufgewachsen? Deine Eltern waren Lehrer:innen oder Angestellte? Ihr hattet ein Auto, eine eigene Wohnung oder ein eigenes Haus? Du konntest studieren, hast wegen deiner Hautfarbe oder deines Glaubens keine Diskriminierung erlebt und schnell Arbeit gefunden?‘“ Dann, so will es das Grundgesetz dieser Westen­taschen-Dystopie, warst Du wohl nie ­diskriminiert.

Am anderen Pol der Identitäten stehen natürlich die Rechten, politisch vertreten durch die Partei ZfD („Zukunft für Deutschland“), zivilgesellschaftlich organisiert durch Leute wie Sven Birn, der an der Mecklenburgischen Seenplatte ein nationales Paradies verwirklichen will (die informierte Leserin fühlt sich hier gewiss an das berüchtigte Neonazi-Dorf Jamel erinnert). Der Name dieses biodeutschen Utopia (nein, das ist kein Witz): Neu-Gotenhafen.

Wer den woken Mainstream nicht mitmacht, trifft sich „auf geheimen Partys zum Blackfacen“, und „in der Szene kursiert ein aufwendig produzierter Film, der inzwischen Kultstatus erreicht hat. Er heißt Nicht PC, also ›nicht politically correct‹, und wird oft in Gruppen ­geschaut.“ 

Zugleich aber hat sich die wirtschaftliche Ungleichheit weiter verschärft: die Reichen (die es offenbar immer noch gibt) wohnen in gated communities, wobei es offenbleibt, ob diese mehrheitlich „weiß“ oder „nicht-weiß“ sind. Demgegenüber steht die Blade-Runner-hafte Verarmung breiter Schichten, die man sich wohl vor allem als abgewirtschaftete „biodeutsche“ Arbeiterklasse vorstellen soll. Gesetzlich Versicherte müssen „Einwegspritzen und Verbandszeug“ inzwischen selbst zur Behandlung mitbringen.

Derweil ist China – Überraschung – endgültig Weltmacht Nummer eins ­geworden. Während Sabah daheim Deutschlands erste muslimische Bundeskanzlerin werden will, annektiert die Volksbefreiungsarmee („Operation Ewige Einheit“) Taiwan. Auch in puncto Soft Power ist das Reich der Mitte ganz vorne dabei, versorgt deutsche Expat-Wissenschaftlerinnen in seinen Forschungszentren mit „eigenem Haus mit fünf Zimmern und einem Pool“ und stellt inzwischen die Nofretete in Beijing aus. Die Ikone der Berliner Museumsinsel wurde nämlich erst an Ägypten restituiert und dann – natürlich – von der kor­rupten ägyptischen Regierung an die ­Chinesen verschachert. China ist Parzival, der „den Roten Ritter tötet und dessen Identität annimmt“ und dadurch „selbst zu einem respektierten Ritter“ der Tafelrunde wird; es will „das Erbe Europas erhalten“, „wie damals Ostrom das Erbe der Antike erhalten sollte“ (gut, dass Zbiginiew Brzezinski das nicht mehr ­lesen kann). Derweil bereitet Chinas Regierung die nächste Invasion vor, diesmal in die Mongolei. Die Dekolonisierung frisst ihre Kinder: der wichtigste Filmpreis sind nicht mehr die Oscars, sondern die Khans, „die jeden Februar in Mumbai verliehen und inzwischen als die wichtigsten Trophäen der Filmwelt gesehen werden“, und 007 ist nicht mehr James Bond, sondern „eine schwarze, lesbische Frau mit Behinderung“.

Schreibers Buch ist ein einziges Metaklischee, ein Diskursabriss im Stil der Bildzeitung. Was es trotz Beteuerungen seiner Kritiker und Fans nicht ist: ein Buch über den Islam. Ja, Sabah pflegt ­ihren Glauben. Sie trägt gern grün, denn auch „der Prophet soll sich am liebsten in grünen Gewändern gezeigt haben“, und heimlich sind ihr „Genderfragen ­eigentlich egal“, so wie überhaupt „der Islam“ so ziemlich im Gegensatz zur Diversitätsideologie zu stehen scheint, über die er doch im Westen politisch ­Karriere macht. Doch der (nicht nur) hier erhobene Vorwurf der Unaufrichtigkeit wird im Roman ebenso wenig geklärt, wie der Konflikt zwischen den konkurrierenden Deutungsmöglichkeiten – gehört der Islam nun zum Westen oder zum „postkolonialen Block“ unter chinesischer Leitung? – aufgelöst wird. Schreiber panscht alle möglichen Ingredienzen einfach munter zusammen, eklektisch wie ein Marvel-Film, traditionslos wie ein Szenecafé. Das ist nicht schludrig, weil offensichtlich gewollt, aber umso gefährlicher für den unbedarften Konsumenten. 

Gefährlich wird es auch für Sabah, das Feindbild aller Rechten, und spätestens nach dem ersten Drittel des Buches merkt auch der Schwerfälligste, dass ihr größter Feind an ihrer eigenen Brust sitzt: Es ist Jette, ihre persönliche Assistentin, ihre blonde, deutsche, gebildete, natürlich linksgrüne, aber eben doch bürgerliche und neiderfüllte Spin-Doktorin, die gern mit Tacitus-Zitaten angibt und Weißwein trinkt statt Bionade wie Sabah. Jette spielt „den Medien“ (darunter das linke Blatt „Pfote“ – man kann es sich wirklich nicht ausdenken) delikate Infor­mationen zu, die Sabahs Strahlefrau-Image beschädigen sollen, und trägt so zur finalen Eskalation der Handlung bei.

„Die Kandidatin“ ist ein Marketingcoup. Pures, zu Text geronnenes Klischee ohne jeden normativen Anspruch (vom künstlerischen nicht zu reden), was die Inanspruchnahme durch extreme Interpretationen freilich umso mehr erleichtert. In rechten Foren soll das Buch schon fleißig akklamiert worden sein. Wie Schreiber dazu kommt (abgesehen von möglichen privaten Motiven, von denen eingangs schon die Rede war)? Nun, er wirkte schon immer einen Tick zu perfekt, zu glatt, zu nett. Immerhin: Der heutige „Tagesschau“-Sprecher Schreiber wuchs zeitweise in Syrien auf und spricht fließend Arabisch. Er arbeitete in Ägypten, schrieb für den „Daily Star“ Beirut, war „Deutsche-Welle“-Korrespondent in Dubai. 2015 moderierte er auf n-tv die Willkommenssendung „Marhaba – Ankommen in Deutschland“. In seinen Büchern „Inside Islam“ (2017) und „Kinder des Koran“ (2019) schlug er deutlich ­„islamkritischere“ Töne an, wobei ihm insbesondere vorgehalten wurde, für ein umfassendes Bild des in deutschen ­Moscheen vermittelten Islam bei weitem nicht genügend Gotteshäuser besucht zu haben. Trotzdem ist seine Kritik etwa an judenfeindlichen und antiisraelischen Tendenzen in der Wissensvermittlung an Muslime in und außerhalb Deutschlands wie auch sein Eintreten für den saudi-arabischen Blogger Raif Badawi höchst legitim und verdienstvoll.

Ob dies auch für sein Projekt „Moscheepedia“ gelten kann, ist umstritten; man kann es als Eintreten für mehr öffentliche Sichtbarkeit islamischen Glaubenslebens bewerten, aber auch als Ansatz zur Überwachung, vergleichbar mit dem Moscheeregister in Österreich. Mit „Die Kandidatin“ aber hat Schreiber die Grenze des Legitimen, jedenfalls soweit es auch seriös sein will, überschritten. Vielleicht sollte er es seinen „Tagesschau“-Kollegen Jan Hofer, Linda Zervakis und Pinar Atalay gleichtun und zu den Privaten wechseln: mit den höheren Gagen, die diese zahlen, sollte er die Tantiemen aus seinen Buchveröffent­lichungen weniger nötig haben.

Constantin Schreiber: Die Kandidatin. ­Roman. Hoffmann & Campe, 208 S., Preis: EUR 22.–