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Debatte: Kein „Sabr“ bei häuslicher Gewalt

Ausgabe 327

Foto: Tinnakorn, Shutterstock

Musliminnen in unserer Gemeinschaft berichten häufiger davon, dass ihnen in Situationen von häuslicher Gewalt zu Geduld (arab. sabr) geraten werde. Die Autorin wirft einen Blick darauf, was dieses Wort bedeutet und was sich über diesen Missbrauch sagen lässt. Von Shenzay Sethi

(Amaliah.com) Sabr. Dieses Wort in Urdu und Punjabi, das ich während meines Aufwachsens immer wieder zu hören bekam, hat sich tief in meine Seele eingegraben. „Sabr“ hörte ich von meiner Großmutter mütterlicherseits, als ich hungrig nach einem langen Schultag an ihren Ärmeln zog. „Sabr“ sagte meine Mutter jedes Mal, wenn mein Vater mich wegen meines Geschlechts zurechtwies. „Sabr“ flüsterte mir ein Arzt über die Schulter zu, als ich mit Angstattacken zu kämpfen hatte.

Aber um was handelt es sich hier? Sie ist nicht nur eine Daseinsweise, sondern ein Akt der ultimativen Unterwerfung. Sie ist eine der größten Tugenden, die wir als Gläubige haben können und zu denen uns Allah, der Erhabene, in verschiedenen Formen ermutigt. Habt Geduld. Bleibt standhaft. Seid hartnäckig.

Unglücklicherweise wird dieser Begriff in der muslimischen Gemeinschaft oft falsch ausgelegt oder missverstanden. Manchmal wird dient er dazu, inakzeptables Verhalten wie Gewalt durch den Partner oder manipulative Beziehungen, zu übersehen und – bis zu einem gewissen Grad – solche Verhaltensweisen zu rechtfertigten.

„Sei nur geduldig. Die Dinge werden sich irgendwann von selbst ändern.“ Diesen Satz habe ich zu oft gehört. Und manchmal helfen diese Worte dabei, schwierige Situationen zu meisten. Jedoch wird es auch missbraucht, um Gewaltakte zu begründen. So wird sie verwickelt in gemeinschaftliche Passivität und Milde gegen schreckliche Handlungen. Wenn Allah uns sagt, wir sollten Sabr haben, bedeutet das nicht Tatenlosigkeit. Vielmehr sind das Momente, in denen wir standhaft sein sollten. So sagt Allah in Seinem Qur’an: „O die ihr glaubt, geduldet euch, haltet standhaft aus, seid bereit und fürchtet Allah, auf dass es euch wohl ergehen möge!“ (Al-i-’Imran, Sure 3, 200)

Dieser Vers bietet verschiedene Ableitungen des gleichen Konzepts. Zum Beispiel, wenn es um den Kontext von Missbrauch geht. Das ist deutlich anders als der weitverbreitete Rat. Man muss die Verantwortung übernehmen; um zu handeln und für Erfolg. Für jede erfolgreiche Aktion braucht es Standhaftigkeit. Man muss in der Lage sein, durchzuhalten, will man sich gegen solche Unterdrückung wehren.

Befragen wir die Bedeutung des Wortes im Zusammenhang einer Mutter, die häuslichen Missbrauch erlebt, bedeutet es Widerstand gegen eine Situation, damit sie selbst und ihre Kinder sicher sein können. Sabr heißt nicht, in einer solchen Bezeigung zu bleiben und Misshandlung oder Schmerz zu ertragen. Es ist für Frauen extrem schwer, eine Beziehung einfach zu verlassen. Der Preis davon sind dauernde Schmerzen und das eigene Dahinschwinden. Aber dieser Mann in ihrem Leben ist nicht ihr Herr.

Das geschieht, wenn man einer Person (Ehemann, Vater, Partner, Kinder) den Raum im Herzen gibt, der nur Allah zusteht. Als Folge werden Frauen zu Unterworfenen, die dem Missbrauch ausgesetzt werden können. Jene Stimmen, die diese Gewalt rechtfertigen, benutzen alle den Begriff „Sabr“. Dadurch wird man erniedrigt und gedemütigt werden. Denn das ist es, was Sklaverei und Entzug einer Identität mit einer Seele anstellt: sie schwächt. 

Ein gewaltfreies Leben ist ein fundamentales Menschenrecht. Globale Daten von den Vereinten Nationen ergaben, dass eine von drei Frauen Opfer von körperlichem, emotionalem und sexuellem Missbrauch durch engste Partner oder Familienmitglieder sind. Was häusliche Gewalt anbelangt, zeigten Untersuchungen, dass Frauen zu 38 Prozent häufiger von Gewalt betroffen sind als Männer.

Die Psychologin Lenore Walker hat in ihrem Buch „The Battered Women“ (Die misshandelten Frauen) darauf hingewiesen, dass Missbrauch oft ohne Vorwarnung und außerhalb eines Zyklus geschieht. Sie führte weiter aus, dass das Gehirn weiß, dass eine solche Beziehung ungesund ist, aber das Herz jede erdenkliche Erklärung findet, um den Akt der Unterdrückung zu rechtfertigen. Es fällt den Opfern schwer, zu akzeptieren, dass die Verantwortung beim Täter liegt. Das Verbleiben in der Situation und der ständige Versuch, Ruhe zu bewahren, werden zu einer Überlebensstrategie. Der einzige Weg zur Heilung besteht darin, das Herz zu entblößen und die bittere Pille zu schlucken, dass passives Ausharren gegen Unterdrückung nichts ist, was der Islam uns lehrt.

So lehrte uns der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben: „Wenn ihr etwas Falsches seht, dann ändert es mit eurer Hand. Könnt ihr das nicht, dann sprecht dagegen. Und wenn euch das nicht möglich ist, sollt ihr es zumindest in eurem Herzen verabscheuen. Und das ist der schwächste Grad an Glauben (Iman).“ (überliefert bei Muslim)

Missbraucht jemand euren Körper und eure Seele, dann misshandelt er ein Haus, das Allah gehört. Sie verletzen das von Allah anvertraute Gut. Unsere Augen, Körper und Seelen – sie alle kommen von Allah. Wir müssen uns um uns selbst sorgen und Kontrolle zurückerlangen. Das Gleiche gilt für unsere Kinder. Werden sie verletzt, müssen die Täter gestoppt werden. In einer Familie mit Missbrauch aufzuwachsen ist schlimmer für sie als eine Scheidung der Eltern.

Eine Frage, auf die ich bei meiner Arbeit mit Opfern häuslicher Gewalt häufig stoße, lautet: „Aber wie soll ich für meine Kinder sorgen?“ Das ist zwar eine berechtigte Angst, aber es ist wichtig, im Qur’an nachzulesen, was Allah – derjenige, der die Kontrolle über alles hat – über die Frage der Versorgung sagt: „Und wer Allah fürchtet, dem schafft Er einen Ausweg und gewährt ihm Versorgung, von wo er nicht damit rechnet. Und wer sich auf Allah verlässt, dem ist Er seine Genüge. Allah wird gewiss (die Durchführung) seine(r) Angelegenheit erreichen. Allah legt ja für alles ein Maß fest.“ (At-Talaq, Sure 65, 2-3)

Allah versichert uns, dass Er, wenn wir Seiner bewusst sind und Ihm vertrauen, einen Weg für uns aus Quellen schaffen wird, die jenseits unserer Erwartungen liegen. Das ist Tawakkul. Wir können Geduld ohne Vertrauen haben. Der Prophet Musa, Friede sei mit ihm, wusste nicht, dass Allah das Rote Meer für ihn teilen würde, aber vertraute darauf, dass unser Herr ihn nicht verlassen wird. Der Prophet Junus, Friede sei mit ihm, war gefangen im Bauch des Wals inmitten des Meeres. Und doch rief er Allah an, Der ihm einen Ausweg aus dieser schwierigen Lage wies. Der Prophet Ja’qub, Friede sei mit ihm, trauerte jahrzehntelang über den Verlust seines Sohnes. Trotzdem hörte er niemals auf, Allah anzurufen, Der ihn mit seinem Sohn wiedervereinte.

Wie schwierig, unerhört oder schwierig eine Situation sein mag, nur Allah kann einen Ausweg zeigen. Aber die Pflicht liegt beim Menschen, einen ersten Schritt zu gehen und Ihm das Ergebnis anzuvertrauen. Dieser kann darin bestehen, eine Definition von Sabr aufzugeben, die Missbrauch rechtfertigt, und eine mehr handlungsorientiertere Haltung anzunehmen. „Und Er ist mit euch, wo immer ihr auch seid.“ (Al-Hadid, Sure 57, 4) (Amaliah.com)

Shanzay Sethi hat einen Abschluss in Kriminalistik von der Universität Toronto. Gegenwärtig arbeitet sie im Bereich der häuslichen Gewalt.