Der Kreislauf des Lebens

Foto: Ömer Sefa

(iz). Ich mache ein paar Schritte. Meine Augenlider sind schwer und das Blinzeln gelingt mir nur langsam. Ich schließe die Augen und hole tief Luft. Atme tief ein und wieder aus. Ich bleibe stehen. Die Zeit steht still und doch tickt die Uhr weiter. Tick tack, tick tack …
Unsere schnelllebige Gesellschaft
Ich richte mein Augenmerk auf unsere schnelllebige Gesellschaft. Die Zeit rast und wir nehmen es mit einem Augenblinzeln wahr. Wenn überhaupt. Am Ende eines Jahres lassen wir die ganzen vergangenen Monate noch ein mal Revue passieren und stellen fest, dass wieder mal ein Jahr unseres Lebens wie im Nu verflogen ist. In diese schnelllebige Gesellschaft schließe ich mich auch mit ein. Meine Zeit rast und ich merke es nicht einmal. Doch dann plötzlich passiert etwas, was uns wachrüttelt.
Der Tod
Sei es der Tod eines Freundes, des Vaters, der Mutter oder wie bei mir: meiner Schwester.
Man meint, sich darauf vorbereiten zu können, weil es oft absehbar ist. Dennoch lerne auch ich mich gerade in einer Grenzsituation kennen. Und es trifft einen wie der Schlag. Warum schreibe ich diesen Beitrag? Warum erzähle ich Euch das? Möchte ich von Euch Nachrichten erhalten, in denen Ihr mir Euer Beileid ausdrückt? Nein. Darum geht es hier nicht.
Die Gedanken sind ein Teufelskreis
Der letzte Gedanke bevor ich schlafen gehe und wenn ich wieder aufwache, ist meine Schwester. Wenn ich einen Bissen leckeren Essens zu mir nehme, weiß ich, dass sie es nun nicht mehr kann. Wenn ich lache, weiß ich, dass sie es nicht mehr kann, obwohl sie zu Lebzeiten noch viel mehr gelacht hat als ich. Mein Körper fühlt sich an wie eine Last, die vom LKW gezogen wird, als sei er mit Drogen vollgepumpt und als hätte er unzählige durchzechte Nächte hintereinander durchgemacht, ohne sich auch nur eine Minute auszuruhen. Verprügelt vom Schock, der sich in jede Faser meines Körpers frisst und die Lebenskraft aus jeder Zelle saugt. Wenn ich mit ihren Kindern etwas unternehme, sie besuche, weiß ich, dass sie sie im Diesseits nie wieder in ihren Armen halten kann und ihre Tränen nicht wegwischen kann. An ihren Geburtstagen, wenn sie ihren Abschluss feiern werden oder ihre Hochzeit, wird sie nicht dabei sein können, sie anlächeln und sich für sie freuen können.
Das einzige, was ich tun kann, ist einen Strauß Blumen zu kaufen und mit ihren Kindern zu ihrem Grab zu gehen; ihnen sagen, dass sie sie lieb hat, unabhängig davon, wo sie jetzt gerade ist, wie es ihr geht und was sie gerade macht.
Von Allah kommen wir und zu ihm kehren wir zurück!
Der Kreislauf des Lebens
Die Geburt können wir mittlerweile im Fernsehen mitverfolgen. Wir wissen, wie sie abläuft, was danach passiert. Es sind unsere persönlichen Erfahrungen. Wir können sie live miterleben, haben sie unzählige Male bei uns nahestehenden Menschen mitbekommen. Obwohl die Geburt so etwas Schönes ist, hat eine werdende Mutter dennoch Angst vor diesen unerträglichen Schmerzen. Wenn sie aber ihr Kind im Arm hält, überwältigt sie dieses Glücksgefühl und sie vergisst einen großen Teil davon.
Der Tod ist ein weiteres Stadium in unserem Leben. Einen Teil davon – und zwar nur den Anfang – kriegen wir mit, und dann ist Schluss. Erst, wenn wir selbst einmal eines Tages diesen Prozess durchlaufen, werden wir, so Gott will, erfahren, was mit uns danach passiert. Deshalb entsteht diese Angst der Ungewissheit. Und daraus folgt die Trauer. Unser Gehirn versteht nicht, weil es noch nie wahrnehmen konnte, dass nach dem Tod einem Menschen noch etwas weitaus Schöneres widerfahren kann, als bei der Geburt.
Aber das wissen die meisten von Euch mit Sicherheit schon. Warum erzähle ich Euch das?
Ganz einfach deshalb, weil der Tod genauso zum Leben gehört, wie die Geburt. So, wie wir uns freuen können, die Babys mit Geschenken zu überhäufen, sollten wir auch mit Hinterbliebenen trauern können. Sie nicht von uns schieben, wenn sie auch tagelang mies gelaunt sind und plötzlich anfangen zu weinen, sie nicht als schwach abstempeln, wenn sie ein Jahr, vielleicht auch zwei Jahre, oder auch länger, immer noch rückfällig werden, traurig sind, weil sie die geliebte Person nicht mehr bei sich haben.
Nimm die Trauer an
Auch, wenn Du selbst solche Erfahrungen noch nicht machen musstest und nicht nachempfinden kannst, wie sich der Schmerz anfühlt, so höre dieser Person einfach zu. Sätze wie „Du musst stark sein“, oder „das wird schon“ helfen in den meisten Fällen nicht weiter. Sie erzeugen nur weiteren Frust und können zur Unterdrückung der Trauer führen, die sich dann vielleicht Jahre später in einer anderen Form zeigt.
Unsere Gesellschaft will, dass wir stark sind, dass wir funktionieren, stets ein Lächeln im Gesicht haben, doch gehört das Traurigsein genauso wie das Lächeln dazu. Zur eigenen Trauer zu stehen, ist in meinen Augen Stärke. Ich verdränge sie nicht. Ich lasse sie zu, lasse sie über mich ergehen, ganz egal, wie die Menschen um mich herum reagieren.
Mit einem Tag Sonderurlaub ist es nicht getan und nach zwei Wochen, einem Monat, oder auch später, hat der Schmerz gerade erst begonnen. Denn erst dann realisiert man, dass man die Person im Diesseits nie wieder sehen oder hören wird, geschweige denn in den Arm nehmen wird. Deshalb scheue Dich nicht davor, zu Deinen Gefühlen zu stehen, wenn es Dir gerade so geht, wie es mir geht. Auch lebensfrohe Menschen, die stets ein Lächeln im Gesicht haben, dürfen das Lächeln für eine Zeit aus ihrem Gesicht verbannen.