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Das Unbehagen. Über den Nahostkonflikt und seine zivilisatorische Bewältigung

Freilassung Nahostkonflikt schrecken
Foto: Yehuda Bergsteig, Shutterstock

Zum Jahrestag des 7. Oktobers: ein Essay von IZ-Herausgeber Abu Bakr Rieger über die Möglichkeit einer zivilisatorischen Bewältigung des Nahostkonflikts. 

(iz). „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930) gehört zu den einflussreichsten Schriften vom Sigmund Freud, dem Arzte und Begründer der Psychoanalyse. Er argumentiert, dass Kultur und Zivilisation notwendig sind, um das Zusammenleben von Menschen zu ermöglichen. Aus seiner Sicht bestimmen natürliche Triebe den Menschen, die von der Kultur unterdrückt werden müssen, um ein friedliches und geordnetes Miteinander zu gewährleisten.

Nahostkonflikt: Gibt es einen zivilisatorischen Umgang?

Die aktuelle Lage – angesichts der Kriege im Nahen Osten und in Osteuropa haben beide das Potenzial, sich zu globalen Konflikten zu entwickeln, schlimmstenfalls mit dem Einsatz von Atomwaffen – erinnert an eine der Schicksalsfragen, die Freud sich in diesem Kontext stellte. Sie besteht darin, ob es den Menschen in ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden.

Der Gründer der Psychoanalyse schrieb: „Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, dass sie es mit deren Hilfe jetzt leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung.“

Foto: Ferdinand Schmutzer | Lizenz: gemeinfrei

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Freud untersuchte die Rolle der Religion in der Kultur. Er argumentiert, dass sie oft als Antwort auf das Unbehagen in der Kultur fungiert, indem sie den Menschen Trost bietet und Erklärungen für sein Leiden liefert. Er sah in religiösen Gefühlen jedoch eher eine Illusion, die dazu dient, die unbewältigte Angst und das Unbehagen des Einzelnen zu lindern.

Unbestritten ist bis heute ihre Bedeutung für die Entwicklung unserer ethischen Grundsätze. Im 21. Jahrhundert sehen allerdings viele Menschen in der Ausübung von Religion keinen Beitrag zum Frieden. Die Beispiele der – modernen – Verbindung von religiöser Praxis und politischer Ideologie, mit dem Ziel, gesellschaftliche Macht oder Dominanz in einem Staat auszuüben, nährt diese Sorge. Den Gläubigen bleibt es aufgetragen, gerade jetzt Ihren Beitrag zur Völkerverständigung, zum Frieden und zur Stärkung der Zivilgesellschaft herauszustreichen.

Ein Tag des Schreckens

Fest steht, der 7. Oktober 2023 war ein Tag des Schreckens, ein Gewaltausbruch sowie ein Massaker an unschuldigen Zivilisten in Israel. Das Schicksal der unbeteiligten Geiseln, die in den Gazastreifen verschleppt wurden, bleibt eine andauernde menschliche Katastrophe.

Die Taten wurden ausgeführt von Terroristen, die sich ausdrücklich auf ihre Interpretation des islamischen Rechts berufen. Sie können keine Vorbilder sein. Diese Ereignisse wirken bis heute im Bewusstsein und im kollektiven Gedächtnis fort. Es gehört zur Tragik der Konflikte im Nahen Osten, dass allein schon die Aufarbeitung eines Tages eine Generationenaufgabe darstellt.

Foto: council.gov.ru, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY 4.0

Im Rückblick war es im Oktober letzten Jahres geboten, zunächst schlichte Anteilnahme zu zeigen und unsere Empörung über diese Taten auszudrücken. Unter dem Eindruck des menschlichen Leids galt es, einen Moment innezuhalten, statt allzu schnell in die historische Einordnung und politische Analyse überzugehen.

Wenn es aber an solchen Tagen überhaupt so etwas wie eine politische Botschaft geben konnte, dann eben die Klarstellung, dass es keinen Zweck geben kann, der das Töten und Vergewaltigen von Zivilisten rechtfertigt – insbesondere, wenn man die islamischen Lehre ernst nimmt und nicht politischen Zielen unterwirft. 

Die Schockstarre vieler Muslime an diesem Tag erklärt sich möglicherweise aus den dunklen Vorahnungen über die zu erwartende Reaktion der israelischen Regierung auf diesen terroristischen Angriff. Viele sind seit Jahrzehnten mit dem Konflikt vertraut, kennen die erbarmungslosen Gesetze der Eskalation in der Region und sind in oftmals auch direkt familiär betroffen.

In Deutschland leben Familien palästinensischer Abstammung, die den Tod von Dutzenden unschuldigen Angehörigen betrauern. Nicht nur sie ahnten bereits im Oktober, was wir heute mit trauriger Gewissheit bezeugen: Die Zivilbevölkerung in Gaza musste einen unvorstellbaren Preis bezahlen. Es starben Zehntausende, darunter viele Frauen und Kinder. Die aktuellen Zustände in der Region begründen den verbreiteten Argwohn, dass es letztlich um die endgültige Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen geht.

Gewalt journalisten

Foto: Marwan Hamouu, Shutterstock

Es folgte die Schlacht der Bilder

Im Internet tobt seit Monaten die Schlacht der Bilder, denen Konsumenten aus aller Welt ausgesetzt sind. Die psychologischen Folgen dieser Tortur sind ungewiss und gefährden den gesellschaftlichen Frieden. In den 1970er Jahren hat die amerikanische Kulturkritikerin Susan Sonntag ihre Essays über die Fotografie veröffentlicht; eine Technik, deren politische Dimension sie schon weit vor der Bilderflut heutiger Tage begriff.

Sie schreibt: „Die fotografisch vermittelte Erkenntnis der Welt ist dadurch begrenzt, daß sie, obzwar sie das Gewissen anzustacheln vermag, letztlich doch nie ethisch oder politisch Erkenntnis sein kann.“ Die Absender der Bilder, so Sonntag weiter, lassen die Welt verfügbarer scheinen, als sie tatsächlich ist. Sinn und Bedeutung ergeben sich erst, wenn wir die Abbildungen von Leid und Tod nicht einfach verdrängen, sondern in ein sinnvolles Narrativ einfügen.

Muslime und die „Staatsräson“

Über viele Jahre waren in der Bundesrepublik die Verbrechen gegen die Juden, der Holocaust sowie die Etablierung eines jüdischen Staates im Nahen Osten in einer tragischen Kausalkette miteinander verwoben. Das Bekenntnis, wonach der Schutz des jüdischen Lebens in Deutschland, aber auch in Israel, eine Staatsaufgabe ist, ergibt sich aus dieser historischen Verantwortung. Es gibt keinen Grund, warum sich deutsche Muslime diesem gesellschaftlichen Konsens entziehen sollten.

Auf der anderen Seite schadet es der Debatte über die ethischen Konsequenzen des 7. Oktobers nicht, wenn insbesondere Muslime betonen, dass eine weitere Lehre der deutschen Geschichte darin besteht, generell nicht zu schweigen, wenn sich ein Genozid in der Welt ereignet. Und die Delegitimierung der Institutionen des internationalen Völkerrechts stärkt sicher nicht die Achtung der Menschenrechte, die sich aus den historischen Erfahrungen Europas ergab.

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Foto: A-One Rawan, Shutterstock

Die Narrative der Menschen zur Kenntnis nehmen

Zu einer gerechten Einordnung der Konflikte des Nahen Osten gehöret, die Narrative beider Konfliktparteien – also auch die Geschichte der Palästinenser – zur Kenntnis zu nehmen. Hierzu bietet zum Beispiel eine aktuelle Veröffentlichung von Michael Lüders („Krieg ohne Ende“) die Gelegenheit, der ausdrücklich die palästinensische Sicht in den Diskurs einführt. Jenseits von Gut und Böse erzählt der Autor eine Geschichte des Scheiterns der Zweistaatenlösung sowie die schleichende Radikalisierung der beteiligten politischen Akteure auf beiden Seiten.

Man wird durch die Lektüre eines einzelnen Buches kein endgültiges Urteil fällen können, aber zumindest seinen Horizont erweitern. Vielsagend zitiert der Nahostexperte auf der ersten Seite seines Textes den französischen Schriftsteller André Gide: „Glaube denen, die die Wahrheit suchen und zweifle an denen, die sie gefunden haben“. Der Leitspruch passt zur Situation in diesem endlosen Krieg. Denn angesichts der Abgründe, die sich bis heute offenbaren, muss man ideologisch einigermaßen verblendet sein, um die ganze Schuld für die Eskalation nur allein bei einer Seite zu finden.

Gibt es Hoffnung im Nahostkonflikt?

Angesichts der menschlichen Tragödie in und außerhalb von Israel und Palästina gehört zur Hoffnung dieser Tage, dass eine zivile, differenzierende Debatte über dieses Thema ohne Hass und Hetze möglich bleibt.

Unsere Politik, die wir letztendlich als BürgerInnen des Landes am Wahltag beurteilen, muss sich daran messen lassen, ob sie wirklich die Voraussetzungen fördert, dass Israelis und Palästinenser endlich einen würdevollen Ausgleich ihrer legitimen Interessen finden. Dabei muss ein Minimalkonsens darin bestehen, dass weder der Widerstand gegen eine Besatzung noch die Verteidigung eines Landes zu Kriegsverbrechen berechtigen.