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Der NSU – Rückblick auf ein Urteil

Collage: Jan Hrdonka, IZ Medien

MÜNCHEN (GFP.com). Begleitet von massiver Kritik ist am 11. Juli der Prozess um die Mordserie der Terrororganisation Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) in den Jahren von 2000 bis 2007 zu Ende gegangen. Der NSU hatte neun Menschen mit nichtdeutscher Abstammung ermordet, um in migrantisch geprägten Communities Furcht und Schrecken zu verbreiten; zudem erschossen NSU-Täter eine Polizistin.
In den Urteilen ist einer der maßgeblichen Unterstützer des NSU zu gerade einmal zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden; das Strafmaß liegt unter demjenigen, das im Januar ein junger Mann erhielt, weil er einen Polizisten mit dem Wurf einer kaputten Bierflasche leicht verletzt hatte. Auch die Ermittlungen irritieren; Beobachter gehen davon aus, dass dem NSU mehr als nur drei Personen angehörten und womöglich sogar NSU-Mörder noch in Freiheit sind. Nebulös ist bis heute zudem die Rolle der deutschen Geheimdienste. Amnesty International warnt, der institutionelle Rassismus, der die Ermittler fehlgeleitet habe, sei bis heute nicht aufgearbeitet worden.
Furcht und Schrecken
Opfer waren neun Menschen, die die Täter wegen ihrer nichtdeutschen Abstammung erschossen hatten – es ging dem NSU darum, in migrantisch geprägten Communities Furcht und Schrecken zu verbreiten –, sowie eine Polizistin, von der bis heute nicht geklärt ist, weshalb sie erschossen wurde. Das Münchner Oberlandesgericht hat nun die 43-jährige Beate Zschäpe wegen Mittäterschaft an den Morden zu lebenslanger Haft verurteilt und gleichzeitig eine besondere Schwere der Schuld festgestellt; damit ist eine vorzeitige Haftentlassung praktisch ausgeschlossen.
Parallel wurden im Zusammenhang mit den Morden vier weitere Personen wegen ihrer Unterstützung für den NSU verurteilt. Dabei hat die relativ geringe Höhe ihrer Haftstrafen für Aufsehen gesorgt.
„Stirb, Jude, stirb“
Das gilt insbesondere für das Urteil gegen den 38-jährigen bekennenden Neonazi André Eminger. Die Ermittler hatten ihn als einen der engsten Unterstützer des NSU eingestuft. André stand gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin Susann Eminger in stetigem engem Kontakt zu den drei Kernmitgliedern der Terrororganisation (Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe), nachdem diese untergetaucht waren; er hat den NSU nach Überzeugung der Ermittler unter anderem mit dem Anmieten von Fahrzeugen und einer Wohnung unterstützt und Zschäpe geholfen, als sie nach dem Tod von Böhnhardt und Mundlos am 4. November 2011 floh. Laut Zschäpe hat er auch von den Banküberfällen des Kern-NSU gewusst. Eminger hat im Prozess konsequent jede Aussage verweigert, parallel an Pegida-Demonstrationen teilgenommen und Neonaziveranstaltungen wie das Musikfestival „Rock gegen Überfremdung“ im Juli 2017 im thüringischen Themar besucht.
Der Mann, der sich mehrere Hakenkreuze und die Wörter „Die Jew Die“ („Stirb, Jude, stirb“) auf den Körper hat tätowieren lassen, wurde zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt – weniger als der ehemalige NSU-Unterstützer Carsten S., der sich schon vor Jahren von der Szene abgewandt und nach Kräften zur Aufklärung der Morde beigetragen hatte. S. muss für drei Jahre in Haft.
Schwerer als die jahrelange Unterstützung einer NS-Terrororganisation wiegt es offenbar, wenn man eine kaputte Bierflasche auf Polizisten wirft. Für diese Tat, durch die ein Polizist am Rande des G20-Gipfels im Hamburg leicht an der Hand verletzt wurde, erhielt ein 28-Jähriger im Januar drei Jahre Haft – ein halbes Jahr mehr als der Unterstützer der NSU-Mörder, André Eminger.
„Große Zweifel“
Nicht nur die Urteile, auch die Ermittlungen haben schon lange immer wieder scharfe Kritik ausgelöst. So äußert der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Clemens Binninger, ein Polizist mit 23 Jahren Berufserfahrung, der intensiv in den NSU-Untersuchungsausschüssen des Deutschen Bundestags mitgearbeitet hat, „große Zweifel“ daran, „dass der NSU nur aus drei Personen bestand“. Auf diese „Hypothese” hätten sich die Ermittler „sehr früh“ festgelegt, obwohl es klare „Hinweise und Indizien auf weitere Tatbeteiligte“ gebe. Mehrere Mörder liefen möglicherweise bis heute frei herum. Zudem hätten die Behörden DNA-Proben von lediglich einem Fünftel des NSU-Umfelds genommen, das mindestens 100 Personen umfasse; angesichts der Tatsache, dass an 27 Tatorten „keine einzige DNA-Spur von Mundlos oder Böhnhardt“, dafür aber „anonyme DNA“ gefunden worden sei, wiege das schwer.
Für Erstaunen sorgen nach wie vor die zahllosen merkwürdigen Entscheidungen von Ermittlern, die das Aufdecken des NSU vor dem Jahr 2011 verhinderten. Ein Beispiel bietet der Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße vom 9. Juni 2004. Im Verlauf der Ermittlungen wies Scotland Yard die Kölner Polizei darauf hin, dass das Anschlagsmuster wie auch die Bauweise der Bombe im Detail dem Nagelbombenanschlag in der Brick Lane im Osten Londons vom 24. April 1999 glichen. Letzterer war von dem britischen Neonazi David Copeland begangen worden – ebenfalls mit dem Ziel, in migrantisch geprägten Communities Angst zu verbreiten. Während es Scotland Yard damals gelungen war, den Anschlag innerhalb weniger Tage aufzuklären, ging die Kölner Polizei der Spur in die Neonaziszene nicht nach.
“Verdunkelt, verschleiert, vernichtet”
Auch nicht ansatzweise aufgeklärt ist nach wie vor die Rolle, die die deutschen Geheimdienste in der NSU-Mordserie spielten. Tatsächlich waren Dutzende V-Männer der diversen Geheimdienste des Bundes und der Länder in Neonaziorganisationen aktiv, denen die NSU-Kernmitglieder und ihr Netzwerk entstammten. Als gesichert kann gelten, dass zumindest einige von ihnen über intime Kenntnisse über den NSU verfügten; zudem zerstörten mehrere Geheimdienste systematisch Unterlagen, in denen Informationen über den NSU oder über sein Umfeld enthalten waren. „Die NSU-Morde hätten verhindert werden können, wenn der Verfassungsschutz das nicht verhindert hätte“, hieß es am 11. Juli in einem Kommentar: „Der Verfassungsschutz hat es ermöglicht, dass gesuchte und flüchtige Neonazis im Untergrund bleiben konnten. Er hat die Neonazi-Szene vor Ermittlungen der Polizei gewarnt. Er hat … verdunkelt, verschleiert und die Akten vernichtet.“
Und nach wie vor deutet vieles darauf hin, dass in den NSU-Mord vom 6. April 2006 in Kassel ein Geheimdienstler selbst verwickelt war. Ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes Hessen, Andreas Temme, hielt sich exakt zum Tatzeitpunkt oder Sekunden davor in dem Internetcafé auf, dessen Besitzer an jenem Tag an der Theke erschossen wurde; außerdem stand er mit Neonazis aus dem Milieu des NSU, angeblich dienstlich, in Kontakt. Dass der Fall noch aufgeklärt werden kann, gilt als unwahrscheinlich: Der hessische Verfassungsschutz hat interne Unterlagen, die womöglich entscheidende Erkenntnisse bringen könnten, mit einer Sperrfrist von 120 Jahren belegt.
Institutioneller Rassismus
Zu all den Unklarheiten und Widersprüchen kommen schwere Versäumnisse der Behörden sowohl vor als auch nach dem 4. November 2011 hinzu. Polizei und Geheimdienste, aber auch Politiker hatten die Täter vor jenem Tag stets in migrantisch geprägten Milieus verortet, in vielen Fällen sogar die Angehörigen der Opfer verdächtigt und sie akribischen Ermittlungen unterzogen, anstatt ihnen Unterstützung zukommen zu lassen; während deutsche Leitmedien von „Döner-Morden“ sprachen, bildete die Polizei eine „SoKo Bosporus“. Die Ermittlungsbehörden hätten damit nicht nur „elf Jahre lang die rassistischen Tatmotive verkannt“, sondern auch noch „durch eine teilweise offen rassistische Vorgehensweise“ ihrerseits „eine rasche und umfassende Aufklärung des NSU-Komplexes verhindert“, heißt es in einer Stellungnahme, die die Menschenrechtsorganisation Amnesty International gestern publizierte.
In der Tat biete das Vorgehen der Ermittler „Anzeichen für ein strukturelles Versagen der Behörden und für institutionellen Rassismus“. Nach dem gestern zu Ende gegangenen Münchner NSU-Prozess bleibe nach wie vor „unklar, wie es zu dem erschreckenden Versagen der Behörden bei den Ermittlungen kommen konnte und inwieweit institutioneller Rassismus hierfür verantwortlich war“. Amnesty fordert nun „eine umfassende und unabhängige Untersuchung des Behördenversagens“. Hinweise darauf, dass Berlin eine derartige Untersuchung in die Wege leiten könnte, liegen nicht vor.