NSU: Aufklärung ist längst nicht am Ende

Drei Jahre nach dem Auffliegen des NSU sind viele drängende Fragen unbeantwortet – und es sind neue hinzugekommen. Die Parlamentsaufklärer von damals treibt ein Unbehagen um, dass sich alte Fehler wiederholen könnten. Wie geht es weiter?

Berlin (dpa). – Es war Anfang April, als der Mann mit dem Decknamen „Corelli“ tot in seiner Wohnung gefunden wurde. Der 39-Jährige starb überraschend an einem diabetischen Schock, heißt es offiziell. Doch die Todesumstände werfen Fragen auf. Der Mann hatte dem Verfassungsschutz jahrelang Informationen aus der rechten Szene geliefert. Im Fall der rechten Terrorzelle NSU spielte er eine undurchsichtige Rolle. Im Frühjahr tauchte dann eine CD auf, die vermuten lässt, dass er doch mehr von der Terrorbande gewusst haben könnte als angenommen – und zwar Jahre, bevor das Trio aufflog. Und gerade als ihn Verfassungsschützer noch mal zu dem Fall befragen wollten, lag er tot zu Hause. Es ist ein neues Rätsel neben den vielen alten.

Am 4. November 2011 hatte die Polizei in einem ausgebrannten Wohnmobil im thüringischen Eisenach Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt tot gefunden. Ihre Komplizin Beate Zschäpe stellte sich wenig später der Polizei. Es folgte die Aufdeckung einer beispiellosen Serie an Verbrechen, Morden und Abscheulichkeiten – und die Erkenntnis, dass die Sicherheitsbehörden in dem Fall kolossal versagten. In den vergangenen drei Jahren bemühten sich Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern darum aufzuklären, wie es zu dem Desaster kommen konnte. Das Gremium im Bundestag hat seine Arbeit zwar beendet und einen Abschlussbericht vorgelegt. Doch für die damaligen Obleute aus dem Ausschuss ist die Sache längst nicht abgeschlossen. „Auch nach drei Jahren können wir nicht sagen, dass der Fall komplett ausgeleuchtet ist und es Antworten auf die drängendsten Fragen gibt“, sagt der frühere Unions-Obmann Clemens Binninger (CDU), der heute das Geheimdienst-Kontrollgremium im Bundestag leitet. Auch die damalige Linke-Obfrau Petra Pau meint: „Es gibt viel mehr offene Fragen als feststehende Antworten.“

Bis heute ist nicht wirklich klar, wie die Terrorbande ihre Opfer aussuchte oder was genau am 4. November 2011 passierte. Hinzu kommt der Hauch an Ungewissheit, ob es vielleicht doch nicht nur ein Trio war – und ob es doch einen V-Mann gab, der vom „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) und dessen Taten wusste. Gerade die letzte Frage treibt die Parlamentsaufklärer von damals um, seitdem „Corelli“ tot ist. Noch dazu, weil das Agieren der Sicherheitsbehörden wieder einmal in eigenartigem Licht erscheint.

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„Corelli“ hatte seinem V-Mann-Führer beim Bundesamt für Verfassungsschutz schon 2005 eine ominöse CD übergeben. Darauf fand sich in einem Wust von Dateien auch das Kürzel „NSU/NSDAP“. Damals hatten die Sicherheitsbehörden – wie sie beteuern – keine Ahnung, was sich hinter den Buchstaben verbarg. Die CD landete im Archiv. Und sie kam erst in diesem Jahr wieder zum Vorschein – trotz aller Aufklärungsarbeit seit Ende 2011. „Dafür habe ich kein Verständnis“, sagt die frühere SPD-Obfrau aus dem NSU-Ausschuss im Bundestag, Eva Högl. Alte Fehler würden zum Teil wieder gemacht. Auch ihre Obleute-Kollegen sind verärgert. Sie haben im Innenausschuss bei Polizei und Geheimdiensten wegen „Corelli“ nachgehakt. Aber die zeigten wenig Initiative, den neuen Fragen auf den Grund zu gehen, kritisieren die Abgeordneten.

„Nach den bisherigen Auftritten der Sicherheitsbehörden ist nicht erkennbar, dass man mit großer Leidenschaft jedem Ansatz nachgeht“, sagt Binninger. Pau spricht von „erschreckendem Desinteresse“ und klagt: „Die Behörden in Bund und Ländern mauern weiter.“ Auch die Grünen-Politikerin Irene Mihalic meint, die Behörden träten bei der Aufklärung auf die Bremse. „Das erschüttert mich schon.“

Die vier Abgeordneten setzen sich nun regelmäßig zusammen, um über den Fall NSU zu beraten. Ein toxikologisches Gutachten zum Tod von „Corelli“ steht aus. Außerdem hat das Geheimdienst-Kontrollgremium einen Sonderermittler eingesetzt, der Nachforschungen zu dem V-Mann anstellen soll. Möglichst bis zum Frühjahr soll der Ermittler seine Arbeit abgeschlossen haben. Dann wollen die Parlamentarier überlegen, ob im Bundestag ein weiterer U-Ausschuss nötig ist. Auch in Sachsen und Thüringen ist im Gespräch, erneut solche Gremien einzusetzen.

Auch die Angehörigen der Opfer erhoffen sich Antworten auf nagende Fragen. Yvonne Boulgarides, deren Mann Theodoros am 15. Juni 2005 in München durch drei Kopfschüsse starb, sagt: „Ich glaube, dass wir erst die Spitze des Eisbergs kennen.“