„Die Debatte“ – Reflexionen über Traditionen des Asylrechts

(iz). Bereits Plutarch, ein beeindruckender Gelehrter und Philosoph des antiken Griechenland, schilderte in seinen „Vergleichenden Lebensbeschreibungen“ die Sitte des Asyls. Demnach waren asylon heilige Stätten, die von der Gesellschaft respektiert wurden und in denen Flüchtlinge Schutz vor Verfolgung und Bedrohung fanden. Es handelte sich hierbei um einen bedeutsamen Brauch, denn der Flüchtling stand durch das Obdach der heiligen Stätte, unter dem Schutz der Götter.

Von Tuba Badem

Die griechische Antike und ihre edlen Bräuche gehören nun allerdings der Vergangenheit an. Denn waren es damals olympische Götter die für den Schutz der Flüchtlinge zuständig waren, so scheint im 21. Jahrhundert Europa allein mit solch einer Verantwortung überfordert zu sein.

Laut der Präambel des Grundgesetzes ist sich dagegen Deutschland „seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen […] in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ bei der Veröffentlichung desselben am 23. Mai 1949 bewusst gewesen. Richtet man hier den Fokus auf das ursprünglich schrankenlos geltende Asylgrundrecht aus Artikel 16, glaubt man dem angedeuteten Verantwortungsbewusstsein gern. Aber auch das Grundgesetz stellt ein variables Gebilde dar und so wurde das Asylgrundrecht beinahe exakt 44 Jahre später am 26. Mai 1993 mit Einschränkungen ergänzt, die es zum Asylkompromiss degradierten.

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Seitdem können Flüchtlinge, die über einen EU-Staat oder einen anderen sicheren Drittstaat einreisen, sich nicht auf das Asylrecht in Deutschland berufen. Da Deutschland aber nur von den genannten Staaten umgeben ist, hat der Flüchtling seit dem die Qual der Wahl; entweder fällt er frei vom Himmel auf deutschen Boden, oder er schafft es mit einem Boot auf die Insel Sylt.

Das Ziel der Neuregelung ist erfolgreich erfüllt worden, denn die Anerkennungsquote der Asylanträge lag auch 2013 unter 2 Prozent. Warum haben aber dennoch so viele Menschen in Deutschland Angst oder gar eine Abneigung vor der Aufnahme von Flüchtlingen? Warum liest man in Kommentaren erschreckend häufig den Satz „Wir können doch nicht ganz Afrika hier aufnehmen?“.

Schließlich sind die Statistiken mit der beinahe beschämend geringen Anerkennungsquote in so vielen Medien präsent und Menschrechtsorganisationen versuchen unermüdlich diesbezüglich aufzuklären. Vielleicht ist es einfach unkomplizierter und befriedigender der altbewährten „das Boot ist voll“ Metapher der Politik Glauben zu schenken, statt sich an seinem eigenen Verstand zu bedienen? Was einst Goethe im „West-östlichen Divan“ über den Osten schrieb, scheint gegenwärtig auch auf den Westen zuzutreffen: Glaube weit, eng der Gedanke.

Da sich nun Deutschland als „ein gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa“ versteht, scheint der alleinige Erfolg bezüglich der Abschottung nicht zu genügen und so werden Länder wie Griechenland auch von deutschen Politikern dazu gedrungen ihre Grenzkontrollen weiter zu verschärfen. Man könnte es die traurige Ironie des Schicksals nennen, dass in dem Griechenland, in dem einst einem Flüchtling Schutz gewährt und sogar ein Rechtsverfahren ermöglicht wurde, heute eben diesen der Zugang zum Festland mit solch einer Gewalt verweigert wird, sodass viele von ihnen an den Küsten den Tod finden.

In deutschen Medien bleiben solche Katastrophen weitgehend unbeachtet. Dem Anschein nach muss es sich um eine dreistellige Opferzahl handeln, damit so ein Unglück mehr mediale Beachtung findet und sich zumindest ein EU-Minister zu den bekannten Gesten der Betroffenheit herablässt. Zugegeben, diese Betroffenheitsbekundungen würden unter der Berücksichtigung des Drucks den auch der Friedensnobelpreisträger des Jahres 2012 auf Griechenland bezüglich der Abriegelung seiner Grenzen ausgeübt hat, nur als Scheinheiligkeit interpretiert werden. Dennoch wäre die Mühe um eine Klärung der etlichen Vorfälle der gegenwärtigen Gleichgültigkeit vorzuziehen. Oder ist womöglich eben diese Gleichgültigkeit der EU „nichts als das Übermaß einer Begierde ohne Grenzen“?

Wahrscheinlich ist es sogar politisch unkorrekt, der EU Passivität vorzuwerfen. Denn schließlich wurde sie nur wenige Tage nach dem Tod von 390 Menschen an der Küste von Lampedusa sehr aktiv und beschloss die Grenzkontrollen mithilfe des neuen Überwachungssystems Eurosur zu verschärfen.

Was aber ist nun die konkrete Bezeichnung für einen Vorfall, in dem so viele Menschen ihr Leben verlieren? Ist es eine Katastrophe? Ein Unglück? Ein Drama? Oder gar eine Tragödie? Entscheidet man sich für letzteres, schreibt man sich selbst die Position des Zuschauers zu. Schließlich wurden wir per Video- und Bildübertragungen Zeugen eines grandiosen Schauspiels, indem wir neben den zahlreichen Trauerbekundungen der EU-Staaten, die Stimme des italienischen Premierministers vernahmen, der die ertrunkenen Opfer zu italienischen Staatsbürgern erklärte, während den Überlebenden eine Geldstrafe und Abschiebung bevorstand. Was aber empfanden wir beim Zusehen? Rührte sich in uns Mitleid beim Anblick der verzweifelten Überlebenden? Erschraken wir beim Anblick der vielen Särge?

Lessing vertrat die Ansicht, die Zuschauer einer Tragödie durch Mitleid und Furcht moralisch erziehen zu können, denn er sah in dem mitleidenden Menschen, der dasselbe tragische Schicksal für sich selbst befürchtet, auch den moralischsten Menschen. Die Verantwortlichen der Tragödie von Lampedusa strebten sicherlich nicht die moralische Erziehung des Menschen an. Im Gegenteil, sie verletzten sogar durch ihre menschenverachtenden Eingriffe ein unantastbares Gut, die Würde des Menschen.

Unsere Würde hingegen, die der Zuschauenden, wird dank unserer Gleichmut von niemandem sonst als uns selbst verletzt. Auf unsere Furcht und unser Mitleid beim Beobachten solch eines Geschehens muss Engagement folgen, denn vernachlässigen wir diese, so versagen wir selbst an den Werten, die wir 1948 als die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ vorstellten und denen wir universelle Gültigkeit zuschrieben. Artikel 22 dieser hält fest: „Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen internationale Zusammenarbeit sowie unter Berücksichtigung der Organisation und der Mittel jedes Staates in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind.“

Auch wenn dieser hervorragender Artikel in der gegenwärtigen Asylpolitik der EU keine Rolle zu spielen scheint, so sollte er umso mehr jedem einzelnen Zuschauer dieser Tragödie vorgeführt werden, damit er zu Tatkraft bewegt wird. Denn vernachlässigt man dies, werden Schutzsuchende weiterhin an den europäischen Grenzen, „hinter Wüst‘ und Heere, den Streif erlogner Meere“ vorfinden.