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Die Debatte über den Islam ist endgültig festgefahren

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Auf Grundlage dieser ideologischen Voraussetzungen verspricht die Debatte wenig Konstruktives.

(iz). In den letzten Jahren ist die Debatte um „Islamismus“ festgefahren. Dominant ist dabei der Monolog in den jeweiligen Echokammern, es fehlt in Wirklichkeit an einem echtem Dialog. Viele Muslime haben sich heute aus dem Diskurs zurückgezogen oder in die Sicherheit des Schweigens begeben. Langeweile macht sich breit. Eine Tendenz, die niemand begrüßen kann, dem es um ein konstruktives Gespräch geht, das auch problematische Punkte nicht ausspart.

Grundsätzlich gibt es zur Zeit nur wenige Gesprächsansätze: Einige Islamkritiker*innen behaupten gerne, dass Islam immer schon eine Ideologie war und damit die ideologische Programmierung quasi vorgegeben ist. Die sozio-ökonomische Balance der ursprünglichen Gemeinschaft der Muslime spielt nach dieser Sicht, wenn sie überhaupt bekannt ist, kaum eine Rolle. Der Ansatz verkennt dabei den Einfluss der Moderne; eben der Ideologie, die auf die ganzheitliche Lebenspraxis seit der Kolonialzeit einwirkt. Die Praxis der islamischen Lehre, die keine Staatslehre ist, sondern einer Politisierung der Muslime von jeher entgegenwirkt, wird dabei negiert. Auf Grundlage dieser ideologischen Voraussetzungen verspricht die Debatte wenig Konstruktives.

Auch wenn der Begriff „Islamismus“ in einschlägigen Kreisen strittig ist, könnte eine andere Logik des Diskurses zumindest die Aussicht auf einen interessanten Austausch stiften. Hier wird die Religion nicht per se mit einer Ideologie gleichgesetzt, sondern (zu Recht) eine Tendenz zur Politisierung der Muslime in der Moderne problematisiert. Die Manifestation „islamischer“ Bewegungen, Staaten und Vereine hat nach dieser These die ursprüngliche Balance religiösen Lebens langsam aus den Angeln gehoben. Der neuartige Typus des „Extremisten“ oder „Terroristen“ entsteht parallel; Menschen, die entweder die Einschränkungen des islamischen Rechts in einer Art „Ausnahmerecht“ übergehen oder oft nur über rudimentäre Kenntnisse bezüglich ihrer Religion verfügen. 

Das Argument vieler Muslime wird sein, dass die Wortschöpfung „Islamismus“ ähnlich paradox ist wie die Konstruktion eines „islamischen“ Terrorismus. Es lohnt sich dennoch, an dieser differenzierteren Debatte teilzunehmen, auch wenn nicht jede angewandte Terminologie zunächst gefällt. Die Absicht zählt hier. Das Ziel, die Präsenz von Ideologen oder Terroristen endgültig zurückzudrängen, eint dabei alle gutwilligen GesprächsteilnehmerInnen. Ein Schlüssel ist hier, zu verstehen, dass eine umfangreiche Ausbildung in der islamischen Lehre und eine Bildung über die Taktiken der Ideologien der Moderne gleichermaßen zielführend sind. Je mehr junge Menschen erkennen, dass eine muslimisch-europäische Identität möglich ist, geschweige denn ein Widerspruch, desto besser.

In den letzten Jahren sind viele Initiativen entstanden, die dem Problem der Radikalisierung entgegentreten. Das zivilgesellschaftliche Engagement wird inzwischen von europäischen Staaten bis hin zur EU gefördert. Dabei spielen muslimische Partner eine wichtige Rolle, denn sie haben – zumindest in der Theorie – Zugang zu den gefährdeten Personenkreisen. In der Praxis gestaltet sich das schwieriger.

Das Problem liegt in der Adressierung einer neuen Generation, die die Zukunft der europäischen Gesellschaften mitbestimmen werden. Das Dilemma: Viele Jugendliche wollen nicht als „potentielle“ Gefährder der öffentlichen Sicherheit angesprochen werden, sondern erwarten vielmehr endlich die Anerkennung ihrer gleichberechtigten Bürgerschaft. Muslime, die radikalen Praktiken folgen, werden von den Kampagnen kaum erreicht.

Praktische Erfahrungen hat beispielsweise das europäische Projekt OPEN gesammelt. Das Vorhaben wird von der EU zu 90 Projekt gefördert, den Rest übernehmen die beteiligten NGOs selbst, die zudem ehrenamtlich engagierte Freiwillige mobilisieren. In der Untersuchung wird das Onlineverhalten junger Muslime problematisiert. Nach der Analyse Hunderter Kanäle in den sozialen Medien ist das Ergebnis zwiespältig.

Es gibt durchaus Einfluss radikaler Stimmen auf die Jugend, wenn auch, gerade in den als problematisch eingestuften Milieus des „Salafismus“ oder der „Muslimbruderschaft“ extreme Praktiken – zum Beispiel Gewaltbereitschaft – nur eine kleine Minderheit betreffen. Strittige Themen wie der aktuelle Nahostkonflikt bilden gleichzeitig immer wieder Sprachräume, die von Emotionen und Vorurteilen geprägt sind, die bis in die Mitte der Gemeinschaft wirken.

Die Wissenschaft betont, dass die Radikalisierung selten nur auf Onlinekanälen stattfindet. Meistens bewegen sich diese Muslime „offline“ in einem konkreten sozialen Umfeld. Sie sind kaum auf dem Arbeitsmarkt integriert, besuchen Moscheen oder sind auf sonstige Weise in ihrem Stadtviertel unterwegs. OPEN hat in dieser Hinsicht die sozio-ökonomische Lage von betroffenen Jugendlichen in europäischen Großstädten untersucht. Die religiöse Komponente in den diversen Geschichten der Radikalisierung kann dabei nie isoliert betrachtet werden.

Es gibt einige Moscheegemeinden, die durch radikale Prediger geprägt sind und in der Entwicklung des Extremismus eine Rolle spielen, aber die Mehrheit der Communities in Europa versuchen einen positiven Einfluss auf junge Menschen zu nehmen. Die häufige Idee, die Bedeutung von Moscheen und Verbänden in der Erziehung von Gläubigen zurückzudrängen, hat bedenkliche Nebenwirkungen. Es droht eine völlige Zersplitterung der Gemeinschaften in unzählige Kleingruppen und Sekten, eine Situation, von der radikale Prediger wiederum profitieren könnten. Dieser Effekt wird verstärkt, wenn einige Organisationen sich aus der öffentlichen Debatte verabschieden. Viele junge Muslime geraten erst in die Nähe extremer Bewegungen, weil – aus ihrer Sicht – nur dort strittige Themen offensiv besprochen werden. Politische Aktivist*innen versprechen ihnen dann eine Form der Anerkennung, sei es auch nur die Bestätigung ihrer Opferrolle. 

Die Verbände – geprägt von ihren Anfängen in den 1970er Jahren – stehen heute unter hohem Veränderungsdruck und es besteht einiger Reformbedarf. Sie müssen sich fragen lassen, ob sie Muslime, die in Europa geboren sind, erreichen oder gar zur Entwurzelung junger Menschen beitragen. Aber dennoch sind sie als Partner der Zivilgesellschaft kaum nicht zu ersetzen. Werden sie vorschnell mit der Markierung „Islamisten“ in einen Topf mit Verbrechern und Straftätern geworfen, drohen neue Formen der „Parallelgesellschaft“ und des inneren Rückzuges. Ein Zustand, der keine gute Voraussetzung für eine konstruktive Weiterentwicklung ihrer jahrzehntelangen Präsenz in Europa ist. 

Ein wichtiger Debattenbeitrag zu diesen Themen findet man im März in der NZZ. Der französische Islamwissenschaftler Olivier Roy beschreibt in einem Interview die Lage in Frankreich und wirft der Regierung vor, „keinen Plan zur Entwicklung der Banlieues“ zu haben. Tatsächlich haben die Moscheen in Europa de facto wenig Raum, ihre sozio-ökonomische Funktion einzunehmen.

Urbane Planung nimmt meist kaum Rücksicht auf die Bedürfnisse der neuen Bürger. Moscheeanlagen waren in der Tradition des Islam niemals nur sakrale Rückzugsorte, sondern Plätze des Austausches, des Handels, der Fürsorge und damit ganzheitliche, offene Begegnungsstätten. Ihr Status war nicht von dem Phänomen der Stiftungen zu trennen.

Wer die (angebliche) „Islamisierung“ Europas beklagt, sollte darüber nachdenken, warum es paradoxerweise kaum solche, unabhängige Einrichtungen gibt. Über Jahrhunderte war dies der Kern der islamischen Zivilisation. Man wird hier zugestehen, dass der politische Islam, der oft von der Idee der Kontrolle und Hierarchie geprägt ist, nicht ganz zufällig an dieser alten Organisationsform wenig Interesse zeigt. 

Roy endet in seinem seinen Beitrag, der zum Streit einlädt, mit einer provokanten Frage: „Ist der Säkularismus eine neue Ideologie des Staates?“. Es wäre wünschenswert, wenn Muslime und Nichtmuslime sich hier auf einer simplen Grundlage treffen: Niemand will irgendeine Form des politischen Extremismus in Europa – weder gegen den Islam gerichtet, noch aus dem Islam entstehend – fördern. Der Wissenschaftler fügt abschließend eine These hinzu, die im guten Sinne provoziert: „Das Problem des religiösen Radikalismus ist, dass es nicht genug Religion gibt. Radikalisierung entsteht durch die Marginalisierung des Religiösen.“