Berlin (KNA). Mehr als drei Jahre dauert der blutige Bürgerkrieg in Syrien bereits. Er forderte bislang mehr als 150.000 Tote; 6,5 Millionen Menschen sind auf der Flucht, 2,9 Millionen in den Nachbarländern. Doch die Gräuel werden in Europa weitgehend verdrängt – vielleicht aus einem Gefühl der Machtlosigkeit. Flüchtlingsorganisationen beklagen mangelnde Hilfsbereitschaft, nur wenige Staaten bieten Flüchtlingen Platz.
Das musste Maya Alkhechen (30) erfahren. Sie ist in Syrien geboren, kam als Kind mit ihren Eltern und Geschwistern nach Deutschland; da war sie sechs. Sie wuchs im Ruhrgebiet auf, ging in Essen zur Schule, machte Abitur. Sie spricht akzentfrei Deutsch, besser als Arabisch. Ihr Zuhause ist für sie Deutschland. Und dennoch ist Maya Alkhechen auf dem Papier nur „anerkannter Flüchtling“.
Immerhin: Deutschland gehört zu den wenigen Staaten, die Kontingente aufnehmen. Bund und Länder hatten ursprünglich 5.000 Plätze für Flüchtlinge aus Syrien vorgesehen; das wurde Ende 2013 auf 10.000 verdoppelt. Nach Einschätzung von Pro Asyl deckt das den Bedarf aber in keiner Weise ab. „Wir brauchen schnell eine neue Debatte über die Aufnahme“, fordert der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Strässer (SPD). Sonst „ist es irgendwann für die Menschen zu spät“.
Allein für das zweite Bundesprogramm mit 5.000 Plätzen liegen Pro Asyl mehr als 76.000 Anträge von in Deutschland lebenden Familienangehörigen vor. Sind diese selbst Flüchtlinge, müssen sie eine Verpflichtungserklärung abgegeben, dass sie die Kosten für Unterbringung und Lebensunterhalt ihrer Verwandten übernähmen; pro Person etwa 350 Euro.
Eigentlich wollte Alkhechen nach dem Abi Medizin studieren, vorher eine Ausbildung zur Krankenschwester machen, um die Wartesemester zu überbrücken. Weil aber der Asylantrag ihres Vaters abgelehnt wurde, war all das rechtlich nicht möglich. Schließlich gewährte man der Familie nur den Status der Duldung – was nach Definition des deutschen Aufenthaltsrechts „eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung“ bedeutet.
Weil sie in Deutschland vorerst perspektivlos war, ging Alkhechen mit 21 nach Damaskus, heiratete dort und bekam zwei Kinder. „Mein Mann verdiente gut, wir hatten Geld, Grundstück, ein Auto“, sagt Alkhechen. Dann brach der Bürgerkrieg aus, und sie mussten wieder flüchten. Doch „zurück nach Hause“, wie die junge Syrerin es formuliert, ging es so einfach nicht.
Hier in der Bundesrepublik leben derzeit mehr als 64.000 Menschen mit syrischer Staatsangehörigkeit. „Natürlich ist deshalb Deutschland auch das Ziel der meisten syrischen Flüchtlinge“, erklärt Pro Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt. Natürlich wollen Familien ihre Angehörigen aus dem Krisengebiet retten. „Aber die EU hat ihre Grenzen für die Schutzsuchenden systematisch verschlossen.“
Die Tücken einer Aufnahme bekam auch Alkhechen zu spüren: Ihr in Deutschland lebender Bruder stellte Anfang 2013 einen solchen Antrag für sie, als das Bundesinnenministerium das erste Kontingent ausgeschrieben hatte. Doch sie konnte keine der formalen Voraussetzungen erfüllen, da sie sich mit Mann und Kindern in Ägypten aufhielt. Wie rund 2,9 Millionen andere Syrer war die Familie in einen der Nachbarstaaten geflohen. Da seien ihnen nur zwei Möglichkeiten geblieben, erinnert sich die junge Frau: „entweder der illegale Weg im Flüchtlingsboot oder zurück nach Syrien in den sicheren Tod“.
Sie wählten den Seeweg, setzten ihr letztes Erspartes auf das Flüchtlingsboot und kamen über Italien und Österreich mit zehn Cent in der Tasche in Essen an. Dass Menschen in Krisen in die Arme von Schleppern getrieben werden, dass sie zu illegalen Mitteln gezwungen werden, genau das will Pro Asyl vermeiden – und fordert ungehinderten Zugang für Syrien-Flüchtlinge nach Europa, möglicherweise durch die Aufhebung der Visumpflicht. Der EU wirft Pro Asyl Totalversagen in der Syrien-Krise vor. Deutschland tue zwar etwas, aber nach wie vor viel zu wenig, so Burkhardt.
Während Maya Alkhechem mittlerweile als Flüchtling anerkannt ist, sind ihre Schwestern noch in Libyen, auf der Flucht vor dem Krieg. Auch sie sind in Deutschland groß geworden, gingen hier zur Schule, haben hier Abitur gemacht. Ob und wie sie je „nach Hause“ kommen, ist unklar.