Die Zahlen sind zu groß

Ausgabe 253

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(KNA). Statistisch sucht jeder 113. Mensch auf der Erde Asyl, ist Flüchtling oder binnenvertrieben. Das entspricht der gesamten Bevölkerung Frankreichs oder Großbritanniens. Auch 2015 sind es wieder mehr statt weniger geworden.
Es ist wie so oft bei Katastrophen: Die Zahlen sind zu groß, um sie zu begreifen, die Statistik zu dick, um sie wirklich durchzulesen. Wenn das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen UNHCR an diesem Montag seinen Jahresbericht 2015 veröffentlicht, dann ist – klar – „ein trauriges Rekordniveau“ zu verzeichnen.
Weltweit befinden sich nach UN-Angaben 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht, mehr als je zuvor. Zwölf Monate zuvor waren es noch 59,5 Millionen. Doch was bedeutet das?
Bei seinen Besuchen in Flüchtlingslagern wie Lesbos oder Lampedusa mahnt Papst Franziskus immer wieder, den Flüchtling, den Menschen in Not, nicht als eine Zahl oder Nummer wahrzunehmen, sondern das Gesicht, die Person, die Not des Einzelnen anzuschauen. 65,3 Millionen Gesichter also. 65,3 Millionen menschliche Geschichten. 65,3 Millionen mal Not, ganz individuell, ganz persönlich, ganz nah. Am nächsten. Rund die Hälfte aller Flüchtlinge sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.
Die zentrale Aufgabe des UNHCR, das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen, ist es, diesen Menschen vor Ort so gut wie möglich zu helfen. Der undankbarere Teil dieser Aufgabe ist aber auch, die Schicksale zu erfassen, zu listen, zu kategorisieren und zu katalogisieren, kurz: in ein Zahlenwerk zu gießen.
Laut dem UN-Bericht waren 40,8 Millionen Menschen Binnenflüchtlinge im eigenen Land. 3,2 Millionen warten in anderen Ländern auf eine Entscheidung über ihren Asylantrag. Die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit unter UNHCR-Mandat kommen aus nur drei Ländern: 4,9 Millionen aus Syrien, 2,7 Millionen aus Afghanistan sowie 1,1 Millionen aus Somalia.
Kolumbien hat demnach mit 6,9 Millionen die höchste Zahl von Binnenvertriebenen, direkt gefolgt von Syrien mit 6,6 Millionen und dem Irak mit 4,4 Millionen. Die meisten neuen Fluchtbewegungen innerhalb eines Landes gab es mit 2,5 Millionen Menschen im Jemen, wo seit geraumer Zeit ein Bürger- und Stellvertreterkrieg tobt.
Mit diesem Überblick ist auch klar ausgesagt: Grund für den steilen Anstieg der Flüchtlingszahlen in den vergangenen Jahren sind lang anhaltende Konflikte wie die in Somalia oder Afghanistan sowie neue oder wieder aufflammende Konflikte. Der größte davon ist der Krieg in Syrien. Zudem lassen seit dem Ende des Kalten Krieges dauerhafte Lösungen immer länger auf sich warten.
UN-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi fordert von den Staaten der Weltgemeinschaft mehr Bereitschaft, „nicht nur für Flüchtlinge, sondern im gemeinsamen Interesse der Menschlichkeit zusammenzuarbeiten“. Und er listet die Alternativen der Flüchtlinge auf, die in einem Dilemma stecken: Auf dem Meer verlören viele Bootsflüchtlinge ihr Leben, so Grandi; die Landwege seien mehr und mehr blockiert. In manchen Ländern machten Politiker Stimmung gegen Asylsuchende.
Was bei Letzteren – und allgemein im reichen Westen – nicht gut ankommen dürfte: Die UN-Statistik zeigt deutlich, dass 90 Prozent aller Flüchtlinge Schutz in Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen finden – außerhalb Europas. Mit 183 Flüchtlingen auf 1.000 Einwohner hat der Libanon im Verhältnis zur Einwohnerzahl mehr Menschen aufgenommen als jedes andere Land der Welt. In absoluten Zahlen ist die Türkei mit 2,5 Millionen Ankömmlingen der größte Aufnahmestaat. Im Verhältnis zur eigenen Wirtschaftskraft stemmt die Demokratische Republik Kongo am meisten, in deren Osten seit vielen Jahren ein verheerender Vielvölkerkrieg um Rohstoffe herrscht.
In Deutschland wurden 2015 rund 442.000 Anträge auf Asyl gestellt, mehr als in jedem anderen Land der Welt. Mit deutlichem Abstand folgen die Vereinigten Staaten mit knapp 173.000 – wobei der Asylgrund dort häufig Flucht vor Bandenkriminalität in Mittelamerika lautet. Auch in Schweden (156.000) und Russland (153.000) gingen viele Asylbegehren ein. Nach Hause zurückkehren konnten im vergangenen Jahr nur ganz wenige Flüchtlinge: 201.400. So viele, wie Rostock Einwohner hat – nur eben weltweit.