
Diktat der Meinungen: Die übergroße Mehrheit der Mediennutzer und Menschen im Internet setzt erst auf Privatmeinungen, dann auch auf fundierte Ansichten.
(iz). Nach dem Mord am amerikanischen Influencer und Podcaster Charlie Kirk, dessen Motivlage weiterhin offen ist, ist in den USA und – mit Verzögerung von 2-3 Tagen – in Deutschland eine teils verbitterte Debatte über das Thema Meinungs- und Pressefreiheit entbrannt. Die Lager und ihre Repräsentanten werfen sich in Leitartikeln und im Netz wechselseitig „Cancel culture“ vor.
Lassen wir mal die offenkundigen faschistoiden Tendenzen in den USA und den über Medien ausgetragenen Streit der deutschen Politik hinter uns. Trotzdem ist ein Moment der Reflexion zum Phänomen Meinungen (die mittlerweile so weit verbreitet sind wie der Herpesvirus in der Gesamtbevölkerung) u.a. für Muslime lohnend.
Lege ich die eigene (beschränkte und subjektive) Erfahrung zugrunde, sind mir im Leben vielleicht 2-3 Dutzend Menschen begegnet, die in der Lage wären, sich unvoreingenommen einer Sache zu nähern. Was meine ich damit?
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Gemeint ist hiermit nicht Teilnahmslosigkeit bzw. Desinteresse. Es geht um die Fähigkeit, mit einer Position oder Aussage in der gebotenen Gelassenheit und Offenheit umzugehen, ohne gleich eine Reihe halb- und unterbewusster Assoziation in sich ablaufen zu lassen.
Das heißt, es handelt sich um eine, im Wesentlichen philosophische Herangehensweise, die dem Idealtyp von Kommunikation nahekommt: aufnehmen, verarbeiten, reflektieren und antworten. Diese seltene Kompetenz ermöglicht ein Nachdenken, ohne dass vorher eine Lösung feststeht.
Die allermeisten (und da nehme ich mich nicht aus) unterlegen auf der einen oder anderen Weise sozialen, psychologischen, technologischen (sich aus der Funktionsweise von Netzwerken und Algorithmen ergebend) und neurologischen Mechanismen.
Zu den bekanntesten gehören der Dunning-Kruger-Effekt sowie der Bestätigungsfehler (Confirmation Bias). Diese Prozesse erschweren es dem Einzelnen wie der Gesellschaft, sich mit der gebotenen Offenheit einem Thema zu nähern.
Aussagen über einen „Nationalcharakter“ oder eine kollektive Mentalität sind allgemein mit Vorsicht zu genießen. Das folgende Zitat der jüdischdeutschen Philosophin Hannah Arendt ist unter dem Eindruck des Krieges und des Holocaustes entstanden. Trotzdem finden sich Anklänge davon in der heutigen Republik:
„Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt jedoch in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen. […] auf allen Gebieten gibt es unter dem Vorwand, dass jeder das Recht auf eine eigene Meinung habe, eine Art Gentlemen’s Agreement, dem zufolge jeder das Recht auf Unwissenheit besitzt – und dahinter verbirgt sich die stillschweigende Annahme, dass es auf Tatsachen nun wirklich nicht ankommt.“
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Die subjektive Ansicht (schon vor mehr als zwei Jahrzehnten sprach ein taz-Autor von „Diktatur“) ist kein Ersatz für Objektivität, Sachkenntnis und inhaltlicher Durchdringung eines Themas. Zumindest im Netz will kaum jemand davon wissen, sondern setzt auf Meinung und Emotion. Was zählt, sind Reichweite und Vernetzung, nicht Realität und Relevanz.
Lassen wir mal kurz essenzielle Fragen des Dins (von denen die Subjektivität der Ansicht ferngehalten werden sollte) außen vor, sind wir Muslime und unsere Gemeinschaft(en) nicht minder betroffen.
Damit ist nicht gemeint, es gäbe keine Meinungsvielfalt unter MuslimInnen – vom einen Extrem zum anderen ist ungeheuer viel subjektive Sichtweise unterwegs. Sie bewirkt nur nicht, dass mit ihrer Inflationierung Duldsamkeit gegenüber Dritten einherginge. Oder die Fähigkeit, deren Positionen auszuhalten.
Für uns liegt der Ausweg aus dieser Malaise im Mittelweg. Über einen definierten (und bekannten) Kernbestand von Allahs Din mag das Individuum denken, was es will. Er steht schlicht nicht zur Debatte.
Die Diskussion anderer Fragen setzt wesentliches Grundwissen voraus. Kann demnach kein Gegenstand von laienhaften Online-Streitigkeiten sein. Zum Rest mag es geteilte Positionen sein, bei denen man nie vergessen sollte: Es sind nur Meinungen.