
Seit mehr als 70 Tagen dauert die israelische Militäroperation gegen das palästinensische Flüchtlingslager Dschenin. Ihre Auswirkungen belasten die Menschen in der Stadt, aber auch in umliegenden Dörfern.
(KNA). Ein Erdhügel versperrt die Einfahrtsstraße ins Flüchtlingslager Dschenin. Über den notdürftig verteilten Schotter schaukelt ein Krankenwagen. In der Luft liegt der Geruch von verbranntem Gummi. Im Lager selbst ist es still.
Nur der Wind zieht eine Gardine durch ein geöffnetes Fenster. Wie eine weiße Flagge der Kapitulation flattert sie inmitten kriegerischer Zerstörung. „Widerstand gibt es im Flüchtlingslager längst kaum noch“, sagt der lateinische Pfarrer von Dschenin, Amer Jubran.
Die Stille sei trügerisch, warnen die Einheimischen. Auf den Dächern vermuten sie Scharfschützen der israelischen Armee. In den über 70 Tagen seit Beginn der Operation „Eiserne Wand“ am 21. Januar sind mehr als 21.000 Menschen aus dem Camp und seiner Umgebung geflohen, „ein Viertel der Bevölkerung Dschenins“, sagt Bürgermeister Mohammed Jarrar.
Weite Teile der Infrastruktur und schätzungsweise 400 Häuser wurden bei israelischen Angriffen zerstört. Ähnlich sieht die Lage in Tulkarem und seinen Flüchtlingslagern aus. Die Vertreibung aus den Camps ist für Jarrar „nur der erste Schritt, um die Palästinenser aus ihrem Land zu vertreiben“.
Israel begründet sein hartes Vorgehen mit Terrorbekämpfung. Vor allem die Flüchtlingslager im Norden des besetzten Westjordanlandes gelten als Hochburgen militanter Palästinenser. „Die überwältigende Mehrheit der Menschen hat mit Gewalt nichts am Hut“, hält Jarrar dagegen.
Der Politiker beklagt die „Dehumanisierung der Menschen in Dschenin, wie in Gaza“, aber auch mangelnde Unterstützung aus Ramallah. Die dortige Palästinensische Behörde habe eine halbe Million Dollar zur Verfügung gestellt, ein Tropfen auf den heißen Stein, während seine Gemeinde kurz vor dem Zusammenbruch stehe.
Auch die Kirche versuche zu helfen, wo sie könne, sagt Pfarrer Jubran. Sie beschafft Lebensmittel und Medikamente, gibt finanzielle Unterstützung für Bildung oder dringende Krankenhausaufenthalte. Allerdings sei die Kirche selbst auf Spenden angewiesen, um geben zu können. Oft bleibt es so bei „Worten der Ermutigung und der Hoffnung“.
Es ist der letzte Tag des Fest des Fastenbrechens, arabisch Eid al-Fitr, mit dem Muslime das Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan feiern. Eigentlich, sagt Pfarrer Jubran, wären jetzt die Straßen voll, doch schon in den Tagen vor dem Feiertag sei es viel zu leer gewesen.
Die Flucht vieler Bewohner und Angst vor der israelischen Armee sind nur teilweise die Gründe. Vor allem fehle den Menschen das Geld. Seit dem 7. Oktober 2023, als der Terrorangriff der Hamas aus dem Gazastreifen auf den Süden Israels den Gazakrieg auslöste, haben es die Palästinenser in den besetzten Gebieten besonders schwer. „70 Prozent in Dschenin sind arbeitslos“, so Bürgermeister Jarrar.
Neben der allgemein schwierigen Wirtschaftslage in den palästinensischen Gebieten sind die Ursache dafür etwa entzogene Arbeitserlaubnisse für Israel und eine massiv eingeschränkte Bewegungsfreiheit und strenge Straßenkontrollen. „Jerusalem ist für uns unerreichbar, selbst die Fahrt nach Ramallah dauert mehrere Stunden“, so Amer Jubran.
Vieles, was der Mensch brauche, fehle in Dschenin, „ein ungesunder Zustand vor allem für Kinder“. Mit seinem Dienst will der Pfarrer vor allem die christliche Präsenz stärken. „Wir bleiben“, lautet seine trotzige Ermutigung vor allem an die junge Generation.
Schätzungsweise knapp 5.000 Christen leben im Gouvernement Dschenin, rund 85 Familien in Dschenin selbst, die anderen in umliegenden Dörfern. Unter ihnen hat Zebabdeh den bedeutendsten Christenanteil, wie der dortige anglikanische Diakon Saleem Kasabreh berichtet. Ihnen sei wichtig, zu helfen.
Etwa 3.000 Binnenvertriebe haben in Zebabdeh Zuflucht gefunden, nochmal so viele im benachbarten Telfit. Möglich ist dies, weil rund um die nahegelegene Amerikanische Universität viele Studierende wohnten – in friedlichen Zeiten. Seit dem Krieg hat die Uni auf Online umgestellt, stehen die Studentenwohnungen leer und werden nun neu vermietet.
„Wenn ich durch Zebabdeh gehe, sehe ich den Wandel der Bevölkerung: viele Muslime und viele Kinder“, sagt Kasabreh. Probleme im Zusammenleben gebe es nicht, vielmehr integrierten sich die Aufgenommenen gut in die religiöse Vielfalt des Ortes. „Viele sind neugierig und kommen zur Kirche, um den Ort und seine Geschichte kennenzulernen.“
Zu den unfreiwilligen Mietern in einem privaten Studentenwohnheim gehören Fida und Mustafa Dukkum mit ihren drei Kindern. Die Familie aus dem Dschenin-Camp teilt sich eine Einzimmerwohnung. Die einzige Waschmaschine für die Etage steht im Flur. Zehn Tage seien sie jetzt hier, nach Wochen, in denen sie außerhalb des Camps in Dschenin Zuflucht gesucht hatten.
„Die Lage ist sehr schwer“, sagt Fida, „aber verglichen mit vielen anderen geht es uns gut“. Ihre jüngste Tochter hat sie Salma genannt, von dem arabischen Wort „Salam“ – Frieden. In den 14 Monaten ihres Lebens hat Salma ihn noch nicht erlebt.