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Ein christianisierter Imam?

Ausgabe 290

Foto: Ömer Sefa Baycal

(iz). Der seit Monaten laufende Diskurs über Imame in Moscheen und Qur’anschulen verdrängt die Tatsache, dass wo und wann immer mehr als zwei Muslime gemeinsam beten, ein dritter Muslim die Aufgabe des Imams übernimmt. In der Pause mancher internationalen Konferenz sammelten sich, ohne verabredet zu sein, Muslime, von denen der am ältesten Aussehende gebeten wird, sich vorne hinzustellen; das hießt, die Aufgabe der Leitung des Gebets zu übernehmen.

So trafen sich in der Mittagspause eines ­Symposions einige Studenten in einem ­Nebenraum. Da sie sich nicht einigen konnten, wer von ihnen die Leitung übernehmen sollte, waren sie froh mich kommen zu sehen und drängten mich vor ihre erste Reihe. Ich war irritiert, als Deutscher vor arabischen, indischen, marokkanischen Studenten zu stehen, wobei mir die Konzentration auf das Gebet half meine Unsicherheit zu verdrängen.

Und in den Unterkünften der ersten Gastarbeiter wählte man den Imam, den Ältesten oder jenen, der angenehm zu rezitieren vermochte. Die freitägliche Khutba wurde im heimatlichen Idiom gehalten, was niemanden störte. Im Grunde genommen entsprach diese Entwicklung der der christlichen Gastarbeiter aus Spanien, Italien, Griechenland oder Polen, die muttersprachliche Messen in ihren Kirchen hielten. Die Forderung, Deutsch zu predigen, tauchte erst Jahre später auf, weil religiöses Verhalten unter die verfassungsrechtlich gesicherte Religionsfreiheit und die allgemein gesellschaftliche Toleranz fiel.

Es interessierte niemanden, dass sich Vertreter ausländischer „Dienste“ unter die Gläubigen mischten und mancher Priester beziehungsweise Imam seinen Heimaturlaub nicht zu Hause verbrachte, sondern unter staatlicher Obhut. Der eine oder andere türkische Imam kehrte auch nicht nach Deutschland zurück. In dieser Situation vereinbarten das Auswärtige Amt und die Diyanet, dass nur noch die Imame eine Aufenthaltserlaubnis bekommen sollten, die durch einen Stempel im Pass einen entsprechenden Fähigkeitsnachweis hatten. Die unabhängigen Moscheen und Gemeinschaften wie die Tariqats rekrutierten ihre Imame zum einen nur noch aus den eigenen Reihen und zum anderen bemühten sie sich für ihren Imam ein Touristenvisum zu bekommen, was pro­blemlos war. Die Folge war, dass die Imame in dem unabhängigen Moscheen ständig wechselten. Das zwangsläufige Sprachenproblem blieb, auf das die türkischen Behörden später reagierten, in dem sie die für ausländische Aufgaben vorgesehenen Imame zu einem Deutschkurs schickten, in dem die Teilnehmer zwar ein rudimentäres Deutsch erwarben, aber unfähig waren einen Dialog zu führen.

Mit dem Heranwachsen der Kinder der einstigen Gastarbeiter konnten Abiturienten die Diyanet ansprechen, denen sie ein kostenloses Fachstudium in Ankara anbot, was mancher nutzte. So wie die Wehrdienste türkischer Auslandsbürger im Grunde genommen Türkifizierungskurse waren – und dem entsprachen, was andere Armeen mit ihren Auslandsbürgern vorsahen –, hatten die Auslandsstudien künftiger Imame das gleiche indirekte Ziel.

Inzwischen wuchsen die Vereine zu stattlichen Verbänden, die teilweise ihre künftigen Imame in Deutschland und teilweise in der Türkei ausbildeten. Hinzu kamen jene Jungen, die sich den Religions- beziehungsweise Sozialwissenschaften zuwandten.

Mit der Einrichtung von fünf staatlich geförderten Studien an verschiedenen Universitäten löste man zwar die Sprachenproblematik endgültig, schuf jedoch gleichzeitig neue Barrieren. Die fachwissenschaftlich orientierten Lehrstühle entließen akademisch gebildete Persönlichkeiten, die von den Moscheevereinen nicht einmal übergangsweise bezahlt werden konnten, zudem beherrschten sie allzu häufig die Qualifikationen nicht, die die schlichten Muslime in den Vereinen brauchten und von ihrem Imam erwarteten: seelsorgerische Betreuung unter den Bedingungen alltäglicher Orthopraxie, ein Begriff den der Kalam nicht kennt; die tadellose Beherrschung des Tadjwid; die Repräsentation „des“ Islam in Gesprächen mit den Kirchen beziehungsweise der Presse; die Auseinandersetzung mit dem Säkularismus der deutschen Gesellschaft. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, wenn man das Feuilleton der regionalen und überregionalen Medien auswertete, deren Leitbild der kirchlich ausgebildete Pfarrer ist. Dieser steht jedoch unter dem Schutz des sogenannten Beicht­geheimnisses, das der Islam nicht einmal im Ansatz kennt. Allein in den mystischen ­Orden, den Tariqa, weiß der Schüler, dass der Schaikh schweigt.

Der akademische Absolvent bedarf daher, um für die Praxis in den Moscheen vorbereitet zu sein, einer Weiterbildung, wie sie Kirchen für ihre künftigen Priester und Pfarrer in sogennanten Priesterseminaren aufgebaut haben. Dazu gehören nicht nur der Tadjwid, sondern auch die Auseinandersetzung mit der alltäglichen Orthopraxie, in der der Muslim seinen Glauben lebt. In den Universitätsseminaren wird meist die ­Orthopraxie diskret übergangen oder abfällig kommentiert; dass jedoch die großen Denker des Rationalen durchweg strenge Orthopraktiker gewesen sind, wird nicht thematisiert. Daher ist der Umgang mit den Kategorien Halal und Haram nicht eine ­Frage der säkularen Liberalität, vielmehr eine Herausforderung des alltäglich Normalen.

Wenn die jungen Akademiker nach bestandenem Examen in den Kreis ihrer Familien zurückkehren und mit den Älteren zusammen zum Gebet in die Moscheen gehen, dann werden sie nicht aufgefordert, die Aufgabe des Imames zu übernehmen. Vielmehr ordnen sie sich den bestehenden Strukturen unter. Auf die Frage, was sie nun täten, erzählen viele von einem neuen Studium, das den Einstieg in den Schuldienst ermöglicht. Manche Rabbiner berichten von ähnlichen Bildungswegen.

Die innere Struktur der Moscheevereine entwickelte sich über Jahrzehnte im steten Ausgleich zwischen den Anforderungen des deutschen Rechtssystem, den Sozialnormen türkisch-deutschen Vereinslebens und der gelebten Orthopraxie der Mitglieder, was Außenstehenden häufig wie eine Basisdemokratie anmutet. In diesem Sozialsystem war und ist der Imam eher eine (bedeutende) Randfigur, die fast normalerweise weder zum Vorstand gehört noch zum engeren Führungskreis des Vereines. Daran wird wahrscheinlich auch ein akademisch ausgebildeter Imam nichts ändern, was noch stärker für die Imame in den Verbandsmoscheen gilt.

Man kann jedoch vermuten, dass ein nach dem Studium in einem Islamischen Seminar fortgebildeter Student sich eine eigene ­Position erarbeiten wird, die der deutschen Erwartung eher entspricht, so sie nicht im medialen Diskurs zerredet wird. Ihr Leitbild lässt sich nur indirekt aus den berichteten Diskursen der unterschiedlichsten Fach­disziplinen schlussfolgern. Muslime haben danach den Eindruck, dass ihre Kernposition, der Tauhid, keine Rolle mehr spielt beziehungsweise nicht mehr zur Kenntnis genommen wird … also christianisiert; das heißt, der christlichen Säkularisation angepasst wird.

Der französische Philosoph Francois Cheng kommt zum gleichen Ergebnis: Hinter dem Lächeln der Toleranz steht die geistliche Diktatur des Säkularismus.