Debatte: Was sind unsere Gefahren oder stimmen deutsche Sicherheitsdiskurse noch?

Ausgabe 329

Containerterminal im Hamburger Hafen. Derzeit diskutiert die Politik, ob ein Teilverkauf des Asien-Terminals der HHLA eine Bedrohung für die deutsche Infra struktur ist. (Foto: J. Weinitschke, Adobe)

Der folgende Debattenbeitrag ist keine Relativierung des real existierenden Extremismus unter einigen Muslimen oder gar von Terrorakten, die in den letzten 20 Jahren verübt wurden. Es ist genauso im Interesse muslimischer BürgerInnen, dass Staat und Gesellschaft ein scharfes Auge auf Terror und gewaltbereite Ideologien oder Personenkreise haben. Muslime stimmen selbstverständlich zu, dass der Staat und seine Organe ein scharfes Auge auf entsprechende Entwicklungen und „Gefährder“ haben.

(iz). Spätestens mit dem 11. September 2001 fokussierte sich die öffentlich wahrnehmbare Debatte in Politik, Experten und Allgemeinheit im Themenkomplex „Sicherheit“ (aus durchaus nachvollziehbaren Gründen) – neben gelegentlichen Schüben beim Umgang mit dem Rechtsterrorismus der letzten Jahren – vor allem und hauptsächlich auf Muslime und ihre Religion.

Sukzessive und konsequent wurden in den Folgejahren die meisten Teile der stark angewachsenen „Islamdebatten“ einer „Securitisation“ oder „Versicherheitlichung“ unterzogen. Vom Kopftuch, über ein angeblich „konfrontatives“ Gebet Berliner SchülerInnen bis zum leisen, unverstärkten Gebetsruf – vieles wurde und wird durch die Linse nationaler oder gesellschaftlicher „Sicherheit“ betrachtet und entsprechend geframt. Das setzte sich dann fort bei – eigentlich rational zu diskutierenden – Vorhaben wie der fachlichen Ausbildung von Imamen, der Entwicklung einer islamischen Lehre in Deutschland sowie dem ordentlichen Religionsunterricht für muslimische SchülerInnen an allgemeinbildenden Schulen. Deutschsprachige Gelehrte (siehe S. 14) oder Islamunterricht für Grundschüler wurden und werden durch einflussreiche Diskursteilnehmer (wie der Union) als verlängerter Arm von Sicherheitspolitik und Gewaltprävention behandelt.

Als Folge der Angriffe vom 11. September in den USA sowie der Anschläge in Madrid und London bauten Strukturen der inneren und internationalen Sicherheit massiv ihre Expertisen in Bezug auf MuslimInnen personell und materielle Ressourcen aus. Dieser Schwerpunkt führte dazu, dass nicht nur andere ideologische Phänomene im Inland erheblich übersehen wurden (was sich bei den Taten des NSU-Komplexes, der Entwicklung rechter Strukturen in eigenen Reihen und einem stochastischen Rechtsterrorismus als fatal erweisen sollte). Die drastische Änderung der globalen und geopolitischen Gemengelage wurde – vor dem Hintergrund billiger Energie aus Russland und stabiler Absatzmärkte in Ostasien – nicht ausreichend mit einbezogen.

Während ein Großteil der sicherheitspolitischen Aufmerksamkeit MuslimInnen gewidmet wurde, haben Deutschland (und die EU) in den letzten Jahrzehnten um ein Vielfaches dramatischere Bedrohungen unterschätzt. So wurde die deutsche Kernkompetenz – eine funktionierende Exportindustrie sowie relativ hoher Wohlstand – fundamental von zwei Staaten abhängig gemacht. Bei Energieträgern und mineralischen Rohstoffen war das Russland, bei Absatzmärkten, Investitionen, Produktion und Entwicklung China.

Der Russland-Komplex ist der deutschen Politik und Wirtschaft (die beispielsweise mit ihrem Ostausschuss kaum in den Fokus von Kritik rückt) spätestens seit dem 24.2.2022 vor die Füße gefallen. Seit Jahren schon steht auch Deutschland im Visier des Kreml, was auf einer sehr randständigen Ebene viele Russlandfahnen auf rechten Demos andeuten. Einzelne Beispiele von Hackerangriffen auf öffentliche Einrichtungen deuten an, was passieren kann. In diesem Moment erweist sich die dramatische Änderung unserer Energieversorgung nicht nur als Bedrohung für „Wirtschaft“ und „Wohlstand“, sondern für die innere Sicherheit selbst.

Dabei ist die Exportausrichtung auf und die Produktion der bundesdeutschen Wirtschaft in China gar nicht einbezogen. Dass sich Peking seit Jahren in relevante Industrien sowie rohstoffreichen Regionen des globalen Südens einkauft und sich mit großzügigen „Hilfen“ durchsetzt, war bekannt. Dass in Teilen des eigenen Landes auch Waren deutscher Produzenten mithilfe von Zwangsarbeit hergestellt werden, ebenso. Erst mit dem Streit um den Verkauf von Anteilen der Hamburger Hafengesellschaft HHLA an den chinesischen Staatskonzern Cosco (dessen Europazentrale in der Hansestadt liegt) wurde den Deutschen in breiterem Maße bewusst, welchen Einfluss Peking anstrebt und schon hat.

Momentan befindet sich ein neo-imperiales Russland in einem blutigen Krieg gegen die Ukraine. Die Supermacht China macht nicht nur ihren direkten Nachbarn Sorgen. Nationalistisch-religiöse Regime wie im Iran oder Indien (das bis 2050 das bevölkerungsreichste Land der Welt sein wird) lassen die Muskeln spielen und der Populismus sowie Nationalismus starker „Führer“ ist erfolgreich in Staaten von Brasilien bis zu den Philippinen. Selbst nahe und als gefestigt geltende Rechtsstaaten wie die USA, Großbritannien, Italien oder Schweden (jenseits des ökonomisch schwer gebeutelten Osteuropa) erleben systemische Krisen ihrer Politik, deren Ausgang ungewiss ist.

Die fortgesetzte Erzeugung künstlicher „Bedrohungslagen“ durch Kopftücher von Lehrerinnen, Gebetsrufen, Halal-Fleisch oder einer ominösen „Moscheefinanzierung“ angesichts echter Gefahren ist politisch und verantwortungsethisch unangebracht. Sie erscheint auch grotesk, wenn spätestens seit Ausbruch der Pandemie in bestimmten Regionen unseres Landes montäglich tausende/zehntausende BürgerInnen gegen „Diktatur“ und „Volksverräter“ demonstrieren und dabei Gefängnis für und Gewalt gegen gewählte Parlamentarier fordern oder vor ihren Wohnungen aufmarschieren.

Wie würde die Republik reagieren, wenn das berüchtigte Neuköllner „Kopftuchmädchen“ täten?

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