(iz). Es ist mittlerweile zur Normalität geworden, das Thema Islam von außen zu betrachten und Muslime nicht oder nur selten selbst zu Wort kommen zu lassen. Eine kritische Reflexion des eigenen Zustands findet aber auch aif Seiten der Muslime oft nur in geringem Umfang statt. Wir sprachen mit Mohammed Belal el-Mogadedi, dem Vorsitzenden der Deutschen Muslim Liga e.V., über die politische und zivilgesellschaftliche Ebene der muslimischen Community und über die Wichtigkeit, positive Inhalte zu formulieren.
Islamische Zeitung: Wie nehmen Sie die innenmuslimische Debatte von Seiten der politischen Führung wahr? Werden sie den Anforderungen gerecht?
Mohammed Belel el-Mogaddedi: Die berechtigte muslimische Forderung in nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaften, objektiv und vorurteilsfrei beurteilt zu werden, und nicht aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit verurteilt beziehungsweise auf ein gesellschaftliches Abstellgleis geschoben zu werden, kann nur schwer in Abrede gestellt werden, wenn Muslime Vertrauen durch Klarheit im Handeln erlangen. Dies ist mitnichten ein Aufruf zum Opportunismus oder zur Unterwürfigkeit, sondern ein Aufruf zur zuverlässigen Partnerschaft im Sinne der Lehren des Islam, eine Aufforderung zur analytischen Loyalität, ein Appell, den inneren Maßstäben der Gerechtigkeit zu dienen, eine Befürwortung der Praxis uneingeschränkter Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit. Diesen Gedanken würde ich sehr gerne in den innenmuslimischen Diskurs übertragen sehen.
Hier müssen wir Muslime viel selbstkritischer sein, und uns nicht von unseren Eitelkeiten leiten lassen, wenn wir etwas erreichen wollen. Viel zu oft stellen wir uns selbst ein Bein und wundern uns anschließend darüber, dass wir nicht vorankommen. Oft beschwören wir den Gemeinschaftssinn – das Konzept von Umma – aber vergessen diesen, sobald es darum geht, belastbare gemeinschaftliche Strukturen zu entwickeln. Da sind wir dann wieder Individualisten, Einzelkämpfer, Grenzzieher. Doch Miteinander ohne Füreinander ist keine Gemeinschaft. Manche mögen diese Sichtweise als naiv empfinden, aber meine Lebenserfahrung lehrt mich, dass die Sache wichtiger als das Ego ist, wenn man seiner Sache zum Erfolg verhelfen will. Muslime, die sich mit der Sira des Propheten beschäftigt haben, sollten das eigentlich wissen.
Islamische Zeitung: Schalten sich muslimische Gelehrte ausreichend hörbar bei wichtigen Themen ein? Wenn nein, woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Mohammed Belel el-Mogaddedi: Muslimische Gelehrte schalten sich bei den wichtigen Themen unserer Zeit sehr engagiert, äußerst konstruktiv und mit Verantwortungsgefühl ein. Sie wären hörbar, wenn man ihnen nur endlich Gehör schenken, sie zur Kenntnis nehmen und sich mit ihren Ansichten beschäftigen würde. Wenn niemand der authentischen muslimischen Gelehrsamkeit zuhören will, weil man sich die sprichwörtlichen Bohnen in die Ohren stopft, dann bleibt ein Gelehrter ein einsamer Rufer in der Wüste. Die authentische muslimische Gelehrsamkeit schreit sich geradezu heiser. Sie wäre ja hörbar, aber sie hat kaum Zuhörer.
Abgesehen davon erlebe ich den medialen und politischen Diskurs in Deutschland beziehungsweise Europa über Muslime und Islam oft als einen Diskurs, der von Möchtegern-Gelehrten geprägt wird, deren vermeintliche Expertise in Sachen Islam nicht selten ausschließlich auf ihre familiäre Herkunft oder ihren muslimisch klingenden Namen gründet. Diesen muslimischen Onkel Toms hören große Teile der Gesellschaft allerdings äußerst gerne zu und ergötzen sich an ihren Schauermärchen. Gegen diese die menschliche Gefühlslage missbrauchende Volksverdummung anzukämpfen, ist für jeden aufrichtigen Gelehrten ein sehr hartes Stück Arbeit.
Islamische Zeitung: Fehlt es an der Fähigkeit oder dem Willen, positive Inhalte und Ziele zu definieren?
Mohammed Belel el-Mogaddedi: Ich bewundere durchaus unsere oft gescholtenen muslimischen Repräsentanten, denn sie halten in der Öffentlichkeit ihren Kopf hin und bieten mit großer Geduld den Protagonisten der Negativthemen die Stirn. Sie pauschal zu kritisieren ist mittlerweile auch unter Muslimen – besonders unter denen, die ihr Muslimsein politisch inszenieren und instrumentalisieren – ein äußerst beliebter Sport geworden. Doch zwischen besser wissen und besser machen klafft ein ziemlich großer Graben. Hier wäre vielleicht ein wertvoller Ausgangs- und Ansatzpunkt, interessierte Muslime, die konstruktive Kritik an Verbänden und deren Repräsentanten üben, mit dem Objekt ihrer Kritik zusammenzubringen. Die bestehende Distanz zwischen beiden muss überbrückt werden, und hier sind aus meiner Sicht die Verbände und ihre Repräsentanten sehr wohl gefordert, Begegnungsmöglichkeiten für Aussprache, Diskussion und Gespräche zu schaffen, eine Form von innermuslimischem Bürgerdialog. So kann man einerseits Standpunkte vermitteln, aber auch Anregungen und Ideen aufnehmen. Schließlich hat keiner von uns die Weisheit mit Löffeln gefressen.
Ich bezweifle, dass muslimischen Repräsentanten in Deutschland die Fähigkeit oder der Wille fehlt, positive Inhalte und Ziele zu definieren. Nur, sie kommen ja kaum dazu, ihre eigentliche Arbeit zu machen, weil sie unter politischem, medialem und gesellschaftlichem Dauerbeschuss stehen. Da fällt es schon schwer, die Zeit zu finden, um zukunftsweisende Strategien zu entwickeln und Ziele zu definieren.
Wir Muslime neigen dazu, der Politik der Angst, die sich aktuell wieder Bahn bricht, mit einem reflexartigen Re-Aktionismus zu begegnen. Wir schlittern von einer Reaktionsblase in die nächste, um der Politisierung von Angst zu widersprechen. Die gestalterische Kraft der eigenen Initiative entgleitet uns dabei zunehmend, weil wir nicht aus diesem Hamsterrad aussteigen. Jeder Muslim muss sich die Frage stellen, ob tatsächlich alle öffentlich oder privat agitierenden Maulhelden die Anerkennung, Aufmerksamkeit und Beachtung, die sie durch unseren Widerspruch erfahren, wirklich verdienen.
Ein Großteil der Arbeit wird schließlich ehrenamtlich geleistet. Und gerade aus diesem Grund müssen wir Muslime unsere Potenziale und Energien viel bedachter zum Einsatz bringen.
Selbst ein qualifizierendes Moratorium von Muslimen hinsichtlich der sogenannten, im Großen und Ganzen fruchtlosen, kritischen Auseinandersetzung mit dem Islam und Teilen der Dialogarbeit sollte in der gegenwärtigen Situation auch als praktische Option zur Überwindung einer in Sachen Islam weit verbreiteten und von Hochmut getragenen Debattenkultur, die sich auch in Form von geschwätzigen Talkshows manifestiert, ins Auge gefasst werden. Muslime würden so zu souveränen Akteuren und wären nicht mehr Getriebene der selbsternannten nicht-muslimischen „Experten“ und sogenannten Islamkritiker, die von zwei Dingen überhaupt nichts verstehen: nämlich vom Islam und, wie man Kritik betreibt.
Wir Muslime sollten keinesfalls an einer Diskussionsform teilhaben, die ausschließlich aus formalistischen Gründen geführt wird, vor allem, wenn eben diese dazu missbraucht wird, um Vorurteile gegenüber Islam und Muslimen zu schüren und zu vertiefen.
Gerne möchte ich in diesem Zusammenhang noch folgende Überlegung hinzufügen. Der Islam lehrt den Muslim, sich in seinem gesellschaftlichen Umfeld vorbildhaft zu verhalten. Das islamische Konzept der Umma kann einem Muslim das Verständnis für die Konzeption des muslimischen Citoyen in der Moderne vermitteln, eines lokal wie auch global denkenden und agierenden Individuums, das sich darum bemüht, seiner Verantwortung im Leben lokal wie auch global gerecht zu werden; ein muslimischer „Global Citizen“, der sich zum Beispiel gleichermaßen für Umweltschutz und gegen jede Form von Rassismus und Diskriminierung vor seiner Haustür wie auch für die Einhaltung der Menschenrechte zum Beispiel im Mittleren Osten einsetzt. Mit dieser Haltung und diesem speziellen Verständnis von Umma werden Muslime in Deutschland mittel- wie auch langfristig mehr Anerkennung für ihre berechtigten Anliegen erlangen können. Muslime stehen heute vor der großen Herausforderung, diese erfolgversprechende Leitlinie der islamischen Lehre in den Seiten ihrer Geschichte wiederzuentdecken und wiederzubeleben.
Islamische Zeitung: Werden die hiesigen Muslime egozentrisch? Eine muslimische Bloggerin schrieb zur Berliner Wahl, die Position der KandidatInnen zum Kopftuch sei die entscheidende Frage. Können wir Beiträge für alle formulieren?
Mohammed Belel el-Mogaddedi: Muslime leben mittlerweile in der dritten Nachkriegsgeneration in Deutschland. Aus den arbeitenden Gästen, wie sie etwas euphemistisch genannt wurden, sind Staatsbürger geworden, die hier Familien gegründet und ihren Lebensmittelpunkt gefunden haben. Die Kinder der „Gäste“ fühlen sich in Deutschland längst beheimatet, sie sind nicht nur Teil Deutschlands, sondern auch Teil eines modernen Europas geworden. Viele sind gut ausgebildet, vernetzen sich, sind bestens informiert und an politischer Gestaltung und Teilhabe interessiert. Sie fordern jetzt im Rahmen der vom Grundgesetz geprägten Rechtsnormen ihre Rechte ein. Dies ist eine Selbstverständlichkeit, die sich auf ein gesundes, starkes Selbstbewusstsein und -vertrauen gründet. Insofern ist die Inanspruchnahme von bürgerlichen Rechten Ausdruck eines Zugehörigkeitsgefühls und kein Ausdruck einer Absetzungstendenz vom Mainstream, wie auch immer man diesen Mainstream definieren will.
Für praktizierende Muslime ist es kein Widerspruch, Religiosität und Moderne miteinander zu vereinbaren. Mit dieser Haltung ecken sie in einer Gesellschaft an, die sich zumindest in Bezug auf Muslime mit der Präsenz der Religion im öffentlichen Raum schwertut.
Eigennutz ist aus meiner Sicht eine Triebfeder für gesellschaftliches Engagement und ein markantes Merkmal pluralistisch aufgestellter und der Rechtsstaatlichkeit zugeneigter Gesellschaften.
Das parteipolitische Spektrum in Deutschland spiegelt die große Vielfalt von Meinungen und Überzeugungen in unserer Gesellschaft wider. Idealerweise zeichnet sich die Stärke eines Rechtsstaates dadurch aus, dass er mit dieser Vielfalt umzugehen weiß, und es den Bewohnern, die in seinen Grenzen leben, ermöglicht, ihr Zusammenleben produktiv und friedlich zu gestalten. Diese Entwicklungsprozesse rufen aber auch Reibungen hervor, und diese Reibungen lösen bei politischen Akteuren und Politprofis spezifische Reaktionen aus. Diese fallen bisweilen heftig aus, wenn neue Akteure ihre politische Reife erlangt haben, Althergebrachtes infrage stellen und auf der Basis des Grundgesetzes ihre Rechte einfordern.
Ich bin der Überzeugung, dass Muslime ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung bereits heute nachkommen. Dies zeigen die vielen muslimischen Initiativen auf der Graswurzel-Ebene, auf der sie still und leise wertvolle Arbeit leisten, ohne dass dieses Engagement vom Staat gebührend anerkannt wird, obwohl eben dieser Staat immer mehr von den Muslimen und den ihnen aufgebauten und sie vertretenden Einrichtungen einfordert.
Solange Muslime das Gefühl haben, dass sie nicht als vollwertige Bürger anerkannt sind, dass sie in ihrer Lebenswirklichkeit und ihrem Alltag rechtliche Ungleichheit erfahren, werden sie sich im Verlauf ihres normativen Einbringungsprozesses in erster Linie darauf konzentrieren, ihre verfassungsrechtlichen Rechte zu erstreiten.
Die gegenwärtige Diabolisierung von Islam und Muslimen, nicht nur durch rechtsradikale Kräfte in unserem Land, sondern auch durch etablierte politische Parteien, sagt viel über den Gesamtzustand unserer Gesellschaft aus und wie diese mit Minderheiten umgeht, wie sie mit Veränderungen umgeht. Wir leben seit vielen Jahren in einem fortwährenden Veränderungsprozess unserer Gesellschaft und Muslime erleben diesen Wandel in besonderer Weise, weil sie nicht nur Anlass für Veränderung sind und geben, sondern, weil sie die positiven wie auch negativen Auswirkungen dieser Veränderungen als erste zu spüren bekommen und auch hautnah erfahren.
Islamische Zeitung: Was ist die Rolle der Zivilgesellschaft?
Mohammed Belel el-Mogaddedi: Die Frage, die ich mir stelle, ist: Was ist eigentlich Zivilgesellschaft? Ist dies eine Parallelgesellschaft und wenn ja, im Gegensatz beziehungsweise parallel wozu? Aus meiner Sicht gibt es nur eine Gesellschaft, in der Menschen auf unterschiedliche Weise an gesellschaftlichen Prozessen teilhaben oder eben auch nicht. Die deutsche Politik ist von der kommunalen Ebene bis hin zur Bundesebene vom Parlamentarismus geprägt. Dieser Parlamentarismus erfährt Zu- und auch Widerspruch durch außerparlamentarische Kräfte. Zivilgesellschaft und Parlamentarismus sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Im Idealfall erkennen beide Seiten den gegenseitigen Wert und nutzen die Freiheiten einer partizipativ geprägten Debattenkultur, um im Interesse der Gesamtgesellschaft Lösungen für die Fragen der Zeit zu finden.
Im schlimmsten Fall stehen sie sich als erbitterte Gegner gegenüber. Dies kann dann zu einer extremistisch geprägten Radikalisierung führen, die dann die Grundfeste unseres Rechtsstaates infrage stellt.
Die Entwicklung der Partei Bündnis 90/Die Grünen ist aus meiner Sicht ein gutes Beispiel dafür, wie intensiv, konstruktiv und nachhaltig bürgerschaftliches Engagement auf gesamtgesellschaftlicher Ebene wirken kann.
Wenn ich allerdings den gegenwärtigen Zustand der außerparlamentarischen Zivilgesellschaft betrachte, so muss ich leider feststellen, dass sie immer mehr in schlechte Gesellschaft gerät. Das ist eine extrem besorgniserregende Entwicklung, die ich vor zwei Jahren nicht für möglich gehalten habe, zumal sich etablierte Parteien dem Gedankengut dieser schlechten Gesellschaft in absonderlicher Anbiederung annähern und auf diese Weise Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung Raum und Akzeptanz verschaffen.
Islamische Zeitung: Lieber Herr el-Mogaddedi, vielen Dank für das Interview.
Community, Deutsche Muslime, Interview
„Ein Großteil der Arbeit wird schließlich ehrenamtlich geleistet“
Ausgabe 257