
BERLIN (GFP.com). Deutsche Ökonomen warnen mit Blick auf die unverändert anhaltende Covid-19-Pandemie vor Hoffnungen auf eine baldige wirtschaftliche Erholung. Hatte etwa das Münchener ifo-Institut noch Mitte Dezember – vor den jüngsten Lockdown-Beschlüssen – optimistisch geurteilt, die Bundesrepublik könne 2021 mit einem Wachstum von 4,2 Prozent rechnen, so ist bei der Bundesbank nur noch von drei Prozent die Rede; andere halten selbst dies für unrealistisch.
Beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin heißt es, selbst ein „Teufelskreis“ lasse sich nicht ausschließen, bei dem zunehmende Insolvenzen zu ernsten Schwierigkeiten für die Banken und zu einem Einfrieren der Kreditvergabe führen könnten; eine solche Abwärtsspirale könne „leichter entstehen, als viele glauben“.
Hoffnung schöpfen Beobachter weiterhin vor allem aus dem wieder wachsenden Geschäft mit China, das die Pandemie weitaus besser übersteht als die EU. Gleichzeitig verschärft die Coronakrise die Ungleichgewichte in der Eurozone zwischen dem deutschen Zentrum und der verarmenden südlichen Peripherie.
Zweite Rezession wahrscheinlich
Führende deutsche Wirtschaftsinstitute warnen in aktuellen Stellungnahmen vor optimistischen Konjunkturerwartungen für das Jahr 2021.[1] Angesichts der großen Unsicherheit, die mit dem konkreten Verlauf der Covid-19-Pandemie einhergehe, hätten Wirtschaftsprognosen zuletzt immer wieder in „kurzer Zeit so massiv verändert“ werden müssen wie nie zuvor in der Wirtschaftsgeschichte, heißt es einleitend in einem aktuellen Kommentar aus dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, in dem auch die in jüngster Zeit recht mangelhaften Vorhersagen der eigenen Zunft reflektiert wurden: Prognosen könnten in „schwierigen Zeiten“, wie man sie gerade erlebe, nicht mehr als „Szenarien“ sein.
Auf die Prognose eines Wirtschaftsbooms im Januar 2020 sei um die Jahresmitte die Analystenpanik vor einem ökonomischen „Armageddon“ gefolgt, die wiederum von einer überzogenen „Euphorie“ in dritten Quartal 2020 abgelöst worden sei, als die Wirtschaft sich dank der massiven Konjunkturmaßnahmen Berlins zeitweilig rasch erholte.
Nun aber habe sich die Einsicht durchgesetzt, dass „mit der andauernden zweiten Infektionswelle auch die Wirtschaftskrise nicht bald überwunden“ sei. Die Wirtschaft sei im vierten Quartal 2020 geschrumpft, konstatiert das DIW; dies werde wohl auch im ersten Vierteljahr 2021 der Fall sein, sodass die Bundesrepublik in eine „zweite Rezession fallen dürfte“. 2021 könne zu einem „Jahr der Ernüchterung“ werden, schlussfolgert das Wirtschaftsinstitut.
Drohender Teufelskreis
Das DIW verortet dabei etliche Problemfelder, die einer raschen Erholung der deutschen Wirtschaft im Wege zu stehen drohen. Da viele Unternehmen und Konzerne aufgrund der langen konjunkturellen Durststrecke inzwischen stark überschuldet seien, dürften dem Institut zufolge im laufenden Jahr die Unternehmensinsolvenzen „deutlich steigen“. Zahlreiche Firmen hätten ihre Rücklagen aufgebraucht, sie bekämen keine neuen Kredite; dabei laufe die von der Politik bei Krisenausbruch ausgesetzte Antragspflicht für Insolvenzen bald aus.
Die drohende Pleitewelle werde die Arbeitslosigkeit wohl steigen lassen, vor allen bei unqualifizierten Lohnabhängigen bzw. sogenannten Minijobbern, zumal der pandemiebedingt geschrumpfte private Konsum die Binnennachfrage weiter schwäche und die Wirtschaft zunehmend in eine Schieflage treibe. Die bei einer Pleitewelle ansteigenden Kreditausfälle gefährdeten schließlich auch die Banken, was wiederum die Kreditvergabe an „gesunde“ Unternehmen und Privathaushalte reduzieren könne. Wirtschafts- und Finanzkrise, Rezession und ein „Einfrieren“ der Kreditvergabe könnten im schlimmsten Fall eine konjunkturelle Abwärtsspirale auslösen – einen „Teufelskreis“, der „leichter entstehen“ könne, „als viele glauben“, warnt das DIW.
Die europäische Misere
Zudem macht das DIW die weltwirtschaftliche Entwicklung als weiteren Unsicherheitsfaktor aus, von dem die Bundesrepublik aufgrund ihrer einseitigen Exportausrichtung im hohen Maße abhängig sei. So befinde sich zwar die Wirtschaft in Asien zwar im Aufschwung; doch bestünden kaum Hoffnungen auf einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel in Washington. Die Biden-Administration habe bereits signalisiert, an protektionistischen Maßnahmen („America First“) festhalten zu wollen; dies werde die dauerhafte Beibehaltung der gewohnten Handelsstruktur zwischen den USA und der Bundesrepublik, die durch starke deutsche Exportüberschüsse gekennzeichnet ist, erschweren.
Überdies sei die europäische Wirtschaft im globalen Vergleich aktuell ein „Schwachpunkt“, der durch die unabsehbaren Folgen des britischen Austritts aus der EU von wachsender Ungewissheit geprägt sei. Da knapp zwei Drittel aller deutschen Exporte in die Länder Europas flössen, könne sich Deutschland der „europäischen Misere“ kaum entziehen. Folglich könne 2021 weitaus „weniger erfreulich verlaufen“, als es in optimistischen Szenarien prognostiziert werde, warnt das DIW. Oberste Priorität müsse ein „baldiges Ende der zweiten Infektionswelle“ haben, da der mit ihr verbundene Lockdown, sollte er bis zum Frühjahr aufrechterhalten werden müssen, „einen massiven und permanenten Schaden verursachen“ werde.
China als Hoffnungsträger
Bereits Mitte Dezember, noch vor der aktuellen Verschärfung der Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie, hatte das Münchener ifo-Institut seine Wachstumsprognose für 2021 von fünf Prozent auf 4,2 Prozent deutlich gesenkt.[2] Die wirtschaftliche Erholung werde sich aufgrund des Lockdowns in etlichen Ländern verschieben, hieß es zur Begründung. Die Arbeitslosenquote in der Bundesrepublik, die von fünf Prozent bei Ausbruch der Pandemie auf 5,9 Prozent gegen Jahresende 2020 gestiegen sei, werde wohl erst 2022 wieder auf 5,5 Prozent sinken.
Deutlich pessimistischer als das ifo-Institut gibt sich hingegen die Bundesbank, die von einem Wachstum des deutschen Bruttoinlandsprodukts von nur drei Prozent im laufenden Jahr ausgeht; die OECD wiederum prognostiziert der Bundesrepublik ein Wirtschaftswachstum von lediglich 2,8 Prozent. Weithin wird freilich die Hoffnung geäußert, China, mit dem sich die EU Ende 2020 im Grundsatz auf ein Investitionsabkommen geeinigt hat, werde als Konjunkturmotor für deutsche Unternehmen fungieren. Die Volksrepublik habe die „Corona-Pandemie wirtschaftlich besser als Europa weggesteckt“, heißt es; davon werde insbesondere die „exportorientierte deutsche Industrie profitieren“. Zwar leide der Dienstleistungssektor massiv unter den „aktuellen Restriktionen“, doch stehe die deutsche Industrie, in der trotz Pandemie und steigender Covid-19-Todesfälle weiter gearbeitet werde, nicht still – „ein großer Unterschied zum ersten Lockdown“. Die „Schlüsselindustrien“ der Bundesrepublik – die Kfz-Produktion, die Chemiebranche, der Maschinenbau – blieben so „auf Wachstumskurs“.
Wachsende Ungleichgewichte in der Eurozone
Trotz der düsteren Perspektive weisen Experten darauf hin, dass sich der Krisenverlauf in der Bundesrepublik, dem ökonomischen wie politischen Zentrum der Eurozone, immer noch weitaus glimpflicher gestaltet als in der europäischen Peripherie. Vor allem das Wachstum der Exporte nach China „im zweistelligen Prozentbereich“ habe sich positiv ausgewirkt, heißt es etwa in der Financial Times; die gegen Jahresende veröffentlichten Zahlen zum Auftragsbestand, zur Industrieproduktion, zum Einzelhandelsabsatz, zur Arbeitslosenquote und zum Export seien besser als prognostiziert ausgefallen.
Insbesondere stünden die Wachstumsprognosen der Bundesrepublik in starkem Kontrast zu denjenigen etwa in Frankreich und in Italien, wo schwere Einbrüche verkraftet werden müssten. Der Rückgang der Wirtschaftsleistung in der Bundesrepublik im vergangenen Jahr, der bei minus fünf Prozent liegen werde, betrage nur „rund die Hälfte“ des Konjunkturabsturzes in Frankreich. Dieser belief sich laut Schätzungen auf 9,4 Prozent. Italien sieht sich mit einem Einbruch seiner Wirtschaftsleistung um 9,9 Prozent konfrontiert; in Spanien dürfte das Bruttoinlandsprodukt 2020 gar um 12,4 Prozent geschrumpft sein.
Damit steigen die sozioökonomischen Ungleichgewichte in der Eurozone im aktuellen Krisenschub weiter an; die wirtschaftliche Dominanz der Bundesrepublik kontrastiert mit einer dramatischen Rezession in Frankreich und in der südeuropäischen Peripherie. Der Abstand zwischen der auf den Weltmarkt geeichten deutschen Exportwirtschaft und der abgehängten innereuropäischen Konkurrenz scheint uneinholbar.
Sozialer Sprengsatz
Der sich in diesen Ungleichgewichten aufstauende soziale Sprengsatz, der jederzeit politische Zentrifugalkräfte befeuern kann, wird vor allem an der Diskrepanz der Arbeitslosenquoten deutlich, die in der Eurozone im November 2020 bei 8,3 Prozentpunkten lag; in der gesamten EU waren es 7,5 Prozent. Die deutsche Arbeitslosenquote, die Eurostat bei 4,5 Prozentpunkten sieht, steht dabei im Gegensatz zu der grassierenden Erwerbslosigkeit etwa in Spanien, wo gegenwärtig gut 16 Prozent aller Lohnabhängigen keinen Job haben. In Griechenland beträgt die Erwerbslosenquote ebenfalls rund 16 Prozent; in Frankreich sind es immer noch 8,8, in Italien 8,9 Prozent.