Zwölf Monate ist es her, dass Neuseeland vom schlimmsten Verbrechen seiner jüngeren Geschichte erschüttert wurde. Beim Anschlag eines Rassisten auf zwei Moscheen starben 51 Muslime. Zum Jahrestag brechen die Wunden wieder auf – auch weil bald der Prozess beginnt.
Christchurch (dpa). Jeden Freitag. Es ist jeden Freitag dasselbe. Jedes Mal, wenn Gamal Fouda, der Imam der Al-Nur-Moschee von Christchurch, zum Freitagsgebet an sein Stehpult tritt, kommen die Erinnerungen wieder. An jenen 15. März vergangenen Jahres, als sich hier in der größten Stadt von Neuseelands Südinsel die Leute auch schon zum Gebet versammelt hatten. Daraus wurde die schlimmste Stunde in der jüngeren Geschichte des sonst so friedvollen Pazifikstaats.
Der Imam, ein freundlicher Mann von 43 Jahren, Vater von drei Kindern, weiß noch genau, wie spät es damals war. Die Zeiger auf der hölzernen Uhr rechts hinter ihm standen auf 13.41 Uhr. „Ich hatte eben mit meinem Gebet angefangen“, erzählt Fouda. „Die Moschee war noch nicht ganz voll. 300 Leute vielleicht. Dann hörte ich Krach an der Tür und sah, wie Funken schlugen. Ich dachte: ein Feuerwerk.“
Das war es nicht. Es war ein Terrorist: ein junger Mann in schwarz, kugelsichere Weste, Schulterplatten aus Hartplastik, Selbstlader im Anschlag, der nach und nach 42 Menschen erschoss. Mit einer Helmkamera übertrug er via Facebook alles live ins Internet. Fouda überlebte, indem er hinter seinem Pult in Deckung ging. Der Täter fuhr in eine andere Moschee im Stadtteil Linwood und mordete weiter. Auf der Flucht überwältigte ihn die Polizei.
Insgesamt starben 51 Menschen. Alles Muslime. Viele aus Ländern fernab von Neuseeland wie Bangladesch, Syrien oder Pakistan. Manche lebten seit vielen Jahren hier, andere erst seit ein paar Wochen. Der Jüngste war Neuseeländer von Geburt: ein Junge, nur drei Jahre alt. Der Älteste, ein Mann aus Afghanistan, wurde 71. So viele Tote gab es in dem Land auf der anderen Seite der Erdkugel bei einem Verbrechen noch nie. Fast alle sind auf dem Friedhof von Linwood begraben.
Die „Christchurch Attacks“, wie sie das hier nennen, bedeuteten für Neuseeland das Ende einer Idylle. Bis zu jenem Freitag lebten die nicht einmal fünf Millionen Einwohner in der Gewissheit, dass Terror alle möglichen Orte der Welt treffen könnte – aber sie doch nicht. Dass es anders kommen konnte, empört viele bis heute. Bevor sich die Tat am kommenden Sonntag (15.3.) zum ersten Mal jährt, ist diese Stimmung wieder besonders ausgeprägt.
Die Bürgermeisterin der 380 000-Einwohner-Stadt, Lianne Dalziel, sagt: „Was damals geschah, ist ständig in meinem Kopf. Kein einziger Tag ist vergangen, ohne dass ich mich damit beschäftigen musste.“ Wenn Rassisten wieder morden, irgendwo auf der Welt, auch in Halle oder Hanau, fällt stets sehr schnell ein anderer Name: Christchurch.
Dabei wirkt die Stadt überaus friedlich. Aus dem Zimmer der Bürgermeisterin sieht sie mit ihren geraden Straßenzügen und den vielen Parks noch geordneter aus als ohnehin. Den bleibendsten Eindruck hinterlässt bislang eine Erinnerungsstätte an das schwere Erdbeben im Februar 2011: 185 leere weiße Stühle. Für jedes Todesopfer einer. So etwas gibt es für die Toten aus den beiden Moscheen bislang nicht. „Wir sind noch in der Planung“, sagt Dalziel.
Dass die Stadt ein Stigma trägt, davon will die Bürgermeisterin nichts wissen. „Wenn die Leute heute an Christchurch denken, denken sie zuallererst an Zusammenhalt und an die unglaubliche Unterstützung aus aller Welt, die wir bekommen haben.“ Tatsächlich war Neuseeland auch ein großartiges Beispiel dafür, dass man auf Hass-Verbrechen nicht nur entschlossen, sondern auch besonnen reagieren kann.
Vor allem Premierministerin Jacinda Ardern bekam international großes Lob. Die Tage danach umarmte sie viel, trug Kopftuch, fand die richtigen Worte. Insbesondere wehrte sie sich gegen den Versuch, Neuseelands Muslime – etwa 40 000 – auszugrenzen: „Neuseeland ist ihre Heimat. Sie sind wir.“ Dann ließ sie halbautomatische Waffen verbieten. Am Sonntag, zur zentralen Gedenkfeier, wird Ardern wieder in Christchurch sein.
Auch Gamal Fouda, der Imam der Moschee, gehörte in den Tagen nach dem Anschlag zu den Leuten, die Eindruck machten – obwohl er damals kaum zu Ruhe kam. „Ich habe die ersten zwei Tage überhaupt nicht geschlafen und die beiden Wochen danach nie länger als eine Stunde.“ Bis er Ende März 2019 zu einer Konferenz in Hamburg war. Dort brach er zusammen. „Die Ärzte im Krankenhaus haben mir Tabletten gegeben. Dann habe ich 24 Stunden durchgeschlafen.“
Inzwischen ist der Imam wieder bei Kräften. In der Moschee sind alle Spuren des Anschlags beseitigt. Im Gebetsraum liegt ein neuer blauer Teppich. Die zerschossenen Fenster sind ersetzt, die Einschusslöcher verkittet und übermalt. Als man auf dem Parkplatz an einer Mauer doch noch Spuren zu entdecken glaubt, muss er lachen. Hier hing das „Reserviert“-Schild für sein eigenes Auto. Beim Abnehmen riss der Kleber Löcher in den Putz.
Fouda, gebürtiger Ägypter mit neuseeländischem Pass, meint heute: „Neuseeland ist ein sicherer Platz – für Muslime und für andere auch. Wir können wieder ein normales Leben führen. Neuseeland hatte Glück: Wenn du in deinem Land eine gute Führung hast, kannst du wieder ein normales Leben führen. Wenn du Führer hast, die Hass verbreiten, zerbricht die Gemeinschaft.“ Wen er damit meint, sagt der Imam nicht.
Aber natürlich haben viele Leute Angst, wenn sie wieder in der Moschee mit der goldenen Kuppel sind. Man kann das nachvollziehen. Erst vor ein paar Tagen gingen über einen verschlüsselten Kurznachrichtendienst wieder Drohungen ein, bebildert mit dem Foto eines maskierten Mannes, der im Auto vor der Moschee sitzt.
Anders als früher ist die Eingangstür nun besonders gesichert. In jedem Raum hängen Überwachungskameras: Alles, was drinnen geschieht, wird in die Polizeizentrale übertragen. Freitags ist stets eine Vielzahl von Beamten vor Ort. Meist stehen sie gleich am Tor. Dort, wo die vielen handbemalten Steine liegen. Einer trägt das Datum „15.3.19“. Darunter steht: „The day New Zealand cried“ („Der Tag, an dem Neuseeland weinte.“)
Oft wird vergessen, dass damals auch mehr als 50 Gläubige schwer verletzt wurden. Manche mussten monatelang im Krankenhaus behandelt werden. Freitags trifft man sie nun wieder. Männer mit schleppendem Gang, mit Krücken, im Rollstuhl. Einer von ihnen ist Taj Mohammad Kamran. Der 47-Jährige kam 2007 aus Afghanistan, ist aber längst Neuseeländer. Bei dem Anschlag wurde er von drei Kugeln getroffen. Nun ist er auf Gehhilfen angewiesen.
Demnächst muss der Fabrikarbeiter noch einmal operiert werden, wieder am rechten Bein. Große Hoffnung hat er nicht. „Das wird nichts mehr. Der Nerv ist beschädigt.“ Wie viele andere, die schwer traumatisiert sind, bekommt er psychologische Betreuung. „Ich träume jede Nacht davon.“ Auf seinem Handy hat er Fotos vom Tag der Tat. Die Nummer seines besten Freundes, der erschossen wurde, hat er nicht gelöscht.
Viele der Überlebenden treffen sich auch außerhalb der Kirche. Kontakt halten sie über WhatsApp-Gruppen. In Absprache mit der muslimischen Gemeinde hat die Stiftung Christchurch Foundation inzwischen fast sieben Millionen Euro an Unterstützung ausgezahlt, Spenden aus aller Welt und von verschiedenen Glaubensrichtungen. Größere Summen kamen aus Saudi-Arabien, aber auch von jüdischen Gemeinden in den USA. Zudem gab es Geld von einem staatlichen Fonds für Opfer von Gewaltverbrechen.
Hasan Rubel, der im Bauch und im Becken getroffen wurde, bekam 25 000 Neuseeland-Dollar (etwa 14 000 Euro). Vier Operationen hat er hinter sich, geht immer noch an Krücken. Zumindest benötigt Rubel keinen künstlichen Darmausgang mehr. „Mir geht es gut“, sagt der Familienvater. „Aber all das Geld bringt unsere Freunde und Verwandten nicht zurück.“
Der Leiter der Christchurch-Stiftung, Raf Manji, meint sogar: „Das Schlimmste kommt erst noch.“ Der langjährige Stadtrat hat mit mehr als 100 Opfern und Hinterbliebenen gesprochen. „Oft hört sich das an, als ob sich die Leute in einem dichten Nebel befinden. Manche haben sehr große Depressionen. Ich glaube, wir haben mit unserer Arbeit noch gar nicht richtig angefangen.“
Was die meisten Überlebenden noch mehr beschäftigt als der erste Jahrestag, ist der bevorstehende Prozess: Anfang Juni soll Brenton Tarrant in Christchurch vor Gericht gestellt werden. Dem 29-jährigen Australier droht wegen vielfachen Mordes und Mordversuchs lebenslange Haft. Derzeit sitzt er noch in Auckland, 1000 Kilometer entfernt, in Neuseelands einzigem Hochsicherheitsgefängnis.
Eigentlich sollte der Prozess früher beginnen. Wegen des islamischen Fastenmonats Ramadan wurde der Auftakt jedoch verschoben. Die Behörden wollen verhindern, dass der Rechtsextremist, der vor den Schüssen ein sogenanntes Manifest per Mail verschickt und ins Internet gestellt hatte, den Prozess nutzt, um seine rassistischen Theorien zu verbreiten. Bei den gerichtlichen Vorab-Terminen, zu denen er meist nur per Video zugeschaltet wurde, bezeichnete er sich als nicht schuldig. Weiter äußerte er sich nicht.
Nun diskutiert die muslimische Gemeinde, ob man zum Prozess gehen soll oder nicht. Taj Mohammad Kamran, der Mann aus Afghanistan, will auf jeden Fall dabei sein. „Ich muss ihn wiedersehen. Ich bin so böse auf ihn.“ Hasan Rubel und Gamal Fouda, der Imam, haben sich noch nicht endgültig entschieden. Alle drei folgen jedoch dem Vorschlag ihrer Premierministerin, den Attentäter nicht beim Namen zu nennen. Den Gefallen, für seine Bekanntheit zu sorgen, wollen sie ihm nicht tun, wenigstens das nicht. Er soll bleiben, was er war: ein No Name.
Der Imam behauptet sogar, den Namen nicht einmal zu kennen. „Ich habe seinen Namen nur zwei Mal gehört. Ich erinnere mich nicht daran“, sagt Fouda. An dieser Stelle wird er so ernst wie sonst nie. „Ich habe ihm ins Gesicht gesehen. Ich kenne sein Gesicht. Ich weiß, dass er ein Teufel ist. Er hasst Menschen. Er hasst die Liebe. Das ist kein menschliches Wesen. Das ist mir genug.“