Ein Plädoyer in Sachen Islam, Integration und Heimat. Von Anna Wiebke Klie & Najla Al-Amin

Ausgabe 208

(iz). Die öffentliche Debatte um den Islam und die Integration in Deutschland erhält immer wieder neuen Aufwind durch schriftlich-verbale Verlautbarungen hoher Amtsträ­ger, die in der Folge kontrovers und spannungsgeladen diskutiert werden. Exemplarisch seien in diesem Zusammenhang das im August 2010 erschienene provokante Buch von Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ oder die Äußerungen des CSU-Politikers Hans-Peter ­Friedrich, kurz nach seinem Amtsantritt als Bundes­innenminister im März 2011, genannt; aber auch rechtliche Urteile, die die muslimische Bevölkerung betreffen, wie das Beschneidungsverbot.

Im Rahmen der bereits lange währenden Debatte schlagen die Wogen regelmäßig hoch, und so manches Mal gewinnt man den Eindruck, dass sich Politiker hinter Allgemeinplätzen, Euphemismen oder Statistiken zu verstecken versuchen, sei es um ­Fehlentscheidungen, defizitäre Zustände oder die eigene Ohnmacht zu verschleiern, oder um ihre jewei­ligen (macht)politischen Interessen und Ziele situationsadäquat zu untermauern. Der ehemalige Bundespräsident Wulff erklärte in seiner Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit 2010 nachdrücklich, dass er selbstverständlich auch der Präsident der in Deutschland lebenden Muslime sei und der Islam inzwischen zu Deutschland gehöre, wobei er auf gern zitierte Verse aus Goethes West-östlichem Divan (1819) zurückgriff: „Wer sich selbst und andere kennt, / wird auch hier erkennen: / Orient und Okzident / sind nicht mehr zu trennen.“

Wulff sah sich aufgrund seiner Äußerung im Anschluss der Kritik ausgesetzt, dabei – so muss man einräumen – handelt es sich auch beim von ihm zitierten Goetheschen Postulat nicht nur um einen hübschen Reim, der so manche Rede stilistisch wirkungsvoller erscheinen lässt, sondern eben auch um eine durchaus verifizierbare Aussage, von der sich der neue Bundespräsident Joachim Gauck wiede­rum distanzierte und sie nur zurückhaltend unterstützte.

Allzu häufig werden die Einflüsse des Islams auf die geistigen und kulturellen Entwicklungsprozesse innerhalb Europas außer Acht gelassen oder gar geleugnet, während das jüdisch-christliche Erbe Europas besonders betont wird. Folgerichtig verhält es sich auch mit der deutschen „Leitkultur“-Debatte, die keinesfalls ad acta gelegt ist, sondern immer wieder neu aufgerollt wird. Unter Verweis auf das Grundgesetz christlich-jüdi­scher(!) Prägung wird in ihrem Kontext ein scheinbar homogener, allgemein verbindlicher Verhaltenskatalog aufgestellt, der angeblich das genuin Deutsche und damit das Eigene ausmache, an dem man und das „Fremde“ sich zu orientieren ­haben. Eurozentristische und kulturalistische Denkmuster lassen sich bedauerlicherweise auch bei in der Öffentlichkeit weit verbreiteten Zuschreibungen wiederfinden, die oftmals antagonistisch-pauschalisierend angelegt sind (etwa „Demo­kratie“ versus „Islam“) und anti-islamische Ressentiments, Stereotypen- und Klischeebildungen, Ängste und Stigmatisierungen heraufbeschwören, deren explosive Mischungen durch die reproduzierende Arbeit der Massenmedien gera­dezu inflationär kommuniziert und mithin nur noch verstärkt werden.

Es handelt sich um Denkschemata, die im (historisch-)kollektiven Gedächtnis Europas geradezu verwurzelt zu sein scheinen. Dementsprechend schwierig ist es, ihnen entgegenzuwirken; zumal die vermeintlichen Abschottungstendenzen und die Integrationsunwilligkeit „der“ Migranten/Muslime unter Verweis auf die Existenz von „Parallelgesellscha­ften“ und Migrantenghettos häufig als erwiesen betrachtet werden. So kommt es in der Öffentlichkeit unweigerlich zu einer Verschmelzung der Integrations- und Islamdebatte, und die Tatsache der Zugehörigkeit zur Religion des Islams wird häufig quasi reflexartig als Integrationshindernis beziehungsweise für eine fehlgeschlagene Integration verantwortlich gemacht.

Obwohl von rund 15 Mio. Menschen mit einer Migrationsgeschichte in ­diesem Land nur rund vier Millionen der islami­schen Religion angehören, werden kulturelle, ökonomische und soziale Prob­leme regelmäßig und bewusst „islamisiert“. Es fällt leichter, für Probleme unterschiedlicher Art das „Fremde“ verant­wortlich zu machen, anstatt die Ursachen auch bei sich selbst oder vielmehr noch, nach einer Lösung des Problems zu suchen. Die etwa gleich große Gruppe der Aussiedler und Russlanddeutschen fällt im Vergleich zu den Muslimen in Deutschland weniger im Zusammenhang mit der Integrationsdebatte auf, da hier die bewusste Wahrnehmung des „Fremden“ nicht vorliegt. Plakativ formuliert: Ein dunkler Türke mag dem deutschen Betrachter fremder erscheinen als ein blonder Russe.

Wie sollen sich die Muslime solcher Folgerungen, einer derartigen Kategorisierung seitens der Mehrheitsgesellschaft erwehren? Eine Versachlichung der Debatte und eine Entfernung von der Feindbildkonstruktion im Umgang mit dem Thema tun not. Denn anderenfalls wird diese Debatte mittel- und langfristig nicht den Konservativen im Parteienspektrum zu mehr Stimmen verhelfen, sondern den Rattenfängern am rechten Rand in die Hände spielen. Hier sind in der öffentlichen Diskussion mittlerweile in besorg­niserregender Weise Dämme gebrochen worden, was einer Entwicklung entspricht, die einem gedeihlichen Zusammenleben definitiv nicht förderlich ist. Die professionelle Dämonisierung des Islam und der Muslime in manchen Medien wird unsere gemeinsame Zukunft in Deutschland sicher nicht erleichtern, zeigt sie jedoch, dass ein Attribut im Zusammenhang mit dem Islam eine signifi­kante Bedeutung hat: die Angst.

Angst war und ist immer ein schlechter Ratgeber; eine kluge Politik handelt nach den Interessen des Allgemeinwohls. Einseitige Schuldzuweisungen werden uns nicht weiterbringen, vielmehr ist darüber nachzudenken, wie wir die Poten­ziale dieses Landes effektiv im Sinne aller nutzen und ausbauen können. Verweise auf die Vielzahl geglückter Integra­tionsprozesse in Deutschland, die Präsenz von mehr als 2.000 friedlich agieren­den islamisch-kulturellen Einrichtungen in Deutschland, auf die Tatsache des Zeitalters der Globalisierung und des demografischen Wandels, in dem 15 Mio. Muslime in der EU in der Diaspora ­leben und längst nicht mehr nur vom Phänomen der Arbeitsmigration gesprochen werden kann, scheinen oftmals nur Tropfen auf heiße Steine zu sein. Auch ­werden pragmatische Hinweise auf die Notwen­digkeit des Zuzugs von Ausländern aufgrund drohender Überalterung und des Geburtenrückgangs der Bevölkerungen vielfach artikuliert und diskutiert, wirken häufig aber auch zugleich als rein apologetisch-defensive, wenn nicht hilflose Reaktionen. Dabei ist im Rahmen der Islam- bezie­hungsweise Integrationsdebatte ein toler­antes, unbefangenes Aufeinanderzugehen aller Beteiligten unbedingte Voraus­setzung, wollen sie effektive Ziele erreichen und zur wahrhaftigen Integration – das heißt, der chancengleichen Teilhabe an allen sozialen Ressourcen der Gesellschaft (Bildungssystem, Arbeits-/Wohnungsmarkt etc.) – der Muslime in Deutschland beitragen. Zu betonen ist, dass eine gelingende Integration voraussetzt, dass sich vor ­allem die jungen Muslime von der Gesellschaft des Aufnahmelandes akzeptiert, sich anerkannt und gleichberechtigt fühlen. Denn Integration heißt vor allem Partizipation. So haben Migrationstheo­rien und empirische Studien aufgezeigt, wie sehr die von jungen Muslimen vorge­fundenen Lebensbedingungen mit den jeweiligen Ausprägungen ihrer religiösen Orientierungen korrelieren.

Gefühle der Nichtakzeptanz und Diskriminierung können reaktive Maßnahmen, Ab- und Ausgrenzungsversuche der jugendlichen Muslime geradezu provozieren, und Religion kann dann die Funk­tion eines Bindeglieds zu anderen Migrantenjugendlichen übernehmen, eine kollektive Identität konstruieren, Gefüh­le der inneren Sicherheit, des Schutzes, der Stärke, aber eben auch der Überlegen­heit und Macht aufbauen helfen. Im schlimmsten Fall kann Religion dann instrumentalisiert und radikalisiert werden, um sich von der Kultur und Religion der Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen. Und genau diese Wirkungen sind nicht gewollt, da sie uns – allen Muslimen wie auch Nicht-Muslimen – schaden.

In der Integrations- und Islampolitik sind Perspektivwechsel gefragt. Vor Augen führen muss man sich die häufig spannungsgeladene Ausgangssituation und Identitätsanomie der jungen Muslime, die gleichsam „zwischen den Stühlen sitzen“, weil sie sowohl gegenüber der Mehrheitsgesellschaft als auch gegenüber ihrem Elternhaus eine kulturelle Bringschuld zu leisten haben, um hie wie dort Anerkennung zu erlangen. Nicht den Zugang verweigern, sondern partizipieren lassen muss man diese jungen Menschen an Systemen und Werten, die ­ihnen ein Gefühl der Chancengleichheit geben und auch eine offene Auslegung und Reflexion des Islams wie auch ande­rer Religionen ermöglichen.

Verschiedene Studien der Bertelsmann und der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Deutschen Islam Konferenz (DIK) etc. haben gezeigt, dass sich rund 90 Prozent der Muslime in Deutschland als religiös und sehr religiös bezeichnen, zugleich sehr tolerant sind und die Demokratie für das beste politische System halten. Gleichzeitig verbinden weit über 60-70 Prozent der Bevölkerung in Deutschland bereits seit Jahrzehnten den Islam mit Fanatismus, Intoleranz und Gewalt. Hier scheint es Widersprüche zwischen der Selbst- und der Fremdwahrnehmung zu geben. Diese Diskrepanz muss ernst genommen werden.

Zum einen müssen die Muslime beziehungsweise ihre Wortführer der Mehrheitsgesellschaft ihre Gedanken, Haltun­gen und Interessen viel offener und deutlicher mitteilen, zum anderen hat sich auch die Mehrheitsgesellschaft Fragen nach tatsächlichen Interessen und präsen­ten Vorurteilen gefallen zu lassen. Denn Integration heißt auch Transparenz und Kommunikation beziehungsweise setzt Letztere voraus.

In diesem Zusammenhang müssen die Betroffenen mit Migrationshintergrund selbstverständlich wiederum bereit sein, die ihnen entgegengestreckten Hände anzunehmen, sich auf die Aufnahme­gesellschaft und ihr Rechtssystem einzulassen und vor allem ihre Sprache zu erlernen. Zugleich sind die Ängste der Mehrheitsgesellschaft ernst zu nehmen, Pauschalisierungen und Diffamierungen dabei allerdings in jedem Fall zu ­vermeiden.

Über eines sollten sich tatsächlich alle im Klaren sein: Die Zukunft in Deutschland ist aufgrund der demografischen Entwicklung bunt. Bereits gegenwärtig haben in den großen Ballungsräumen rund 50 Prozent aller SchülerInnen ­einen Migrationshintergrund. Folglich muss volkswirtschaftlich auf allen Seiten das Interesse bestehen, Jugendliche – auch muslimische – ordentlich auszubilden und zu qualifizieren, damit ein hochwertiger Lebensstandard auch langfristig beibehalten werden kann. In Nord­rhein-Westfalen besitzen beispielsweise derzeit rund 15 Prozent aller Grundschulkinder die islamische Religionszugehörigkeit, in den nächsten Jahren wird jedoch ein enormer Knick in der Entwicklung der Schülerzahlen zu beobach­ten sein. Es geht folglich nicht mehr um die Frage des Ob, sondern des Wie.

Und hier benötigt jedes Gemeinwesen identitätsstiftende gemeinsame Werte, Ideale und Ziele. Letztlich muss sich in der öffentlichen Diskussion endlich verabschiedet werden von dem latenten und teilweise offen ausgesprochenen „Ihr“ – die Ausländer, Zuwanderer etc. – und „Wir“ – die Deutschen, Einheimischen etc. Ein neues Wir-Gefühl muss her, mit dem auch verschiedene Identitäten wie Deutschitaliener, Deutschtürken etc. zugelassen und zukünftig akzeptiert werden. Identität ist keine feststehende Größe, die statisch bleibt, sondern unterliegt vielmehr dem prozesshaften Wandel und ist insofern dynamisch.

Die Angehörigen der ersten „Gastarbeiter“-Generation galten in Deutschland als Ausländer, in der Türkei waren sie „Deutschländer“. Die meisten Zuge­wanderten beziehungsweise ihre Kinder fühlen sich heutzutage in Deutschland beheimatet, ohne dass sie sich von ­ihren Herkunftsländern distanzieren. Wie sich die Frage nach Identität und Heimischwerden langfristig weiterentwickeln wird, ist auch von der Haltung der Mehrheitsgesellschaft abhängig. Der Islam ist vor diesem Hintergrund Teil des Ganzen, und Deutschland ist unsere „gemein­same“ Heimat.

Fest steht: Eine Integrationspolitik kann nicht „von oben“ verordnet, sondern muss in einem Miteinander und in Zusammenarbeit mit den betroffenen Menschen – in einem dynamisch-reziproken Prozess unter Beteiligung von Minder- und Mehrheitsgesellschaft – durchgeführt werden, sollen ihre Maßnahmen langfristig und nachhaltig effek­tiv sein.

Unterstützend und in Analogie hierzu müssen sich Wissenschafter in ihren Forschungen zum und Arbeiten über den Islam ihrer großen Verantwortung, zuvorderst in Bezug auf eine ihrerseits unabdingliche Kritik- und Reflexionsfähigkeit, bewusst sein; sie dürfen sich nicht in schablonenhaften Denkschemata verfangen, geschweige denn ­überkommenes Gedankengut lediglich reproduzieren.

Umso wichtiger werden interdisziplinär angelegte Forschungsarbeiten und Publikationen, in denen ­Wissenschaftler unterschiedlicher Couleur zu Wort kommen, sich austauschen, widersprechen und kontroverse Thesen zur Debatte aufstellen – nicht in einer apologetischen oder affirmativ-defensiven Manier, sondern in einer wissenschaftlichen, kritisch-hermeneutischen Vorgehensweise. Es geht um konstruktive Auseinander­setzung und Austausch, die allerdings ein unbefangenes Aufeinanderzugehen ­voraussetzen.

Es geht bei der Islamdebatte zweifelsohne auch um integrationspolitische Belange, aber darüber hinaus – und das ist wichtig! – um ein genuines Anliegen von Muslimen, (Islam-)Wissenschaftlern und Theologen, die in einem geistigen Klima der Freiheit produktive Diskurse über die Innen- und Außenperspektiven der Religion des Islams führen möchten und dabei eben auch die oftmals verkannten und verleumdeten humanen Botschaften des Korans und des Propheten in die Öffentlichkeit tragen wollen.

Internationale Fachtagungen und Foren, auf denen eben nicht ausschließlich auf die konfliktverstärkende, integra­tionshemmende, sondern vielmehr auf die friedensstiftende Wirkung von Religionen fokussiert wird, können in ­diesem Zusammenhang sehr produktive Veranstaltungen sein. Wesentliche Meilensteine auf dem Weg hin zur Anerkennung und Etablierung eines europäisch geprägten Islams versprechen aber vor allem die an unterschiedlichen Standorten in Deutschland gemäß den Empfehlungen des Wissenschaftsrates (2010) einzurichtenden Zentren für islamisch-theologische Forschung zu sein.

Die Autorinnen Anna Wiebke Klie und Najla Al-Amin sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Zentrum für Interkulturelle Islam­studien der Universität Osnabrück.