Essay von Sebastian Sufyan Kocaman

(iz). Die europäische Aufklärung birgt in ihrem Kern die Herausforderung der Emanzipation, also dass sich der Mensch aus den geistigen und gesellschaftlichen Zwängen, die in einengen und behindern, herausschält und befreit. (Nur im alltagsprachlichen Gebrauch bezieht sich Emanzipation unmittelbar und ausschließlich auf Frauen.) Doch sich aus eigener Kraft aus dem Morast selbstverschuldeter Unmündigkeit zu befreien, wie es der große deutsche Philosoph Immanuel Kant von uns forderte, sich quasi selber am Schopfe zu packen und sich so aus dem Sumpf der Unvernunft zu ziehen, vermochte bislang nur einer, und zwar war dies der Lügenbaron Münchhausen.

Als Muslime wissen wir, dass es keine Kraft und Macht außer von, durch und mit Allah, dem Erhabenen gibt, und dass demnach auch das in der Tat edle und erstrebenswerte Ziel der Aufklärung, einen selbstständig denkenden Menschen zu bilden, das mündige Individuum durch die Kraft der Vernunft alleine zu formen, nicht ohne den Willen, die Zustimmung und die Hilfe seines Schöpfer, des einen und allmächtigen Gottes geschehen kann. So greift das Anliegen der Emanzipation aus islamischer Perspektive zu kurz, es muss, der Kompatibilität mit der allgemeinen muslimischen Geistesverfassung halber, um eine transzendentale Flucht erweitert werden. An vielen Stellen wird im gnaden- und segensreichen Koran beschrieben, dass es die eigentliche Bestimmung menschlichen Daseins ist, aus tiefster Dunkelheit in das Licht der Erkenntnis zu treten, so zum Beispiel klar und deutlich in folgendem Vers: „Allah ist der Schutzherr derjenigen, die glauben. Er bringt sie aus den Finsternissen heraus ins Licht.“

Es ist keine Überstrapazierung dieser koranischen Lichtmetapher in ihr sowohl das Licht göttlicher Offenbarung als auch das Licht der Vernunft zu fassen. Denn muslimisches Denken findet von Anbeginn an statt zwischen al-Aql und al-Naql, dem eigenständigen Nachdenken, oder kurz gesagt dem Verstand auf der einen Seite und der religiösen Überlieferung auf der anderen Seite. Es gibt eine englische Aussage von Hamza Yusuf, einem zeitgenössischem Prediger in den USA, die das humoristisch unterstreicht: „Islam is based on naql (texts) and ‘aql (intellect). Some people just have texts, we call them naql-heads“. Das ist ein Wortspiel mit „knuckleheads“, Idioten, gemeint sind vernunftfeindliche Muslime, die es leider auch gibt.

Das Anliegen der Emanzipation, sich von den der Entfaltung des Verstandes verhindernden vielgestaltigen Fesseln und Zwängen zu befreien, transformiert sich so zur Imanzipation: Der Mensch wendet sich mit seinem Wesen, seinen Gedanken, seinem Hoffen und Sehnen, schlussendlich mit seinem Glauben, also seinem Iman an Allah, an Gott, den Erhabenen. (Ich möchte hier anfügen, dass dieses so prägnante Wortspiel von Eman- und Imanzipation nicht von mir ist, ich bin ihm irgendwo in den Weiten des Internets begegnet und es sofort eine inspirierende Wirkung auf mich.)

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Durch die Hinwendung zu Allah, zu Gott, befreit sich der Mensch von ihn in seiner geistigen Entwicklung behindernden sowohl äußeren, gesellschaftlichen Zwängen als auch jenen inneren Zwängen, die seinem Nafs, seinem Ego und seiner Triebseele entspringen. Dazu gibt es eine passende überlieferte Aussage des letzten Gesandten Gottes Muhammad, Segen und Frieden seien auf ihm: “Scharfsinnig ist derjenige, der sich selbst kritisch betrachtet und nach dem strebt, was ihm nach dem Tode zum Wohl gereichen wird; und schwachsinnig ist derjenige, der Sklave seiner Begierden bleibt, und von Allah nur die Erfüllung seiner Wünsche erbittet.”

Wir sehen also, dass die Reinigung des Bewusstseins aus dem zutiefst religiösen Motiv der Hinwendung zu Allah dem säkularen, dezidiert nicht-religiösen Motiv der Vernunftbetonung in der Aufklärung durchaus ähneln kann. Bei beiden hat die Selbstkritik, die Erziehung und Disziplinierung des Egos, des Bewusstseins einen hohen Stellenwert inne.

Die Vergleichbarkeit von Emanzipation und Imanzipation lässt sich meines Erachtens gar nicht genug herausarbeiten und betonen. Ist es doch so, dass sie sich in ihrer Metaphorik die gleiche zentrale Begrifflichkeit teilen: Das Licht. In anderen Sprachen trägt die Aufklärung diese Lichtmetapher bereits im Namen: im Englischen Enlightenment, im Französischen Lumières und im Arabischen Tanweer. Im Islam findet sich das aufklärerische Credo „Licht ins Dunkel bringen“ 1:1 sehr oft wiederholt im Heiligen Koran wieder, mit dem Unterschied dass es sich primär auf die Rechtleitung bezieht, die Allah den Menschen gewährt, wenn sie Ihm dienen und Seine letzte Offenbarung in ihr Denken und Handeln integrieren: „Er ist es, Der Seinem Diener klare Zeichen offenbart, damit Er euch aus den Finsternissen ins Licht hinausbringt. Und Allah ist wahrlich mit euch Gnädig und Barmherzig.“

In den Konsequenzen, welche sich daraus für das diesseitige, das weltliche Denken und Handeln ergeben, liegen Eman- und Imanzipation dicht beeinander: Wenn es das erklärte Ziel des Korans und des Islams insgesamt ist, dass der Muslim oder die Muslima unmittelbar und direkt, ohne weitere Zwischeninstanzen, seinem oder ihrem Schöpfer dient, dann bedarf dieses der gleichen individuellen Mündigkeit und Souveränität wie dies die europäische Aufklärung fordert. Wobei hier selbstverständlich nicht unterschlagen werden darf, dass es auch in der islamischen Zivilisation, Kultur- und Geistesgeschichte eine Tradition der Aufklärung gibt. Diese Tradition soll hier nur angerissen werden mit einem überlieferten Ausspruch von Ali, dem vierten Kalifen der Muslime, möge Allah hochzufrieden mit ihm sein: „Der Mensch ist der Feind, dessen was er nicht kennt“ und dieser Spruch hat ein lateinisches Äquivalent: Ars non habet osorem nisi ingorantem, eine Weisheit also, die sich die europäische und muslimische Tradition teilen.

Sehr interessant ist in unserem Zusammenhang auch der Sharh, also die zu dieser Aussage gehörige Erklärung von Rashiduddin al-Watwat, einem der bedeutendsten muslimischen Literaten des 12. Jahrhunderts, genannt die „Fledermaus“, wohl weil sein Äußeres nicht sonderlich vorteilhaft war. Diese Erklärung sei hier in dem schönen altertümlichen Deutsch aus der Übersetzung von Heinrich Leberecht Fleischer wiedergegeben: „Wenn jemand eine Wissenschaft nicht versteht, so schmälert er ihr Ansehn und lästert ihre Verdienstlichkeit, bekrittelt ihre Lehrer und befeindet ihre Kenner. Wer eine Wissenschaft nicht versteht, zieht beständig gegen dieselbe los, und verläumdet und bekrittelt ihre Kenner. Die Menschen sind Feinde einer Wissenschaft, die sie in Folge ihrer mangelhaften Bildung nicht verstehen. Wenn die Wissenschaft auch die reinste Rechtgläubigkeit ist, verstehen sie dieselbe nicht, so heisst sie ihnen Unglauben.“

An diesem weisen Zitat könnte sich so mancher heutiger vernunft- und wissenschaftsfeindliche Prediger des Islam ein Beispiel nehmen! Jede Marke, jedes Label braucht gemäß der gängigen Marketing-Lehre auch einen passenden, kurzen Sinnspruch (Wir kennen alle die Marke Haribo, und den Slogan „macht Kinder froh und Erwachsene ebenso“): Für die europäische Aufklärung und die damit einhergehende Emanzipation des Geistes ist das wohl der lateinische Ausspruch Sapere aude, wörtlich etwa „Wage es, vernünftig zu sein“, der berühmt geworden ist in der Interpretation von Kant „Habe den Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“. Als Wahlspruch der Imanzipation mag die von mir formulierte muslimische Version der genannten Aussage von Kant gereichen: „Habe sowohl den Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, als auch Allah alleine ohne Teilhaber zu dienen.“ Denn wie es früher im feudal-aristokratischen Europa sehr viel Mut erforderte seinen eigenen Verstand zu gebrauchen, so erfordert es heute im säkular-atheistischen Europa Mut sich zum Glauben an einen Gott zu bekennen und das Leben entsprechend dieses Glaubens auszurichten. Aber der eigentliche Sinn dieser Aussage ist, dass den eigenen Verstand zu schärfen und einzusetzen, sowie Allah alleine und ohne falsche Teilhaber zu dienen, sich gegenseitig bedingen und ergänzen.

Das eine ist ohne das andere nur sehr eingeschränkt möglich. Wenn beispielsweise das Denken von falschen Götzen, wie den vielen verschiedenen „-Ismen“, vernebelt wird, man denke an Konsumismus oder Nationalismus, verfügt man aus aufklärerischer Sicht nicht über einen freien und selbstständigen Verstand und aus islamischer Perspektive ist es bei einem derart von Ideologien befrachteten Geist sehr schwierig eine reine und aufrichtige Absicht tief im Bewusstsein zu formulieren, die eigenen Taten nur für Allah zu begehen und möglichst das ganze Leben in Seinen Dienst zu stellen.