Europas unbekannte Seiten: Zwischen Emigration und Erneuerung

(iz). Während in Westeuropa die muslimische Wohnbevölkerung ein noch recht junges Phänomen ist, siedeln Muslime in Ost- und Mittel-Europa seit Jahrhunderten, so etwa in Rumänien, Bulgarien, der Ukraine und Weißrussland. Auch in Litauen stellen Muslime seit über sechshundert Jahren einen einflussreichen Teil der Bevölkerung. Großfürst Vytautas, legendärer Gründer des ersten litauischen Großreiches, das sich um 1420 bis weit in den Süden und Osten der heutigen Ukraine ausdehnte, holte um 1400 bereits rund 400 Familien turksprachiger Karaimen von der Krim nach Trakai, der alten Hauptstadt Litauens. Dort bildeten sie die Burgwachen des Fürsten. Die Karaimen sind allerdings keine Muslime, sondern Anhänger einer Religion, die die Thora als Basis nimmt und der jüdischen Religion nahe steht, ohne jedoch den Talmud anzuerkennen. Die ersten Muslime als geschlossene Gruppe werden im alten Litauen um 1238/39 als Folge der ersten Kontakte zwischen litauischen Fürsten und der Goldenen Horde vermutet. Weitere Zuzüge folgten im 14. bis 16. Jahrhundert. Gemäß ihrer eigenen Legenden sind die Litauer Tataren Nachfahren der Nogayer und Krim-Tataren, die 1397 als Gefangene massenhaft in der Gegend um Vilnius und in der Region Grodno (heute in Weißrussland) angesiedelt wurden. Tokhtamysh, der berühmte Khan der Goldenen Horde, floh nach der Niederlage gegen Timur Lenk mit tausenden seiner Krieger ein Jahr später in die gleiche Gegend. Tokhtamysh wurde so der Herr über die heutige Stadt Lida in Weißrussland.

Bereits im 17. Jahrhundert waren die Nachkommen dieser turk-tatarischen Zuwanderer sprachlich an ihre slawisch-sprachige Umgebung assimiliert. Da die Kindererziehung in den Händen der Frauen lag und die tatarischen Krieger mangels tatarischer Frauen einheimische Slawinnen und Baltinnen heirateten, ergab sich eine spezifische litauisch-tatarische Familiensituation. Gesprochen wurde weißrussisch, die Religion war der Islam und die Nachnamen wurden von den ortsansässigen Frauen übernommen. Die heutigen Nachfahren dieser Tataren sprechen allerdings litauisch. Dr. Adas Jakubauskas, Vorsitzender der Union der tatarischen Gemeinden Litauens, betont jedoch, dass für die Identität der Gemeinden die islamische Religion ausschlaggebend sei, egal welcher Sprache man mächtig sei. Weitere Momente der tatarischen Ethnizität seien die besondere kulturelle Entwicklung der Litauer Tataren, die sie mit den Tataren Polens und Weißrusslands teilen, nämlich sich in relativer Isoliertheit durch die Jahrhunderte hindurch entwickelt zu haben, und ihre erstaunliche Resistenz gegenüber Christianisierungsdruck zwischen römisch-katholischem und russisch-orthodoxem Christentum. Dies habe auch viel mit der traditionellen Toleranz zu tun, die – zumindest in Polen und Litauen – Andersgläubigen auch heute noch entgegengebracht wird. Da die Tataren mit an der Wiege des litauischen Staates standen, sind sie heute ein geachteter Teil der Gesellschaft: Vor einigen Wochen wurde eine erste Dauerausstellung über die Tataren Litauens im nationalen Symbol der Litauischen Geschichte eröffnet, der Burganlage von Trakai, dem ersten Regierungssitz des Großfürsten Vytautas. Die zweite Säule der muslimischen Community in Litauen bilden die Kazan-Tataren. Dies sind Tataren, die vor 70 Jahren, noch während oder kurz nach dem zweiten Weltkrieg, als Industrie- und Hafenarbeiter nach Litauen kamen. Sie kamen aus dem Wolga-Ural-Gebiet, wo die heutigen Turkrepubliken Tatarstan und Baschkirien liegen. Die stärkste Gemeinde hat sich in Litauen in der Hafenstadt Klaipeda an der Ostsee etabliert. Fliur Sharipov, Ingenieur und ehrenamtlicher Vorsitzender des tatarischen Gemeindeverbands „NÛR“ [Licht] von Klaipeda, ist stolz auf das erreichte: Nachdem in der Nachwendezeit ein Einbruch in der kulturellen und religiösen Tätigkeit der Tataren von Klaipeda zu verzeichnen war, konnte 2006 schon der zweite Tag der tatarischen Kultur gefeiert werden, mit mehr als 500 Gästen.

Besonders stolz ist Sharipov auf seinen Sohn Timur und die Kriegsveteranin Rawilija Amiri. Timur und Rawilija waren als Delegierte beim Weltkongress der Tataren in Tatarstans Hauptstadt Kazan. Rawilija wurde als einzige Tatarin Litauens für ihre Verdienste im 2. Weltkrieg geehrt, Timur war Leiter der litauischen Jugenddelegation zum Weltkongress. Von der Stadtverwaltung Klaipedas wird ihnen Raum zur Verfügung gestellt, den sie als Büro und Kulturzentrum nutzen. Vor allem die Frauen seien es, die aktiv für die Pflege des Glaubens und der Sprache engagiert sind.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion seien gut ein Drittel der Tataren Litauens emigriert. Auswanderungsziele waren vor allem Großbritannien, Irland und die USA, die Auswanderungsgründe meist ökonomischer Natur. Jakubauskas zeigt Verständnis für die Emigration, ist doch auch sein Großvater im Exil begraben: Er war jahrelang der Imam der tatarischen Moschee in New York. Jakubauskas ist aber auch besorgt um die Lage der Gemeinde, vor allem um die demographische Entwicklung. Waren es 1989 noch 5.100 Muslime in Litauen, exklusive Migranten, so wurden vier Jahre später nur noch 3.500 gezählt. Mittlerweile hat sich die Zahl der praktizierenden Muslime wieder zwischen fünf und sechs Tausend stabilisiert. Jedoch ist die Gefahr nicht gebannt, dass sich die jungen Menschen an die litauische Mehrheitsgesellschaft assimilieren, so Jakubauskas. Xenophobie und Rassismus seien in Litauen keine Themen, die für die Muslime relevant sind. Vor der Unabhängigkeit sei die Lage allerdings dramatisch gewesen, was aber nicht nur Muslime sondern alle religiösen Menschen betraf: Islamische Gotteshäuser waren geschlossen, zahlreiche Friedhöfe wurden bis in die siebziger Jahre hinein zerstört.

Nach der Wende wurden zwei Jugendliche zu einer islamischen Hochschulausbildung ins Ausland geschickt, die exzellent ausgebildet wurden, und auch zur Zeit werden zwei Studenten auf ein Auslandsstudium vorbereitet. Für diese Ausbildung zwei neue Studenten zu finden, war nicht leicht, da auch sehr gut ausgebildete islamische Geistliche keine Anstellung finden. Vom Staat werden islamische Institutionen nicht gefördert, und bei der geringen Mitgliederzahl ist eine Finanzierung von vollen Stellen durch die Gemeinde noch zu kostspielig. Hohe Motivation, ein jahrelanges – und selbst finanziertes – Studium in der Türkei oder einem arabischen Land zu beginnen, sei in dieser Situation und mit diesen Zukunftsaussichten eben nicht oft zu finden.

Erste Schritte zur Verbesserung der Zukunftsaussichten und einen damit verbundenen Motivationsschub erhoffen sich intellektuelle Aktivistinnen von einer Umstrukturierung der islamischen Gemeinde in Litauen. Jakubauskas steht heute einer Union von tatarischen Vereinen vor, in der die stärksten Gemeinden aus Vilnius, Kaunas und weiteren Städten zusammen gefasst sind. Ein modernes Netzwerk wurde geschaffen und die Mitgliederzahl soll bis zum nächsten Jahr verdoppelt werden. Ab dem nächsten Jahr sollen dann staatliche Finanzmittel und EU-Fördermittel beantragt werden. Dabei hilft nicht zuletzt die Erfahrung von Adas Jakubauskas bei seiner Arbeit im litauischen Parlament, dem Sejmas.

Viel Kraft wird die Restaurierung und Instandhaltung der islamischen Friedhöfe und vier Moscheen kosten, so Adas Jakubauskas. Die schönste Moschee steht in Kaunas den Gläubigen zur Verfügung, aber auch an Orten mit traditionell muslimischer Bevölkerung gibt es noch typische Holzmoscheen. Diese befinden sich in den Dörfern Nemezis, Keturiasdesimt Totori (Vierzig Tataren) und Raiziai und bedürfen ebenfalls der Pflege. Im Jahre 1914 wurde für eine große Freitagsmoschee in Vilnius gesammelt, zum Bau kam es nach Ausbruch des I. Weltkrieges dann nicht mehr. Doch die Baupläne seien nun wieder entdeckt wurden und es sei geplant, den Bau der Hauptmoschee der Muslime Litauens nun in Angriff zu nehmen – nach den Plänen aus dem letzten Jahrhundert…

Die Zeitschrift „Lietuvos Totoriai“ (Litauer Tataren), die monatlich erscheint, erfüllt wie die oben erwähnte Union der tatarischen Vereine eine Netzwerkfunktion und soll die Stärkung der Identität der Gemeinschaft dienen. Da sich die Tataren Litauens vor allem über ihre Religion definieren, machen auch religiöse Themen den Hauptteil der Beiträge aus. Die Zeitschrift ist ein Gemeinschaftsprojekt aller tatarischen Gemeinden – der alteingesessenen Litauer Tataren sowie der in den letzten 70 Jahren zugewanderten Kazan-Tataren, die vor allem im Norden der Republik leben. Aber auch Muslime aus Estland, der Russländischen Föderation oder Deutschland finden in dieser Zeitung ein Forum. Muslimische Flüchtlinge und Migranten partizipieren ebenfalls an den Aktivitäten der Tataren, haben jedoch ihre eigenen Zusammenhänge, in denen sie sich bewegen. Im nächsten Jahr soll ein Baltikum-weites tatarisches Fest veranstaltet werden, auch Muslime aus Deutschland sowie Bulgarien und Rumänien werden eingeladen. Die EU-Erweiterung machts möglich …