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Evliya Celebi – ein Weltreisender in Istanbul

Ausgabe 363

celebi istanbul
Foto: okanozdemir/Shutterstock

Evliya Çelebi und die Geheimnisse einer Epoche: Das 17. Jahrhundert war ein Zeitalter der neuen Wege. Händler, Gesandte, Pilger und Abenteurer durchquerten Kontinente – und einige von ihnen schrieben die Welt neu.

(iz). Unter ihnen ragen drei Namen heraus, die kaum unterschiedlicher sein könnten: Jean-Baptiste Tavernier, der französische Juwelenhändler, der chinesische Naturbeobachter Xu Xiake und Evliya Çelebi, der osmanische Geschichtenerzähler.

Evliya Çelebi: der osmanische Geschichtenerzähler

Vierzig Jahre lang zog der letzte durch das Osmanische Reich und weit darüber hinaus – vom Balkan bis nach Ägypten, von Wien bis nach Mekka. Sein Werk, das „Seyahatnâme“, umfasst zehn Bände, die nicht nur Landschaften und Städte beschreiben, sondern auch zahlreiche Anekdoten und Traumvisionen beinhalten. Eckpfeiler des Werkes bilden die Bände über Istanbul (Band 1) und Kairo (Band10).

Auf meiner Reise nach Istanbul begleitet mich das Reisebuch mit seinem ganzheitlichen Blick auf das soziale Leben. Für Evliya war die Welt ein Schauspiel der Vielfalt, die er versuchte mit Fakten, Erinnerungen und Visionen abzubilden. 

Das Buch des Reisenden ist kein Zeugnis des Egos des Autors. Der Verfasser spricht von sich stets in der dritten Person. Es ist erstaunlich, durch das moderne Istanbul zu wandern und das zeitlose Erkenntnisverfahren des osmanischen Gelehrten im Hinterkopf zu behalten.

Zu jeder Zeit leiten Reisende unterschiedliche Absichten und Motive. Fast zeitgleich zog Jean-Baptiste Tavernier (1605–1689) von Paris nach Persien und Indien. Er war kein Gelehrter, sondern Händler: Diamanten und Juwelen waren sein Geschäft. Sechsmal reiste er nach Isfahan, Delhi und Golconda, wo er die legendären Diamantenhöfe beschrieb. 

Seine „Six Voyages“ machten ihn in Europa berühmt. Der Blick des Kaufmanns war eher praktisch und ökonomisch und seine Schilderungen drehen sich oft um Maße, Preise, Handelswege oder Hofzeremonien, erzählen von Luxus und Macht.

Im fernen China wanderte dagegen Xu Xiake (1587–1641) durch Berge, Flüsse und Höhlen. Sein Werk, das „Xu Xiake Youji (Reisenotizen)“, umfasst 20 Bände und ist eine präzise Dokumentation von Geologie, Hydrologie und Topographie des Reiches der Mitte.

Foto: Johnny Hanson

Drei Reisende, drei Perspektiven

Drei Reisende, drei Perspektiven – und doch gehören sie zusammen. Denn ihre Werke zeigen, wie im 17. Jahrhundert die Welt enger zusammenrückte. Osmanen, Europäer, Asiaten – jeder beschrieb auf seine Weise die Vielfalt eines Jahrhunderts, das mit globaler Bedeutung zu erzählen begann.

In Istanbul versuche ich, Evliya Çelebi (1611–1682), dem Chronisten, Geschichtenerzähler und Abenteurer näher zu kommen. Niemand hat das Osmanische Reich und seine Nachbarländer so detailreich und zugleich so poetisch beschrieben. Als Sohn eines angesehenen Goldschmieds am Hofe, wuchs Evliya im Zentrum der osmanischen Macht auf.

Schon als Kind erhielt er eine Ausbildung in Musik, Theologie und Sprachen – eine polyphone Bildung, die ihm später in fernen Ländern den Zugang erleichtern sollte. Früh trat er in den Dienst des Sultans, und bald begann er, seine Reisen aufzuschreiben.

Von 1640 bis fast zu seinem Tod war er unterwegs: auf den Schlachtfeldern des Balkans, in den Basaren Kairos, im Palast von Wien, auf Pilgerfahrt nach Mekka. Über vier Jahrzehnte lang sammelte er seine Eindrücke, Anekdoten, Legenden und Beobachtungen.

Und doch kehrte er immer wieder nach Istanbul zurück. Schon im ersten Band seines Werkes widmet er der Stadt eine fast enzyklopädische Darstellung seiner Moscheen und Bauwerke. Kein Ort ist so ausführlich beschrieben wie seine Heimatstadt. Istanbul ist für Evliya Çelebi nicht nur Heimat, sondern der Mittelpunkt seiner Welt.

Folgenschwerer Versprecher

Manchmal ist es ein einziger Versprecher, der ein Leben bestimmt. Auf meinem Stadtrundgang besuche ich die kleine Ahi Çelebi-Moschee am Goldenen Horn in Istanbul. Man ist alleine dort, denn das sakrale Gebäude wird von den Touristenströmen übersehen.

Dort – habe ich in einer Biografie gelesen – sah der Reiseschriftsteller in einer Vision den Propheten. Aufgelöst in Emotionen, so berichtet er, wollte er eigentlich die Worte sprechen: „Şefaat ya Resûlallah“ – „Fürbitte, o Gesandter Gottes“. Stattdessen aber kam ihm ein anderes Wort über die Lippen: „Seyahat“ – „Reise“.

Ein einziger Laut, eine Verschiebung im Klang – und aus der Bitte um himmlische Gnade wurde die Berufung zu einem Leben voller Bewegung. Der Prophet lächelte und sprach: „Fürbitte, Reisen und Pilgerfahrten möge Dir Gott samt Gesundheit und Wohlergehen gewähren.“

Die erstaunliche Erfahrung ist das Ereignis, das Çelebi zu einem Leben als Weltreisenden inspirierte. Der Versprecher verrät, was tief in ihm bereits schlummerte – eine ungestillte Sehnsucht nach der Fremde, nach Abenteuer, nach der Weite der Welt. Er bat in seinem Traum nicht um Erlösung, sondern um eine lebenslange Erfahrung.

Foto: Tharik Hussain

Zehntausende Kilometer Reise

Und so entfaltete sich aus diesem einen Wort ein ganzes Werk: Zehntausende Kilometer Reise, Begegnungen mit Fürsten und Bettlern, Beschreibungen von Krokodilen am Nil, von Märkten in Kairo und Palästen in Wien.

Dieser Traum wurde zum Ausgangspunkt des „Seyahatnâme“, jenes gewaltigen zehnbändigen Reisebuches, das uns heute nicht nur Städte, Märkte und Landschaften des 17. Jahrhunderts vor Augen führt, sondern auch die Mentalität einer Epoche.

Sein komplexer Erzählstil ist heute nicht einfach zu verstehen. Der Psychoanalytiker Jacques Lacan unterscheidet drei Register der psychologischen Erkenntnis: das Imaginäre (die Welt der Bilder und Visionen), das Symbolische (die Ordnung der Sprache und Kultur) und das Reale (das, was sich dem Verstehen entzieht).

Wendet man diese Struktur für die Deutung des Traums von Evliya an, so greifen diese Register ineinander: Die strahlende Versammlung des Propheten, die bildhafte Pracht der Vision gehören zur imaginären, der sprachliche Ausrutscher, der aus „Şefaat“ ein „Seyahat“ macht, ein Laut, der seine ganze Lebensbahn verschiebt, zur symbolischen Ordnung.

Der Schock des Traumerlebnisses, ein Ereignis, das sich kaum in Worte fassen lässt und dennoch unwiderruflich wirkt, gehört zur Dimension des Realen. Çelebi ist ein Grenzgänger und versucht immer wieder spirituelle Erfahrungen, die sprachlos machen, für seine Leser in eine symbolische und bildhafte Formensprache zu übersetzen.

Es ist also das pulsierende Innenleben des Reisenden, das erklärt, warum er in seinem Werk nicht systematisch vorgehen konnte, um seine komplexen Erinnerungen und Eindrücke zu Papier zu bringen. Çelebi selbst vergleicht seinen Opus mit einer aus vielen bunten Flicken zusammengenähten Kutte eines Derwisches.

Als Evliya Çelebi im späten 17. Jahrhundert starb, war sein riesiges „Seyahatnâme“ zwar im Osmanischen Reich bekannt, aber es blieb ungedruckt. Nur handschriftliche Kopien kursierten in den Bibliotheken von Istanbul, Kairo oder Damaskus. Für die westliche Welt war er ein Unbekannter. Erst im 19. Jahrhundert kam der Text nach Europa.

Im 19. Jahrhundert wiederentdeckt

Joseph von Hammer-Purgstall (1774–1856), ein österreichischer Diplomat, war einer der ersten Europäer, die das Osmanische Reich systematisch erforschten. Er beherrschte Türkisch, Arabisch und Persisch, veröffentlichte eine monumentale „Geschichte des Osmanischen Reiches“ und gilt als Begründer der Orientalistik im deutschsprachigen Raum.

Sein Ziel war es, das Osmanische Reich nicht nur als Gegner der Habsburger zu betrachten, sondern seine Kultur ernst zu nehmen und in Europa bekannt zu machen. Während seiner Tätigkeit in Istanbul stieß er in den osmanischen Bibliotheken auf die Handschriften von Evliya Çelebi.

Er war sofort fasziniert: Hier war eine Quelle, die nicht, wie europäische Gesandte oder Reisende, von außen auf das Reich blickte, sondern von innen. Er begann, Auszüge ins Deutsche zu übersetzen und zu veröffentlichen.

Vielen Lesern im von Rationalität geprägten Westen fiel es schwer, mit den ungewohnten Erzählungen des osmanischen Reisenden umzugehen. Der amerikanische Gelehrte Robert Dankoff hat in seiner Pionierarbeit gezeigt, dass Evliyas Mischung aus Fakt und Fiktion, aus genauen Beobachtungen und phantastischen Ausschmückungen, kein Mangel an Zuverlässigkeit darstellt, sondern ein bewusstes literarisches Stilmittel ist.

Für ihn handelt es sich bei den Werken um „eine osmanische geographische Enzyklopädie als Reisebericht und Autobiografie strukturiert“. Auch den Traum deutet Dankoff, im Gegensatz zu vielen Skeptikern, nicht als bloße Einbildung, sondern ordnete ihn verstehend in seiner poetischen Struktur ein.

Wissen Aischa

Foto: Archiv

Auch ein Gelehrter

Çelebi, der osmanische Wanderer des 17. Jahrhunderts, war nicht nur Chronist der Geschichte und ein Erzähler vom Alltag der Kaufleute und ihren Karawanen.

Er war auch ein Gelehrter, der sich für Platon und Aristoteles begeisterte, und in Athen die Akropolis betrachtete, nicht nur als Ruine, sondern als lebendiges Zeichen einer Welt, die dem Osmanischen Reich vorausging. Die Griechen waren für ihn Nachbarn und Erben einer anderen Zivilisation, die er mit Interesse in seine Chronik aufnahm.

Auf meinem Rückweg stehe ich schließlich staunend vor der Hagia Sophia und betrachte die Säulen, die schon Kaiser Justinian sah, und die Minarette, die Sultane hinzufügen ließen. Heute dürfen Muslime wieder in der Moschee beten.

An der Einlasskontrolle verlangt man von mir, das Glaubensbekenntnis aufzusagen und lässt mich dann eintreten. Das Bauwerk ist in seiner monumentalen Schönheit unvergleichlich.

Nach meinem Besuch sitze ich auf einer Bank in der Sonne und denke an einen anderen, modernen Reiseschriftsteller: Patrick Leigh Fermor. Das Haus des Abenteurers besuchte ich letztes Jahr in Griechenland.

„Sie waren nicht zu tadeln“

Seine Perspektive auf die Geschichte der Osmanen war von seiner Griechenlandliebe geprägt. Für Fermor blieb Istanbul stets Konstantinopel, die Stadt der Kaiser, Mosaiken und byzantinischen Liturgien. Er sah mit Melancholie auf den Untergang des Reiches von Byzanz, doch ohne Bitterkeit gegen die Osmanen.

„Sie waren nicht zu tadeln“, schreibt er, „denn Eroberungen gehören zur Geschichte. Die Schuld lag im Niedergang der Byzantiner selbst“. So konnte er zugleich die Verluste der Orthodoxie beklagen und die Kraft der muslimischen Kultur respektieren.

Mit dieser Einstellung und dem Interesse an beiden geschichtlichen Perspektiven, öffnet sich ein spannender Dialog über die großen Zivilisationen der Vergangenheit.

Hier, im Herzen Istanbuls, kreuzen sich wie von jeher die Wege und Blicke der Reisenden aus aller Welt. Die Stadt ist nicht nur ein pulsierender Ort, sondern eine Schichtung von Zeiten und ein Spiegel von Geschichten, die niemandem alleine gehören.

Die Schriften Çelebis, längst populär geworden, ermöglichen ein tieferes Verständnis über eine der großen Epochen der Zeitgeschichte. Im Schlusswort seines geheimnisvollen Lebenswerkes fasst der Autor seine lebenslangen Bemühungen in aller Bescheidenheit zusammen:

„Freilich ist es (das Werk) in den Augen der Feingebildeten und Verständigen kaum gelungen. Ich kann nur hoffen, dass sie den Umstand mit der großen Zahl meiner Reisen entschuldigen und sie keinen Blick darauf wenden, dass es mir nicht gegönnt ist, Wendungen in prunkvoller Rede zu schreiben.“

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