Ex-UN-Kommissarin Louise Arbour übersieht in einer Analyse destabilisierende Auswirkungen von „humanitären Interventionen“

Berlin (GFP.com). Die Zeitschrift der “Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik” (DGAP) publiziert einen Überblick über die zehn womöglich gefährlichsten Konflikte des neuen Jahres. Wie die Autorin, die ehemalige UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Louise Arbour, schreibt, handelt es sich bei ihrer Aufstellung um zehn Konfliktländer beziehungsweise -regionen, in denen unterschiedlichste Konfliktursachen zur Eskalation geführt haben oder noch führen können. Arbour nennt als Ursachen etwa “organisiertes Verbrechen”, “politische Machtkämpfe”, “autoritäre Regierungsführung” sowie eine Reihe weiterer Elemente. Westliche Interventionen tauchen als Ursachen für die desolate Situation einer ganzen Reihe von Ländern nicht auf, obwohl die Autorin zum Beispiel Libyen auf ihrer “Top 10”-Konfliktliste aufführt. Libyen ist durch den NATO-Krieg des Jahres 2011 zerschlagen worden, es hat sich seitdem nicht wieder erholt. Nicht auf der von der DGAP publizierten Liste aufgeführt ist der Südsudan – ein Spaltprodukt geostrategisch motivierter westlicher Sezessionspolitik, das im Dezember in blutigen Kämpfen versunken ist. Arbour rechnet für dieses Jahr insbesondere mit der Verschärfung der Konflikte im russischen Nordkaukasus. Ernste Konflikte in dem Gebiet könnten Russland empfindlich schwächen.

Die “Top 10”-Konflikte
Die Fachzeitschrift “Internationale Politik”, die von der “Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik” (DGAP) herausgegeben wird, publiziert auf ihrem Web-Portal einen Beitrag über “Die Kriege des kommenden Jahres”. Der Beitrag ist ursprünglich am 30. Dezember in dem US-Blatt “Foreign Policy” erschienen. Er ist von Louise Arbour verfasst worden, einer ehemaligen UN-Hochkommissarin für Menschenrechte (2004 bis 2008), die seit 2009 als Leiterin der transatlantisch geprägten “International Crisis Group” fungiert. Ihr Beitrag befasst sich mit zehn Ländern beziehungsweise Regionen, in denen gefährliche Konflikte schwelen. Arbour zufolge können sie jederzeit eskalieren.

Die Vielfalt der Faktoren
Der Autorin zufolge veranschaulicht die Liste der Konfliktländer beziehungsweise -regionen, die nun auch die “Internationale Politik” zur Debatte stellt, “die Vielfalt von Faktoren, die zu Instabilität führen können”. Dazu zählen laut der Autorin “organisiertes Verbrechen”, “politische Machtkämpfe im Zusammenhang mit Wahlen”, “Bedrohungen durch Aufstände” sowie eine nicht näher erläuterte “Ausbreitung von Konflikten”. Auch “Spannungen zwischen den Zentren und der Peripherie” oder “autoritäre[…] Regierungsführung” können demnach zu Konflikten führen. Darüber hinaus räumt die Autorin ein, dass Konflikte tiefgreifende Ursachen, beispielsweise Unterentwicklung und Ungleichheit, haben können. Die tieferen Ursachen von Unterentwicklung und Ungleichheit hingegen bleiben in Arbours Beitrag ebenso unberücksichtigt wie westliche Interventionen. Das ist umso erstaunlicher, als sie vier Länder beziehungsweise Regionen nennt, die durch westliche Einmischung in Kriege beziehungsweise Bürgerkriege gestürzt wurden, und zwei weitere, in denen Aktivitäten des Westens – auch der Bundesrepublik – heftige innere Spannungen herbeiführten. Frei von schädlicher Einflussnahme aus dem Westen ist keines der aufgeführten “Top 10”-Konfliktgebiete.

Die Unschuld des Westens
Zu den zehn Ländern beziehungsweise Regionen, die Arbour auflistet, gehören zunächst Syrien und der Libanon, der Irak, Libyen und die Sahel-Zone. Der Krieg in Syrien ist in hohem Maße dadurch befeuert worden, dass fremde Staaten die sich schon bald bewaffnende Opposition von außen unterstützten und ihre Aufrüstung vorantrieben, entweder selbst oder über Verbündete wie Saudi-Arabien, Qatar oder die Türkei. An Warnungen davor, dass dies den Konflikt irreversibel eskalieren lassen könne und dass aufgrund der gesellschaftlich-religiösen Verhältnisse der Region mit einem Übergreifen des Krieges zumindest auf den Libanon zu rechnen sei, hat es nie gefehlt. Bei ihrer Analyse der Situation im Irak erwähnt Arbour mit keiner Silbe den westlichen Überfall von 2003; stattdessen schreibt sie die aktuellen Konflikte ausschließlich den – durchaus vorhandenen – innenpolitischen Missständen zu. Dasselbe gilt für Libyen: Dass der NATO-Krieg gegen die Gaddafi-Regierung den libyschen Staat zerschlagen hat, hält die Autorin ausweislich ihres Beitrages für völlig unerheblich. Allgemein bekannt ist, dass die Kämpfe im Norden Malis begannen, weil es die Zerschlagung des libyschen Staates Ethno-Cliquen und salafistischen Zusammenschlüssen ermöglichte, Waffenlager zu plündern und in der Sahel-Zone als Milizen aufzutreten. In Arbours Analyse wird dies nicht einmal als Auslöser der Kämpfe in Mali erwähnt.

Nicht erwähnenswert
Gänzlich unschuldig erscheinen die westlichen Staaten auch in Arbours Darstellung der Spannungen in Honduras und im Sudan; die beiden Länder werden in ihrer “Top 10”-Konfliktliste ebenfalls aufgeführt. Arbour räumt ein, dass in Honduras – einem der zehn Staaten mit der größten Ungleichheit weltweit – Armut und mangelnde Rechtsstaatlichkeit zu Spannungen und Gewalt führen. “Die Gewalt eskalierte, nachdem ein Staatsstreich 2009 Präsident Manuel Zelaya zu Fall brachte”, schreibt sie weiter. Zelaya wollte Honduras in ein Bündnis mit den Staaten des ALBA-Bündnisses um Venezuela und Bolivien führen, in dem der Bekämpfung von Armut ein hoher Stellenwert eingeräumt wird. Da ALBA im Westen außenpolitisch als unzuverlässig gilt, gab es weder in Washington noch in Berlin Einwände gegen den Putsch, der Honduras wieder aus ALBA löste. Im Gegenteil: Vorfeldorganisationen der deutschen Außenpolitik warben um Verständnis für den Staatsstreich, mit dessen Protagonisten sie eng kooperiert hatten (german-foreign-policy.com berichtete ). Arbour lässt die Rolle etwa der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung im honduranischen Putsch unerwähnt.

Schlechte Regierungsführung
Auch im Falle des Sudan hat, glaubt man dem von der “Internationalen Politik” publizierten Text, die vom Westen entschlossen geförderte Sezession des Südsudan nicht zu nennenswerten Konsequenzen geführt. So subsumiert Arbour etwa die Einstellung der Treibstoffsubventionen durch Khartum – eine Maßnahme, wie sie übrigens oft genug durch westliche Finanzinstitutionen wie den IWF gefordert wird – unter “schlechte Regierungsführung”. Erzwungen wurde der Schritt tatsächlich auch durch den Verlust von Einnahmen aus dem Ölexport: Drei Viertel der gesamtsudanesischen Erdölvorräte liegen unter südsudanesischem Boden; die auch von Berlin forcierte Abspaltung des Südsudan hatte Khartums Staatseinnahmen dramatisch geschmälert. Bemerkenswert ist, dass Arbours “Top 10”-Liste den Südsudan nicht enthält, dessen Abspaltung als ein Lieblingsprojekt auch der Berliner Afrikapolitik gelten kann. Der Versuch der Autorin, die eskalierenden Konflikte im Südsudan zu verschweigen, ist noch vor der Publikation ihres Beitrags dramatisch gescheitert: Die blutigen Kämpfe, die Mitte Dezember begonnen haben, haben mittlerweile bis zu 10.000 Todesopfer gefordert.

Implosion
Neben der Zentralafrikanischen Republik und Bangladesch listet Arbour unter ihren “Top 10” noch Zentralasien und den Nordkaukasus auf. Zentralasien bewege sich zur Zeit “immer weiter auf eine politische und sicherheitspolitische Implosion zu”, heißt es in dem von der DGAP veröffentlichten Text. Die fünf zentralasiatischen Staaten werden der unmittelbaren Einflusssphäre Russlands zugerechnet. Der Nordkaukasus – inklusive Sotschi -, den Arbour ebenfalls auf ihrer Liste führt, gehört zum russischen Staatsgebiet. Die Autorin räumt ein, dass es 2013 “mindestens 30 Terroranschläge in Südrussland” gab. Während sie den – auch vom BND mit Datenmaterial unterstützten – US-Drohnenkrieg gegen angebliche oder tatsächliche Terroristen in Pakistan nicht für einen “Top 10”-Konflikt und die westlichen Drohnenoperationen für nicht erwähnenswert hält, wirft sie Russland, das keine Killerdrohnen einsetzt, vor, mit einem “Rückgriff auf scharfe und überzogene Methoden” den Konflikt im Nordkaukasus zu verschärfen. Völlig unabhängig von der Frage, ob letzteres zutrifft, zeigt Arbours Doppelmoral vor allem eins: Das westliche Polit-Establishment, darunter die DGAP, legt sich Argumente zurecht, die nicht konsequent, sondern taktisch und gegen Russland eingesetzt werden. Dies lässt tatsächlich einen neu bevorstehenden Großkonflikt befürchten – womöglich um den Nordkaukasus