
Am 2. Oktober traten Experten für Nahostpolitik und Völkerrecht an die Öffentlichkeit. Auf der Bundespressekonferenz forderten sie eine „nahostpolitische Wende“.
Berlin (iz). Die Bundespressekonferenz am 2. Oktober 2025 widmete sich einem vielschichtigen und in Deutschland kontroversen Thema: Wie kann eine künftige deutsche Nahostpolitik abseits der bisher dominierenden Doktrin der „Staatsräson“ aussehen?
Die Initiatoren des Positionspapiers „Jenseits der Staatsräson“, eine breit aufgestellte Fachinitiative aus Experten für den Nahen Osten, VölkerrechtlerInnen sowie Praktikern aus Politik und Zivilgesellschaft, präsentierten ihre Analyse und Forderungen vor Presse und Öffentlichkeit.
Es sprachen Dr. Muriel Asseburg (SWP), Philip Holzapfel (bis Ende 2024 Nahostberater der EU-Kommission, Barcelona Centre for international Affairs) und Dr. Alexander Schwarz (Jurist, Fachmann für internationales Strafrecht).
Position der Experten: Einführung in das Positionspapier
Den Auftakt übernahm Dr. Muriel Asseburg, die die Beweggründe für die gemeinsame Initiative erläuterte: Angesichts der kriegerischen Eskalation im Nahen Osten der vergangenen Jahre sei es überfällig, die heutige Staatsräson-Doktrin kritisch zu überprüfen und neu zu justieren.
Die bisherige Auslegung entspreche weder den völkerrechtlichen Verpflichtungen noch deutschen Interessen an einer rechtsbasierten Weltordnung und einer handlungsfähigen EU.
Das vorgelegte Papier legt einen Katalog von zehn konkreten Handlungsempfehlungen vor. Drei zentrale Felder stehen im Mittelpunkt: strikte Orientierung an Völkerrecht und EU-Recht, ein umfassendes Verständnis historischer Verantwortung, sowie ein deutlich engagierteres Eintreten Deutschlands für einen Friedensprozess, der Selbstbestimmung und gleiche Rechte für beide Völker ins Zentrum rückt.
Asseburg betonte, dass die historische Verantwortung der Bundesrepublik sich primär auf den Schutz jüdischen Lebens und den Kampf gegen Antisemitismus beziehe, nicht auf eine Regierung.
Die Verpflichtung aus der Schoa sei universell und beinhalte ebenfalls eine herausgehobene Verantwortung für Menschenrechte und Völkerrecht. Daraus resultiere ebenso eine Mitverantwortung unseres Landes und Europas für das Geschick der PalästinenserInnen, die bis heute nicht eingelöst sei.
Konkret benannte Asseburg Maßnahmen wie ein Importverbot für Siedlungsprodukte und die Anerkennung Palästinas als Staat, um die stagnierende Zweistaatenlösung nicht nur rhetorisch, sondern ebenso praktisch voranzubringen.
Foto: Ashraf Amra/UNRWA
Realitätsverlust und Wahrheitsfindung
Philip Holzapfel hob die Problematik hervor, dass es im Kontext des Gazakriegs kaum unabhängige Überprüfbarkeit für Augenzeugenberichte aus dem Konfliktgebiet gebe:
Internationale Medienangehörige dürften seit zwei Jahren nicht mehr frei nach Gaza einreisen. Tausende getötete palästinensische JournalistInnen, UN-MitarbeiterInnen und HelferInnen seien in der öffentlichen Wahrnehmung bloß Zahlen geblieben, da ihnen, und auch den freien weltweiten Organisationen zur Untersuchung von Kriegsverbrechen, der Zugang systematisch verweigert werde.
Er kritisierte, dass sich die Bundesregierung mittlerweile in ihrer Nahostpolitik auf einen rein politischen Bekenntnisstandpunkt zurückziehe, während die umfassende Orientierung an Recht und Fakten – eine Kernkompetenz von Wissenschaft und Praxis – in den Hintergrund rücke.
Das Papier sei das Ergebnis eines breiten Expertenkonsenses, dem zufolge die Staatsräsondoktrin in ihrer aktuellen Form keinen Rückhalt mehr in der Fachcommunity genieße.
Völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Dimension
Dr. Alexander Schwarz rückte den juristischen Aspekt ins Zentrum. Er erinnerte daran, dass Deutschlands Grundgesetz, insbesondere Artikel 1 und 25, das Land zu Menschenrechten und internationalem Recht verpflichte – nicht nur im Inneren, sondern auch im Äußeren.
Exportgenehmigungen für Waffen, die in Konflikten mit schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht eingesetzt würden, seien nach Kriegswaffenkontrollgesetz und multinationalen Verträgen wie dem Waffenhandelsvertrag nicht zulässig. Das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom Juli 2024 habe eindeutig festgestellt, dass die israelische Besatzung in den Palästinensergebieten völkerrechtswidrig sei. Und dass Drittstaaten wie Deutschland keinerlei Hilfe leisten dürften – auch keinen Handel mit Siedlungsprodukten oder militärische Lieferungen.
Er kritisierte die fortgesetzten deutschen Rüstungsexporte an Israel als klaren Verstoß gegen diese Rechtslage. Die Unterstützung des IStGH und die Durchsetzung von Haftbefehlen gegen Regierungsmitglieder müssten künftig Teil einer authentischen Außenpolitik werden. Schwarz betonte, dass die Prinzipien der internationalen Strafjustiz – Gleichheit vor dem Recht unabhängig von der Person – die Glaubwürdigkeit Deutschlands und Europas als Verteidiger einer regelbasierten Ordnung auf dem Spiel stünden.
Foto: ICJ, via flickr | Lizenz:
Kontroversen und politische Debatte
In der anschließenden Frage- und Diskussionsrunde wurde deutlich, wie stark die aktuellen politischen Debatten über Staatsräson, historische Verantwortung und Nahostpolitik polarisiert sind. Es zeigte sich, dass auch innerhalb der Fachgemeinschaft und des Auswärtigen Amtes unterschiedliche Meinungen vorherrschten, sofern diese nach außen nicht immer artikuliert werden könnten.
Asseburg und Holzapfel erwarteten dennoch, dass die von ihnen angestoßene Debatte nicht nur im Bundestag, sondern perspektivisch auch in Regierungskreisen aufgegriffen werde. Einige Fraktionen hätten bereits intern begonnen, kritisch über die verengte Staatsräson zu diskutieren.
Auch die von Friedrich Merz Mitte August formulierte Skepsis an bedingungslosen Waffenlieferungen an Israel wurde angerissen. Die Experten verwiesen darauf, dass dies bislang jedoch keine grundsätzliche Kehrtwende, sondern bloß symbolische Einwände seien, da weiterhin bestehende Genehmigungen für Kriegsgeräte aus den Jahren zuvor aktiv blieben.
Strategische und internationale Konsequenzen
Im weiteren Verlauf betonten die Experten die massiven diplomatischen und strategischen Folgen aus der Fortführung einer rein staatsräsongetriebenen Politik: Die Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik als auswärtiger Vermittler und Verfechter von Menschenrechten leide. Insbesondere im Globalen Süden werde sie zunehmend als mitverantwortlich für das fortgesetzte Blutvergießen und das Scheitern einer echten Lösung des Nahostkonflikts gesehen.
So sei im Kontext der EU bereits das Assoziierungsabkommen mit Israel auf Eis gelegt worden. Mehrere Mitgliedsstaaten beriefen sich – anders als Deutschland – konsequent auf die Verletzung fundamentaler Vertragspflichten.
Foto: IMAGO/dts Nachrichtenagentur
Fazit: Forderung nach einer grundlegend neuen Politik
Die Pressekonferenz zeigte eindrücklich, wie weit der Konsens innerhalb der bundesdeutschen Fachcommunity inzwischen von der Politikpraxisd entfernt ist. Die Initiative „Jenseits der Staatsräson“ plädiert für eine deutsche Nahostpolitik, die sich nicht länger auf symbolische Solidaritätsbekundungen gegenüber Israel beschränkt, sondern völkerrechtliche, historische und strategische Interessen in den Mittelpunkt rückt.
Deutschlands internationaler Ruf, seine Glaubwürdigkeit und nicht zuletzt die eigenen Leitlinien von Menschenrechten und Rechtstaatlichkeit stünden auf dem Spiel, wenn die eigene Politik sich weiter im Widerspruch zum juristischen und moralischen Fundament bewege, das nach dem Nationalsozialismus mühsam errichtet worden sei.
Link zum Expertenpapier: https://staatsraison.net/