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Extremisten nicht mit „den Kurden“ gleichsetzen

Foto: VOA | Lizenz: gemeinfrei

(iz). Vor einigen Tagen verhafteten türkische Sicherheitskräfte mehrere Abgeordnete sowie führende Funktionäre der kurdisch-nationalistischen Partei HDP. Ihnen werden unter anderen „Terrorpropaganda“, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie weitere Straftaten zur Last gelegt. International, und namentlich in deutschen Medien, sorgten die zahlreichen Inhaftierungen für Aufsehen und provozierten politisch wie öffentlich zahlreiche Proteste.
Wir sprachen hierzu mi M. Erkut Ayvaz vom öffentlichen Thinktank SETA in Ankara. Ayvaz ist Experte für innenpolitische Fragen. Derzeit forscht er zu genau jenem Themenkomplex. Mit ihm sprachen wir über die offizielle Sicht der Dinge, Einlassungen des amtierenden Justizministers sowie das Meinungsbild der kurdischen Bevölkerung.
Islamische Zeitung: Was stellt sich der Sachverhalt der jüngsten Verhaftung von HDP-Parlamentariern aus Sicht der türkischen Justiz dar?
M. Erkut Ayvaz: Den 55 Politikern der kurdisch-nationalistischen HDP werden größtenteils Straftaten wie Terrorpropaganda und Mitgliedschaft einer Terrororganisation – nämlich der PKK – vorgeworfen. Die Gesamtzahl der HDP-Strafakten beträgt insgesamt 511.
Gegen die beispielsweise medial bekannten HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş seine Kollegin, die ethnische Türkin Figen Yüksekdağ, liefen bereits Ermittlungsverfahren wegen „Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“. Bei dem Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş beläuft sich die Zahl der aktuell gültigen Strafakten 93.
Generell kann gesagt werden, dass den HDP-PolitikerInnen und Abgeordneten größtenteils Straftaten wie Terrorismus, die Gefährdung des öffentlichen Friedens sowie die Gefährdung der nationalen Sicherheit zur Last gelegt wird.
Islamische Zeitung: Geht es um konkrete Vorwürfe krimineller Handlung oder richten sich die Maßnahmen gegen die HDP als Ganze?
M. Erkut Ayvaz: Es sind bis dato keine Maßnahmen gegen die HDP als Ganze vorhanden. Das juristische Prozedere wird gemäß des Prinzips individueller Straftaten vollzogen. Außerdem ist zu betonen, dass die Immunität aller 550 Abgeordneten in der Türkischen Nationalversammlung im vergangenen Mai aufgehoben wurde. Dementsprechend sind im Rahmen verschiedener Ermittlungsverfahren wegen diverser Anschuldigungen zahlreiche Politiker der AK Partei, der CHP und der MHP ebenso bei Staatsanwaltschaften vorgeladen worden.
Der Fraktionsvorsitzende der AK Partei, Bülent Turan, sowie der Vorsitzende der oppositionellen CHP, Kemal Kılıçdaroğlu und der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli hatten vor den Anklägern ausgesagt.
Trotz des Aufrufes der Staatsanwaltschaft hatte von den 55 HDP-Politikern lediglich der Abgeordnete Kadri Yıldırım aus Siirt vor der Staatsanwaltschaft ausgesagt. Alle anderen HDP-Politiker ignorierten diesen Aufruf der Anklagebehörde. Hier muss man sich die Frage stellen, wieso sich Abgeordnete der oben genannten Parteien sich der Befragung unterzogen, während HDP-Politiker diese Aufrufe ignorierten. Hier sieht man erneut die Willkür und Blockadehaltung dieser Partei, welche ihre oft betonte Dialogbereitschaft anzweifeln lässt.
Islamische Zeitung: Stimmt es, dass der türkische Justizminister behauptet hat, die „Türken in Deutschland“ hätten keine Rechte? Haben die deutschen Medien den Gehalt von Bozdags Aussagen korrekt wiedergegeben?
M. Erkut Ayvaz: Es stimmt, dass der türkische Justizminister sagte: „Wenn Sie ein Türke in Deutschland sind, haben Sie überhaupt keine Rechte.“ Dennoch wurde in deutschen Medien dieses Zitat aus dem Kontext gerissen.
Islamische Zeitung: Wenn ja, auf welche Erkenntnisse stützt sich der Minister dabei?
M. Erkut Ayvaz: Die Aussage des Justizministers stützte sich auch auf konkrete Beispiele. Zu diesen gehörte der NSU-Prozess, der seit 2011 noch nicht abgeschlossen ist und die Terrorzelle noch nicht aufgedeckt werden konnte. Bozdağ kritisierte zudem, dass bei der ersten Sitzung des NSU-Prozesses die Delegation der türkischen Botschaft nicht in den Prozessaal durfte.
Des Weiteren war die Aussage des Justizministers nicht nur auf Deutschland bezogen; hatte auch andere europäische Länder zum Inhalt. Dieses Detail wurde in den meisten deutschen Medien jedoch ausgeblendet. Dabei geht es um einfache Kritik der Migrations- und Integrationspolitik der entsprechenden Staaten. Beispielsweise ist es zudem bekannt, dass Bozdağ auch die doppelte Staatsangehörigkeit und die Doppelmoral der Bundesrepublik hinsichtlich der türkischen Migranten kritisiert.
Islamische Zeitung: Gibt es kurdische Stimmen, die den Sachverhalt anders sehen? Wie ist die dortige Meinungslage?
M. Erkut Ayvaz: Wie bereits betont, ist die kurdische Bevölkerungsgruppe sehr vielfältig und von einer generellen – und leider im Westen eher bevorzugten – Kategorisierung ist abzuraten. Die Tatsache, dass es auch AK-Partei-Funktionäre gibt, die kurdischstämmig sind, bedarf keiner permanenten Wiederholung.
Wenn man sich nun auch die aktuellsten Umfrageergebnisse anschaut, ist ein immenser Rückgang der HDP-Stimmen – insbesondere im Südosten der Türkei – festzustellen. Die HDP hat es nicht geschafft, sich von der terroristischen PKK zu distanzieren. Die menschenverachtenden terroristischen Aktivitäten der PKK, welche nicht nur die türkischen Sicherheitskräfte sondern auch die – kurdische – Zivilbevölkerung negativ getroffen haben, führte zu diesem aktuellen Ergebnis. Auch hier werden bestimmte Tatsachen aus der betreffenden Region in westlichen Medien verdreht.
Islamische Zeitung: Es wird ja oft suggeriert, als seien terroristische oder politische Bewegungen deckungsgleich mit „den Kurden“. Wie stellt sich eigentlich diese Bevölkerungsgruppe dazu?
M. Erkut Ayvaz: Zunächst sollte festgestellt werden, von wem genau diese ethnisch-nationalistisch-motivierte Argumentationsweise bevorzugt wird. Wie viele politische Themen in der Türkei beinhaltet auch diese Thematik sehr komplexe Ebenen, die aber leider zu sehr vereinfacht dem westlichen Leser vermittelt werden.
Betrachtet man die „kurdische Bevölkerungsgruppe“ in der Türkei, so wird beim genaueren Hinsehen deutlich, dass es sich hier nicht um eine politisch-ideologisch homogene Gruppierung handelt. Zwar ist zu beobachten, dass „kurdische Nationalisten“ – seien es säkular oder konservativ-islamisch gesinnte – seit einigen Jahren eher geneigt dazu sind, sich offenkundig mit der PKK-HDP-treuen Linie zu identifizieren. Dennoch sollten nicht alle „kurdischen Nationalisten“ diesem Lager zugeordnet werden. Auch innerhalb der HDP sind gewisse Fraktionen vorhanden, die den Terrorismus der PKK komplett ablehnen, währenddessen aber die meisten diese Taten nicht kritisch ablehnen.
Die Gleichsetzung aller kurdischen Gruppierungen in der Türkei wird jedoch insbesondere auch von generell linkspolitischen und sozialistischen Kreisen bevorzugt, da der „säkulare Charakter“ dieser Bewegungen „den islamisch-konservativen“ Alternativen vorgezogen werden. So ist beispielsweise wenig bekannt, dass auch politische Parteien in der Türkei existieren, die unabhängig von der HDP-PKK-Linie einen zum Teil separatistisch definierten sozialistischen oder aber auch „islamistischen“ Kurdisch-Nationalismus anstreben.
Ebenso ist zu betonen, dass zahlreiche „Kurden“ sowohl als Parteifunktionäre in der regierenden AK-Partei als auch als AKP-Abegeordnete in der Nationalversammlung vertreten sind. Namen wie die AKP-Vizevorsitzenden Mehdi Eker oder Cevdet Yılmaz aber auch sehr bekannte wie Orhan Miroğlu oder Mehmet Metiner machen keinen populistischen und instrumentellen Gebrauch von ihrem „Kurdentum“.
Unklar ist zwar, ob eine gewisse mediale Strategie oder politische Absicht hinter dem HDP-PKK-freundlichen Diskurs steckt, aber insbesondere westliche Medien und Politiker neigen permanent dazu, verschiedene kurdische Gruppierungen willkürlich auf das ethnisch bedingte nationalistische Element zu reduzieren und diese Vielfalt somit zu ignorieren. Diesem fatalen Fehler wird auch leider in Syrien und im Irak begegnet, wo die terroristische PKK und deren Ableger PYD/YPG gleichsetzend als „die Kurden“ generalisiert werden. Dieser Logik zufolge müssten DAESH-Terroristen mit „den Arabern“ gleichgesetzt werden, was selbstverständlich absurd wäre.
So sollte es vermieden werden, die kurdisch-nationalistische HDP oder die terroristische PKK mit „den Kurden“ gleichzusetzen, da somit andere kurdischstämmige Menschen in der Türkei, die primär nicht auf ihrer ethnisch definierten Identität bestehen, komplett ausgeblendet werden. Es ist leider üblich, die HDP mit 59 Sitzen im türkischen Parlament als größte politische Vertretung „der Kurden“ zu bezeichnen während die AKP mit 316 Sitzen im Parlament quantitativ viel mehr „kurdische Abgeordneten“ in ihren Reihen hat.

Ein Kommentar zu “Extremisten nicht mit „den Kurden“ gleichsetzen

  1. WAs für eine türkische Propaganda dieses Interview! Es vermittelt die offizielle staatlich-türksiche rasssitisch, verleugnerische Haltung gegenüber alles Kurdischem.

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