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Faszination Verschwörungsglaube: Warum ihm so viele folgen

Ausgabe 308

(iz). Wer an Verschwörungsmythen glaubt, muss verrückt sein. Wer glaubt, Angela Merkel sei eine Echse, Bill Gates trinke Kinderblut und einige jüdischstämmige Familien regierten im Geheimen die Welt, muss wirr im Kopf sein.

Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Nicht jeder, der an Verschwörungsmythen glaubt, ist psychisch krank. Warum aber geben sich diese Menschen den größtenteils völlig abstrusen Narrativen hin? Was ist es, was sie so fasziniert – oder sogar tiefe psychische Bedürfnisse befriedigt? Einige Wissenschaftler nennen es „Verschwörungsmentalität“.

So hat zum Beispiel die Psychologin Pia Lamberty eine Expertise heraus­gebracht, in der sie diese Theorie erklärt. Laut der „Mitte-Studie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahre 2018/2019 sind die Verschwörungsgläubigen in jeder Altersgruppe, jeder Schicht und unabhängig von der ethnischen Bildung ­vertreten.

Was die Menschen, die dem Verschwörungsglauben verfallen, jedoch gemeinsam haben, sind einige Faktoren, die ich im Folgenden aufzeigen werde. Die ­meisten der Befragten aus der FES-Studie schätzten ihre wirtschaftliche Lage schlechter ein, als sie tatsächlich war. Sie fühlten sich benachteiligt, obwohl sie es oft nicht waren. Außerdem fühlten sich die meisten Befragten politisch eher rechts oder rechtspopulistischen Diskursen zugehörig. Ein niedrigerer oder mittlerer Bildungsstand war ebenfalls ein ­Faktor für die erhöhte Empfänglichkeit für Verschwörungsglauben. Dennoch – Bildung ist kein Panzer, an dem Verschwörungsglaube abprallt. Die Beispiele dafür haben wir in letzter Zeit zur ­Genüge gesehen.

Laut Lamberty unterscheidet man in der Psychologie verschiedene politische Ideologien:

Soziale Dominanzorientierung: Dies zeigt, wie sehr Menschen von Hierarchien in der (politischen) Welt ausgehen und diese auch zur Orientierung für ihre ­eigene Stellung begrüßen.

Rechtsgerichteter Autoritarismus: Das bedeutet, dass Menschen dieser ­Ideologie Normen und Führungsper­­sön­lichkeiten brauchen, die sie kennen und ­denen sie folgen können. Menschen, die von dieser Weltanschauung abweichen, sind für sie Feindbilder. Traditionen und Unterordnung sind ihnen wichtig. (Beispiele für Feindbilder: Linke, Feministen)

Verschwörungsmentalität: Diese Form einer politischen Ideologie zeichnet sich aus durch eine generelle Tendenz, an Verschwörungen zu glauben. Während die anderen beiden Ideologien „nach unten treten“, um ihren eigenen Status quo zu wahren, tut diese Ideologie das nicht. Hier ist Gruppengefühl wichtig, ein gemeinsamer Feind, eine gemeinsame Verschwörungserklärung. „Eliten“ – die für alle möglichen angeblich übermächtige Menschenkollektive stehen können wie Juden, Mediziner, Politiker – seien verantwortlich für das Übel in der Welt und somit das Leid der Verschwörungsgläubigen.

Ein bedeutender Faktor für das vermehrte Aufkommen von Verschwörungsmythen ist das Internet. Durch individuell angepasste Algorithmen in den sozialen Netzwerken werden automatisch die Inhalte in Werbeanzeigen oder vorgestellten Artikeln wiederholt, die man vorher angesehen oder gesucht hat. So entstehen sogenannte Filterblasen, in ­denen die InternetnutzerInnen in einer eigenen digitalen und ideellen Welt verschwinden und auf Gleichgesinnte treffen. In dieser Welt scheint es, als ob alles nur noch so, wie es nun durch die Artikel, Videos und Links suggeriert wird, ­abläuft. Man muss sich nur in Impfgegner- oder Corona-Gegner-Gruppen einschleusen und einem wird weisgemacht, die Welt, wie man sie kennt, sei eine Lüge und die Wahrheit kennen nur diejenigen, mit denen man diese Filterblase teilt. So können immer radikalere Inhalte präsentiert, verbreitet und reproduziert werden.

In einem immer komplexeren, undurchsichtigeren Weltgeschehen fällt es manchen Menschen schwer, sich zu orientieren. Einfache Erklärungen für komplizierte Ereignisse oder Strukturen sind attraktiver als Eigenrecherche oder Selbstbildung. Situationen, über die man keine Kontrolle hat, führen zu Stressgefühlen und können schließlich in Depressionen enden. Um aus der Ohnmacht wieder herauszukommen und ein Gefühl der Macht zu erlangen, werden Muster gefunden, wo es keine gibt, Verknüpfungen hergestellt, wo keine sind und Feinde ­geschaffen, die keine sind – das ultimative Rezept für Verschwörungsnarrative. In dieser Sicht, in der es eine einfache ­Erklärung, feststehende Verantwortliche und keine Eigenschuld gibt, existieren keine Zufälle.

Ein Weltverschwörungsglaube ist ­geboren. Nun ist man Teil einer Gemeinschaft, man hebt sich von der Masse ab, man hat etwas, gegen das man kämpfen kann – und man hat ein Stück verloren geglaubte Kontrolle wiedererlangt. Der katholische Theologe Lutz Lehmhöfer nennt es „Entlastung durch Entlarvung“: Die eigenen Probleme aus der „Banalität des eigenen Alltags“ werden auf unbekannte Mächte verschoben, womit man sich selbst erhöht. Verschwörungsmythen sind „hyperrational“. Das heißt, es wird viel mehr Kalkül in Geschehnisse hineininterpretiert, als da ist, wenn es denn überhaupt Kalkül dort gibt.

Zu was völlig in Filterblasen lebende Menschen fähig sind, haben wir kürzlich in Washington, aber auch in Deutschland auf den Straßen immer wieder gesehen. Ein Beispiel dafür, was extremistischer Verschwörungsglaube anrichten kann, ist der Anschlag in Hanau, bei dem der Täter so in seiner Filterblase von Verschwörungsmythen versunken war, dass er seine eigene Realität geschaffen hat. Weitere Beispiele sind u.a. die Anschläge in Halle, bei dem der Täter ein antisemitisches Weltverschwörungsnarrativ verfolgte oder der in Christchurch, der an „den großen Austausch“ glaubte (die Verschwörungserzählung des „großen Austausches“,, wonach die „weiße Bevölkerung“ durch Migranten – vor allem Muslime – ersetzt werden soll).

Der Sozialpsychologie Robbie M. ­Sutton glaubt, dass Anhänger von Verschwörungsmythen psychologische Bedürfnisse befriedigen wollen, was letztendlich jedoch zum Scheitern verurteilt ist. Zu den Bedürfnissen zählt er:

1. „Epistemische“, also erkenntnisorientierte Bedürfnisse: nämlich ein stabiles, sicheres und einheitliches Verständnis von der Welt zu haben.

2. Existenzielle Bedürfnisse wie Sicherheit und Zugehörigkeit.

3. Soziale Bedürfnisse, also ein positives Selbstbild von sich und der eigenen Gruppe zu haben.

Da Verschwörungserklärungen jedoch keine „echte“ Wahrheit sind, sondern es nur vorgeben, können diese Bedürfnisse nur scheinbar befriedigt werden. Das Gegenteil ist die Folge. Wenn Verschwörungserzählungen die Funktion von Welterklärung einnehmen sollen, dann verunsichern Falsifikationen beziehungsweise wissenschaftliche Erkenntnisse, die ihrem Glauben widersprechen, die Anhänger in ihren Grundmauern. Andererseits sind Menschen, die tief verwurzelt in ihrem Verschwörungsglauben sind, oft gefeit gegen Kritik oder der „wirklichen Wahrheit“ mit dem Argument, wonach jeder, der etwas gegen die Verschwörungserklärung sagt, automatisch Teil der Verschwörer, also der Bösen, sein muss.

Dieses Argument nutzte auch Hitler, als er weiter festhielt an dem antisemitischen Pamphlet „Die Protokolle der Weisen von Zion“, obwohl es eindeutig eine Fälschung war. Die „Protokolle der Weisen von Zion“ sind ein antisemitisches Skript über eine angebliche jüdische Weltverschwörung, das Anfang des 20. Jahrhunderts in mehreren Auflagen und Sprachen verbreitet war. Der Inhalt aus „den Protokollen“ stärkte Hitler und seine Anhänger in ihrem Judenhass, selbst als sich herausgestellt hatte, dass das Pamphlet eine Fälschung des zaristischen Geheimdienstes war. Die Kritiker der „Protokolle“ seien laut Hitler selbst Teil der Verschwörung und somit sei die Falsifizierung (Fälschung) eigentlich eine Verifizierung (Bestätigung).

Seit den 1990er Jahren hat der anti­semitische Verschwörungsglaube mit dem Pamphlet wieder Konjunktur und wurde sogar von einigen Politikern der AFD als ernsthafte Quelle in Erwägung gezogen. Weltverschwörungen funk­tionieren nach demselben Prinzip, wobei „der Feind“ ersetzbar ist durch Reptilien, Muslime oder Aliens.

Eine weitere Gemeinsamkeit, die ­Verschwörungsanhänger aufweisen, ist laut Sutton die Eigenschaft, Muster und Deutungen in der Umwelt zu suchen oder eine Neigung zu paranormalen ­Erklärungen zu haben. Verschwörungsglaube betrifft also eher weniger Menschen, die rational und kritisch denken. Wie auch in der FES-Stiftung festgestellt wird, kommt Sutton zu dem Schluss, dass der Verschwörungsglaube eher mit einem weniger hohen Niveau von analytischem Denken und einer niedrigeren Bildung einhergeht.

Außerdem neigen eher Menschen zu Verschwörungsglauben, die soziopolitisch wenig oder keine Macht haben, sich ­sozial geächtet glauben und sich nach einem positiven Selbst- und Gruppenbild sehnen. Der Glaube an Verschwörungsmythen lässt also zu, dass die Menschen passiv für ihr eigenes Selbstbild sind, ­indem sie anderen die Schuld für ihre Misere geben und sich somit nicht selbst reflektieren müssen.

Sutton sagt, dass der Verschwörungsglaube auch mit einem Narzissmus einhergehen kann, was sich ausdrückt in einem verzerrten Selbstbild und einem Hang zu Paranoia. Mit dem Begriff „kollektiver Narzissmus“ bezeichnet Sutton das überhöhte Gruppenbild, das sich als etwas Besseres betrachtet, als „die Anderen“, denen sie negativ gegenüberstehen. Gruppen, die sich viktimisiert sehen, neigen eher dazu, Verschwörungsmythen über mächtige Gruppen von Strippenziehern zu bilden.

Der Glaube an Verschwörungsmythen sei nicht nur ein Symptom, sondern auch Ursache von Entfremdung und Unverständnis von der Sozialwelt. Eine solche Weltsicht verringere das Vertrauen an ­Regierungen und fördere Politik- und Wissenschaftsverdrossenheit. Sehr schnell können sich solche Gruppen auch radikalisieren und gegenseitig zu Handlungen anstacheln, die sie im Kampf ­gegen die vermeintlich „Bösen“ zu ­Gewaltexzessen führen können.

Schlussfolgernd sagt Sutton, dass ein Verschwörungsglaube eine selbstzer­störerische Form von motivierter Selbsterkenntnis ist.

Wenn ein Glaube an unbekannte Mächte, ein Bedürfnis nach Orientierung und eine Sinnsuche eine Verschwörungsmentalität ausmachen, worin unterscheiden sich dann Verschwörungsgläubige von Religionsanhängern?

Menschen, die die Fähigkeit entwickeln, mit den Ungewissheiten des Lebens gelassen umzugehen, weil man ihnen einen verborgenen Sinn zuschreibt oder daran glaubt, obwohl sie keinen Beweis dafür haben, besitzen die Kraft der sogenannten Kontingenzbewältigung.

Religion hat also eine zentrale Bedeutung im Umgang mit unerklärlichen Geschehnissen oder Ungereimtheiten. Für Lehmhöfer übernehmen Verschwörungsmythen die Funktion von Religionen in der Kontingenzbewältigung. Verschwörungserzählungen sind für ihn „schlecht säkularisierte Theologie“. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit hätten Erklärungen für negative Ereignisse immer ­einen religiösen oder abergläubischen Unterton gehabt. Seit der Französischen Revolution jedoch hätten sich diese ­Erklärungen der säkularisierten Welt angepasst und aus „dem Teufel“ als Verursacher allen Übels nun Menschengruppen an seiner statt als „das Böse“ platziert.

Verschwörungsglaube übernimmt die Funktionen von Religionen wie Gemeinschaftsbildung, Identitätsstiftung. Dabei bieten Verschwörungsmythen den Menschen ebenso wie Religionen eine „Entlastungsfunktion“ und Erlösung in Form von vermeintlichem Wissen. Der bekannte Philosoph Karl Popper nennt Verschwörungserzählungen eine säkularisierte Form religiösen Aberglaubens. In ihrer Funktion ähneln sie vor allem ­fundamentalistischen Strömungen von Religionen. Ein weiterer Vergleich zwischen Verschwörungsglauben und extremistischen Strömungen ist das Fehlen von Ambiguitätstoleranz, also der Fähigkeit, mehrere Meinungen und Erklärungen nebeneinander zu akzeptieren.

Verschwörungsglaube kann zur Weltanschauung werden, der entweder die Religionsfunktion ersetzt oder innerhalb von Religionen entsteht.

Gerade in der unruhigen Zeit, in der wir leben, ist es wichtig, sich mit dem Thema des Verschwörungsglaubens auseinanderzusetzen. Konspirative Erklärungen begegnen uns täglich in den sozi­alen Medien und werden teilweise auch in Gemeinden reproduziert. Manchmal ist es schwierig, Verschwörungserzählungen zu entlarven, da die Multiplikatoren solcher Theorien oft wissenschaftliche oder religiöse Jargons benutzen, um ­Menschen zu blenden.

Um zu recherchieren, ob die Theorie, die man eben gelesen hat, auch stimmt, kann man sich über Seiten wie „mimikama“ oder „Faktencheck“ darüber informieren. Gleichzeitig fällt es schwer, in der Recherche über Verschwörungsglauben nicht selbst in ein geschlossenes ­Erklärungsparadigma zu verfallen – denn „die Verschwörungsgläubigen“ gibt es nicht. Menschen verfallen aus unterschiedlichen Motivationen, über Gruppen, über falschen Umgang mit sozialen Medien oder einfach aus Verzweiflung dem Verschwörungsglauben. Oft reichen Gespräche oder Verweise auf seriöse Links, um einen Verschwörungsmythos zu entkräften. Im Umgang mit ­Menschen, an der jegliche Aufklärung und Kritik abprallen, sind oft Beratungsstellen oder Gespräche mit Experten eine Lösung.

Quellen
Lehmhöfer, Lutz: Reiz und Risiko von Verschwörungstheorien: Verschwörungen und kein Ende (2004). In: EZW-Texte 177; S.19-33.
https://ezw-berlin.de/html/119_2351.php
Lamberty, Pia: Verschwörungsmythen als Radikalisierungsbeschleuniger: Eine psychologische Betrachtung (2020). In: Expertisen für Demokratie. 
https://www.fes.de/forum-berlin/gegen-rechtsextremismus/artikelseite/neue-studie-verschwoerungsmythen-als-radikalisierungsbeschleuniger-1
Sutton, Robbie M. (u.a.): The Psychology of Conspiracy Theories. In: Association for Psychological Science (2017). 
Metzenthin, Christian (Hg.): Phänomen Verschwörungstheorien. Psychologische, soziologische und theologische Perspektive. Zürich: NRB/SEK, 2018. S. 9-17.

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