Frömmigkeit des Denkens

Ausgabe 270

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(Islamicate). „Wer nicht fragt, bleibt dumm“ gilt gleichermaßen für das Erlernen des Dins sowie für alles andere im Leben. Und doch gibt es zu oft – in Hinblick auf Tradition, Traditionalismus, ethno-kulturelle Sprechgewohnheiten oder andere beschränkte Diskurse – allgemein einen Mangel an einer Ethik das Fragens.

Aus dem einen oder anderen Grund unterwerfen wir uns ungefragt dem, was uns gesagt wird – wenn wir es nicht vorab schon tun. Nicht notwendigerweise, weil Dinge selbsterklärend sind, sondern weil wir annehmen, dass der Sprecher sein Metier kennt oder weil Dinge entweder schon immer so waren oder sein sollten. Unglücklicherweise führt dies zu einer distanzlosen Wahrnehmung. Deren ­Optik verschleiert oft unsere Sinne für die tiefe, wunderbare Natur eines jeden Phänomens, durch welches sich Allahs Eigenschaften enthüllen.

Es besteht zudem eine vorherrschende Furcht, dass wir, wenn wir zu viele Fragen stellen, die Büchse der Pandora öffnen könnten. Demnach würde eine Frage auf die nächste folgen und – bevor man sich versieht – scheinbar eine Dampfwalze losgelassen. In diesem Szenario droht diese, allgemein anerkannte Annahmen voll tiefster Bedeutungen in Frage zu stellen und aufzulösen. Demnach wären wir weder spirituell, noch intellektuell vorbereitet, um mit den Folgen fertig zu werden. Und so entwickelte sich verständlicherweise eine vorbeugende Verteidigung im Namen eines Schutzes vor Fragen. Das sperrt uns in einer weit verbreiteten Kultur des Lernens ohne Prüfung der Integrität des Erlernten ein.

Alles im Qur’an Gelehrte legt uns nahe, dass wir dadurch lernen können zu denken und zu fragen. Ich würde sogar behaupten, dass dies ein Weg zur Rechtleitung ist. So können wir Wahrheit von Falschheit, Tugend von Verderbnis, Gerechtigkeit von Tyrannei, Ethik von Heuchelei unterscheiden. Ein wichtiges Beispiel dafür ist, dass Allah es sogar den Engeln erlaubte, Ihn zu befragen, warum Er, der Allerhöchste, den Menschen auf die Erde schickte, da dieser Unheil und Blutvergießen verbreitet.

Wir müssen uns hier natürlich beim Lesen des Qur’an bewusst machen, dass Allah göttlich ist. Er spricht mit uns auf einer Ebene, die wir verstehen können. Allah verwendet Redeformen, um den Zuhörer/Leser zu befragen. Schließlich haben Menschen eine profunde Psychologie, wenn es sich um Fragestellungen handelt. Für den Anfang zwingen uns Fragen zur Entgegnung. Sie beteiligen uns auch. Allah spricht zum Leser. Durch diese Fragen können wir eine Beziehung zu Ihm entwickeln. Vor allem aber lädt Allah uns durch das Fragen im Qur’an zur Selbsterkenntnis ein. Und anhand dieser können wir mit Filtern, mit denen wir die Welt sehen und Informationen verarbeiten, umgehen oder sie überwinden.

Darüber hinaus bedeutet dies auch, dass der Qur’an nicht nur jene Bedeutungen enthält, mit denen wir vertraut sind oder die uns von Autoritäten überliefert wurden. In Letzteren findet sich oft ein recht vielfältiges Meinungsbild. Ein gutes Beispiel dafür ist das Verständnis des Wortes „Dukhan“ (Al-Fussilat, 11). Normalerweise wird es mit „Rauch“ übersetzt; etwas, das frühe Muslime sicherlich nachvollziehen konnten. Wir können das Wort aber auch mit wissenschaftlichen Theorien über den Urknall zu Beginn des Universums in Verbindung bringen. Ein Konzept, das es in früheren Zeiten noch nicht gab. Offenkundig können wir das zu schätzen wissen, wenn wir die richtigen Fragen stellen.

Doch das Fragen ist nur ein Teil der Sache. Um etwas von ihm zu erlangen, brauchen wir normalerweise jemanden, der entgegnen kann. Und zwar auf eine Art und Weise, welche die Frage so nachhaltig wie möglich zu beantworten vermag. In dieser Hinsicht sollten wir – worauf viele Gelehrte verweisen – unsere Religion nicht unkritisch von irgend jemandem übernehmen. Immerhin ist dies ein Zeitalter der „Da’wa-Leute“, Fernsehprediger und Aktivisten in Sozialen Medien. Sie haben Tausende Mitläufer angehäuft. Und sie möchten ihre Meinungen zu jeder aktuellen Frage in den Medien verbreiten.

All das kann eine Garantie für Verwirrung sein. Ein Gelehrter riet einmal, man solle von niemandem die Religion nehmen, dessen Intelligenz man nicht geprüft hat. Ein weiterer Rat lautete, wir sollten die Wissenden und Weisen wählen, welche die Autorität zur direkten Lehre haben. Oder es könnte auch sein, dass multiple Perspektiven bestehen, die auf ihre eigene Art und Weise zu einer Beantwortung der Frage hinführen. Sie haben aber die Neigung, den Fragenden mit der Versöhnung alleine zu lassen. Obwohl es manchmal eine gewisse Art von neugierigem Verstand geben wird, der eine Zusammenführung versucht, werden die Leute meist den Weg des geringsten Widerstands gehen. Hier kann der Maßstab oft sehr niedrig angesetzt werden, was in sich ebenfalls problematisch werden kann.

Auch die Propheten stellten Fragen. So bat Ibrahim, Friede sei mit ihm, beispielsweise: „Mein Herr, zeig mir, wie Du den Toten Leben gibst!“ Hierauf entgegnete Allah: „Glaubst Du denn nicht?“ Die Antwort Ibrahims ­lautete: „Ja, aber ich frage, damit mein Herz zur Ruhe kommt.“

Auch die Gefährten des Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, wollten Dinge von ihm wissen, um bestimmte Dinge zu klären. Gelegentlich antwortete ihnen der Prophet, indem er selbst eine Frage stellte. So sollten sie genauer nachdenken. Ein Beispiel, das ich unglaublich bedeutungsschwer finde, ist das Nachtgebet des Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben. Er stand so lange im Gebet, bis ihm die Füße anschwollen. Die edle ’A’ischa, möge Allah mit ihr zufrieden sein, wollte von ihm wissen: „Warum tust Du das (…), obwohl Allah Dir Deine vergangenen und zukünftigen falschen Taten vergeben hat?“ Der Prophet stellte eine Gegenfrage: „Soll ich denn kein dankbarer Sklave sein?“ Er verstand die eigentliche Natur der Erkundigung und die Notwendigkeit, die Erkenntnis seiner Gattin zu öffnen, sodass sie selbst die Verbindung zwischen Dankbarkeit (arab. Schukr) und Gebet (arab. Salat) entdecken konnte.

Es ist überhaupt nicht überraschend, dass das Fragen und der forschende Ansatz uns in der akademischen Welt und später im Berufsleben eingehämmert werden. Ich kann mich daran erinnern, wie die Aufgabe zum Nachweis des Satzes des Pythagoras dazu führte, dass wir Rechtecke ausschnitten, um ihre ­Fläche zu messen. Das Wort unseres Lehrer hat nicht gereicht. Das ist keine Skepsis um ihrer selbst willen, sondern es geht in Nachfolge der qur’anischen Lehren um das richtige Fragen. Das Nachfragen erlaubt uns die Schaffung größerer Ordnung und effektiver Prioritäten. Tatsächlich leistet es an sich ­großen Dienst bei der Herausfilterung der Massen an schwachen oder schädlichen Vorstellungen.

Einige argumentieren gegen das Stellen unnützer Fragen mit folgendem Qur’anvers: „Oh, die ihr glaubt, fragt nicht nach Dingen, die, wenn sie euch offengelegt werden, euch leid tun.“ (Al-Ma’ida, 101) Aber dieser Vers des Qur’an bezieht sich auf die Sinnlosigkeit des unnützen Fragens. Es dient bloß der Haarspalterei oder der Erschwernis von Dingen. Der Anlass seiner Herabsendung (arab. Asbab An-Nuzul) ist recht klar. Der Prophet wollte die Hadsch nicht zur jährlichen Pflicht machen und dieser Vers bekräftigte seine Position. Wir müssen einfach nur auf die haarspalterischen Detailfragen zur Glaubens- oder Normenlehre schauen, die uns häufig begegnen. Zu allen Zeiten haben sich Gelehrte dagegen ausgesprochen. Sie haben im Gesamtbild nur geringe Bedeutung. Selbst in der höheren Lehre lassen sie sich niemals auf diese oder jene Art beweisen.

Es scheint so zu sein, dass wir uns inmitten einer sich ändernden Welt mit Religion auf eine Weise beschäftigen, die sie von unserer weiteren Lebenserfahrung trennt. Ich frage mich, wie viel davon darin begründet ist, dass wir die falschen Fragen stellen. Haben wir eine Kultur geschaffen, in der Menschen ruhig gestellt werden, die etwas wissen wollen? In der sie als „herausfordernd“, „destruktiv“, „modernistisch“ oder „unorthodox“ gelten? Es ist ja nicht so, dass solche, die häufig derartige Etiketten vergeben, sich die richtigen Fragen stellen, um ein ganzheitliches Funktionieren von Frage und Bedeutung zu gewährleisten. Ist das der Grund, warum wir ausgetretene Pfade vorziehen, die am wenigsten unseren Geist beanspruchen? Muss es wirklich so sein? Ist das wirklich das Erbe ­islamischer Gelehrsamkeit?