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Gedanken zur muslimischen ­Gemeinschaft

Ausgabe 289

Foto: DMG/IGD

(iz). Interessierte an der muslimischen Community in Deutschland beobachten seit einer Weile eine Debatte, bei der es um einen „deutschen Islam“ geht und wie er aussehen könnte. Interessant ist, dass diese öffentliche Debatte von Herrn Staatssekretär Kerber, dem Verantwortlichen im Innenministerium für die Deutsche Islamkonferenz, angestoßen wurde. Schade ist, dass einige das als Anlass nehmen, mit muslimischen Religionsgemeinschaften abzurechnen. Das wird zum Teil mit persönlichen Angriffen garniert. Das heißt nicht, dass Kritik nicht erwünscht ist, nur wie man in den Wald hineinruft, so schallt es für gewöhnlich auch heraus. Diese Vorgehensweise schadet einer sachlichen Auseinandersetzung und bringt niemanden weiter.

Innerhalb der muslimischen Community gibt es eine Diskussion um die Begrifflichkeit „deutsche Muslime“ schon lange. Doch diese wurde im direkten Austausch und nicht in der Öffentlichkeit über diverse Medien geführt. Zum Selbstverständnis der Muslimischen Jugend in Deutschland (MJD) gehörte der Slogan: #jung #muslimisch #deutsch von Beginn an zum Selbstverständnis. Bereits 2002 erhielt sie von Dr. Christine Bergmann, der damaligen Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend den Heinz-Westphal-Preis für ihre Arbeit, weil sie sich genauso positioniert hatte. Es war in der MJD schon immer klar, dass ihre Mitglieder deutsche Muslime sind, was auch in den unterschiedlichen Gesprächen und Projekten mit Partnern artikuliert wurde. Außerdem war die MJD nicht die einzige Institution, die sich mit diesem Thema auseinandergesetzt hat. In einer der ersten Zeitschriften von Muslimen in Deutschland, der Al-Islam und auf den TdM’s, den Treffen deutschsprachiger Muslime, die regelmäßig seit den 70er Jahren bis fast 2005 stattfanden, hat es ebenfalls diverse Diskussionen diesbezüglich gegeben. Heute finden diese beim Islamleben und anderen deutschsprachigen Events von Muslimen und neuerdings über soziale Medien statt. Wer hierüber in Kenntnis ist, wird nicht behaupten, diese Diskussion angestoßen zu haben.

In der Deutschen Muslimischen Gemeinschaft (DMG) ist vor einigen Jahren ein Prozess gestartet worden, bei dem es um das eigene Selbstverständnis geht. Die Mitgliederstruktur hat sich im Laufe der Jahre signifikant geändert, so wie das auch bei vielen anderen muslimischen Religionsgemeinschaften der Fall ist. Die Mehrheit der Mitglieder sind in Deutschland geboren oder schon so lange in Deutschland, dass sie sich diesem Land verbunden fühlen. Im Rahmen dieser Diskussion ist mit allen Mitgliedern eine neue Vision formuliert worden: „Muslimisches Leben ist ein bereichernder Teil der deutschen Gesellschaft“. Der Name ist Ende 2017 von der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland in Deutsche Muslimische Gemeinschaft geändert worden. Dies ist in der 60-jährigen Geschichte der DMG eine Zäsur. Damit soll in die muslimische Community hinein aber auch in die Mehrheitsgesellschaft eines der Ergebnisse dieser Diskussion, nämlich die Verortung in Deutschland, dokumentiert werden. Auch die Entwicklung neuer oder überarbeiteter inhaltlicher Positionen soll damit zum Ausdruck gebracht werden. An diesen wird aktuell noch gearbeitet.

Herr Kerber hat nun nicht von „deutschen Muslimen“, sondern von einem „deutschen Islam“ gesprochen. Es wäre in dem Zusammenhang sicher interessant, ob es Begrifflichkeiten wie „deutsches Christentum“ oder „deutsches Judentum“ gibt. Eine zugegebenermaßen oberflächliche Google-Suche führt auf Seiten, die von „Deutschen Christen“ betrieben werden. Gemäß Wikipedia ist diese Strömung rassistisch, antisemitisch und am Führerprinzip orientierten und fühlt sich dem deutschen Protestantismus angehörig. Außerdem finden sich auch Artikel, die sich mit der „Germanisierung des Christentums“ und den Verflechtungen von Protestantismus und Nationalismus im Kaiserreich und der Weimarer Republik beschäftigen. Die Bilder zu der Suche lassen einen erschauern. Etwas Ähnliches hat Herr Staatssekretär Kerber bestimmt nicht gemeint.

Sucht man nach dem „deutschen Judentum“ fällt der Link zu einem Tagungsband mit den Namen „Was war deutsches Judentum? 1870 -1933“ auf. Also scheint es eine ähnliche Diskussion wie um die Begrifflichkeit „deutscher Islam“ bzgl. des Judentums existiert zu haben. Interessant ist auch der analysierte Zeitraum, da es sich um die Zeit vor dem Nationalsozialismus handelt. Es geht zum Teil um ein „hyperassimiliertes Reformjudentum“, die Integration von unterschiedlichen politischen und theologischen Strömungen sowie die „Rolle der Juden in der deutschen Kultur“. Diskutiert wird beispielsweise inwiefern jüdische Künstler deutsche Kultur einfach adaptierten oder ihre Werke eine Mischung von Einflüssen aus Mehrheits- und Minderheitskultur aufweisen würden. Auch wurde in der Tagung thematisiert, dass „trotz Emanzipation und Assimilation den Juden viele Teilbereiche der Gesellschaft durch faktische Diskriminierung verschlossen blieben“. Alles Muster, die auch aus dem Diskurs um die Muslime in Deutschland heute stammen könnten. Die Warnungen, dass eine Ähnlichkeit zwischen der Diskriminierung der jüdischen Community vor dem Nationalsozialismus und dem Rassismus, dem Muslime heute ausgesetzt sind, werden schon länger von Experten geäußert. Es lohnt sich daher, die Situation der jüdischen Community in der beschriebenen Zeitspanne näher zu betrachten, um daraus für uns heute zu lernen. Heißt die Beschäftigung mit einem „deutschen Judentum“, dass dieses sich von einem „französischem Judentum“ unterscheidet? Eine Frage, die erst einmal unbeantwortet bleibt.

In einem Vortrag von Herrn Aries, einem Wissenschaftler am Center for the Interdisciplinary Research on Religion and Society der Universität Bielefeld, der vor über 20 Jahren gehalten wurde, hat von der Geschichte einiger Minderheiten in Deutschland gehandelt, die erst „akzeptiert“ worden sind, nachdem sie sich assimiliert hatten. Am Ende hätte nur noch der „nicht deutsche Name“ an die Migrationsgeschichte der jeweiligen Person erinnert. Als Beispiel hat er die Immigration aus Polen vor dem 2. Weltkrieg erwähnt. Außerdem erinnert das Hin und Her um einen „deutschen Islam“ an die 10 Jahre alte Diskussion, um die Schaffung eines sogenannten Euro-Islam. Es ging um unterschiedliche Glaubenspraxen, die nicht mehr zeitgemäß und im Sinne eines Euro-Islam abzuschaffen wären. Einige sogenannte Islamkritiker fordern das auch heute. Die diversen Debatten um Verbote muslimischer Religionspraxis bei klein und groß bieten genug Beispiele hierfür. An der Diskussion um einen „deutschen Islam“ ist interessant, dass die Entwicklung einer europäischen Identität nahezu keine Rolle zu spielen scheint. Wo ist die Idee Europas geblieben? Ist dies der Krise geschuldet, in der Europa aktuell steckt? Offensichtlich hat der insbesondere von rechten Kreisen initiierte Diskurs um die Rückbesinnung auf das Nationale die europäische Dimension unserer Identitäten zurückgedrängt. Es wäre schade, wenn dieser gesellschaftliche Diskurs verschwindet. Hoffnung machen Jugendliche mit #FridaysforFuture, da sie verstanden zu haben scheinen, dass die weltweiten Herausforderungen größer als einzelne Nationalstaaten sind. Jedoch ist die Schicksalsgemeinschaft für eine Idee Europas nicht genug. Es muss deutlicher herausgearbeitet und ein gemeinsames Mindset entwickelt werden. Was genau macht Europa aus?

Dann gibt es Stimmen, die vor einer Re-Ethnisierung der Muslime bzw. der muslimischen Religionsgemeinschaften in Deutschland warnen. In dem Zusammenhang fallen manchmal Begriffe wie „Identitäre“ oder nationalistische Strömungen. Eine deutsche Ethnisierung des Islams scheint für die gleichen Personen aber kein Problem zu sein? Jede Ethnisierung ist erst einmal kritisch zu betrachten. Wo ist sie mit islamischen Werten vereinbar und wo eben nicht? Wir kennen aus der Geschichte des Islams und hier insbesondere der Zeit des Propheten Muhammad sowohl negative wie auch positive Beispiele für die Rolle der Ethnie, die bei der Beantwortung dieser Frage hilfreich sind.

Wie eingangs erwähnt, ist im Rahmen des Diskussionsprozesses um das Selbstverständnis der DMG im Jahr 2013 die Vision der DMG verabschiedet worden: „Muslimisches Leben ist ein bereichernder Teil der deutschen Gesellschaft“. Wer an solchen Diskussionen teilgenommen hat, weiß, wie in einem solchen Prozess um Begrifflichkeiten gerungen wird. Die Entscheidung für „muslimisches Leben“ und nicht etwa für „deutscher Islam“ oder auch „deutsche Muslime“ ist nach intensivem Austausch gefallen. „Muslimisches Leben“ umfasst das tägliche Leben der Muslime in all seinen Dimensionen am besten. Weder ist es ethnisiert und damit nicht ausschließend für all jene, die nichts mit einer Ethnisierung anfangen können oder noch nicht lange in Deutschland sind. Noch ist es theoretisch, denn im Leben manifestiert sich die gelebte Praxis der Muslime, die religiöse und die profane. Es beinhaltet ebenfalls sowohl die Individuen und ihre Lebenspraxis als auch die vielfältigen Strukturen der muslimischen Community. Die Verortung in Deutschland findet sich in der Fortführung der Vision.

Schauen wir uns die Lebenspraxis von Muslimen in den unterschiedlichen Ländern dieser Welt an, so finden wir Aspekte des Glaubens, die überall gleich sind, aber auch regionale Unterschiede. Weil der Nationalstaat deutlich jünger ist, als die Geschichte des Islams, heißt es jedoch nirgendwo indonesischer, thailändischer, südafrikanischer, syrischer oder französischer Islam. Das gilt im Übrigen auch für andere Religionen. Da wären zum Beispiel die Glaubensprinzipien, dem Glauben an den einen Gott, die Existenz der Engel, die offenbarten Bücher, die Propheten, an die Vorherbestimmung und den jüngsten Tag oder die 5 Säulen des Islams zu nennen. Diese sind überall gleich. In allen Ländern dieser Welt sprechen Muslime das gleiche Glaubensbekenntnis, beten fünfmal am Tag oder fasten im Ramadan. In den Details dieser glaubensdienstlichen Handlungen kann es jedoch regionale Unterschiede geben. Dass diese von Raum und Zeit abhängen, ist keine neue Erkenntnis, sondern eine seit Jahrhunderten bekannte Regel und Praxis. Die Handlungen sind aber nicht von nationalstaatlichen Grenzen abhängig, wie die Begrifflichkeit „deutscher Islam“ suggeriert.

Die Strukturen, in denen Muslime in den unterschiedlichen Ländern organisiert sind, variieren stark. Da es in der muslimischen Praxis keine Kirche gibt, hat es auch nie eine Organisationsform gegeben, die alle Muslime in einem Land zusammenbringt. Jedoch gab und gibt es innerhalb von Ländern Gemeinschaften und Zusammenschlüsse, in denen insbesondere muslimische Gelehrte oder auch Persönlichkeiten eine Rolle gespielt haben. Zum Teil waren sie von dem jeweiligen Staat finanziert bzw. mit ihm verbunden oder über Stiftungen unabhängig. In der Regel geht es in diesen Institutionen auch um die Lebenspraxis von Muslimen. Es existiert jedoch kein Modell, welches einer kirchlichen Struktur entspricht und in dem alle Muslime eines Landes vereint sind.

Was bedeutet das für die Muslime und ihre Lebenspraxis in Deutschland oder besser in Europa? Gibt es signifikante Unterschiede innerhalb Europas oder sind die Fragen, die Muslime beschäftigen, ähnlich oder gar identisch? Wer sich mit diesem Thema beschäftigt, wird feststellen, dass zumindest in den Ländern Europas, in denen die Bevölkerungsstruktur ähnlich ist, auch ähnliche Herausforderungen bestehen. Seit Jahren wird beispielsweise unter den Muslimen in Europa diskutiert, wann der Beginn von Ramadan und wann das Ende und damit das Fest des Fastenbrechens ist. Die ältere Generation hat sich an ihren Heimatländern oder einem anderen Referenzland orientiert. Weil die Immigrationsgeschichte und damit die Herkunft der Muslime in die einzelnen Länder unterschiedliche sind, ist das Bild entsprechend vielfältig. So finden wir beispielsweise je nach Referenzpunkt Moscheegemeinden, welche die sich an Marokko und andere die sich an der Türkei oder Saudi-Arabien orientieren. Es kann also passieren, dass die eine Gemeinde am Montag und andere muslimische Gemeinde in der gleichen Stadt am Dienstag das Fest des Fastenbrechens feiert. Es ist aber festzustellen, dass ein Emanzipationsprozess von den Heimatländern stattfindet. Immer mehr insbesondere junge Muslime fordern von ihren Religionsgemeinschaften Selbstbestimmung und eine europäische Verortung. Der Koordinationsrat der Muslime in Deutschland hat zumindest für die ihm indirekt angeschlossenen Gemeinden bzgl. der muslimischen Feiertage Einheitlichkeit geschaffen.

Eine andere Frage beschäftigt sich beispielsweise damit, ob es zulässig oder sogar Pflicht ist, die Zakah, eine Pflichtabgabe auf Besitz und Einkommen, in Europa bzw. Deutschland zu zahlen und nicht über die unterschiedlichen Hilfsorganisationen an arme Muslime in Ländern mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung zu überweisen. Zusätzlich zu den Fragen der religiösen Normen werden auch Dinge diskutiert, die philosophisch moralischer oder gesellschaftlicher Natur sind. Ein Beispiel wäre unsere Verantwortung als Menschen gegenüber der Schöpfung, also unserer Umwelt. Es gibt Diskussionen innerhalb der muslimischen Community über die Notwendigkeit einer Balance zwischen Kapital und Umwelt oder der Entwicklung eines Freiheitsbegriffs, der zwischen den Pflichten und Rechten des Einzelnen und denen der Gesellschaft einen Ausgleich herstellt. Was ist mit Rassismus innerhalb der Community gegenüber zum Beispiel dunkelhäutigen Muslimen oder Juden. Warum gibt es so viele Beispiele aus den islamischen Quellen, die jedweden Rassismus ablehnen, jedoch finden wir sie immer wieder in der Realität. Welche Antworten gibt es zu diesen Fragen bzw. was finden wir dazu in den muslimischen Quellen oder Geschichte und was können wir daraus lernen, um Beiträge zu gesellschaftlichen Diskussionen von Muslimen zu formulieren. Der ein oder andere wird sich fragen, warum in muslimischen Quellen suchen. Einige der islamwissenschaftlichen Fragestellungen, wie der Fastenzeit, bedingen es, in diesen zu suchen. Bei anderen, wie zum Beispiel den Themen Umweltschutz oder Freiheit, wird die Suche helfen, Positionen zu entwickeln, die insbesondere für einen Teil der muslimischen Community ein zusätzliches Argument sind und möglicherweise neue Aspekte in Debatten einbringen. Manche dieser Fragen haben ausschließlich europäischen Charakter und andere können Beiträge in einem Diskurs sein, der international eine Rolle spielt. Manche betreffen in erster Linie die muslimische Community und andere die gesamte Gesellschaft.

Ein zweites großes Feld ist die Frage von muslimischer Infrastruktur. Die Geschichte Europas hat unterschiedliche Modelle von Demokratien und von Beziehungen des Staats und insbesondere den christlichen Religionsgemeinschaften geführt. Vom laizistischen Modell in Frankreich, das eine strikte Trennung von Kirche und Staat vorsieht, über das anglikanische Modell, in dem die Königin Oberhaupt der Kirche und des Staates ist oder dem griechischen Modell, in dem das Christentum die in der Verfassung verankerte Religion ist bis zu unserem deutschen Modell, in dem eine Symbiose zwischen Kirche und Staat stattgefunden hat, findet sich eine große Bandbreite. Zusätzlich gibt es in osteuropäischen und insbesondere den Balkanländern Lösungen, die auf dem osmanisch-muslimischen Modell einer durch Stiftungen getragenen Institution von Gelehrten beruhen. Nicht selten geht es um Einfluss auf bzw. die Unabhängigkeit sowie Eigenständigkeit der Religionsgemeinschaften. Da es, wie bereits erwähnt, innerhalb der islamischen Geschichte keine kirchenähnliche Struktur gibt, stellt sich die Frage, warum die Lösungsansätze für Deutschland in das bestehende Kirchenrecht hineingepresst werden sollen und nicht neue Modelle entwickelt werden. Hilfreich können für die muslimische Community Erfahrungen aus Ländern sein, die eine ähnliche Migrationshistorie und Bevölkerungsstruktur wie die Muslime in Westeuropa haben. Südafrika ist ein Beispiel, von dem wir sicher lernen können.

In jedem Fall, ob es um Inhalte oder Struktur geht, sind Muslime und die Gesamtgesellschaft schon länger in einem Findungsprozess. Da gesellschaftliche Prozesse Zeit brauchen und komplexe Fragen nicht von heute auf morgen beantwortet werden können, werden uns die nächsten Jahre diese Themen beschäftigen. Diese Diskussion könnte jedoch viel fruchtbarer ablaufen, als sie heute geführt wird. Zum einen, weil in den seltensten Fällen auf Augenhöhe agiert wird. Es existiert eine Asymmetrie der unterschiedlichen Diskutanten, die sich immer wieder in Vorgaben gegenüber den muslimischen Religionsgemeinschaften zeigen, selbst wenn mit diesen gegen das Grundgesetz verstoßen wird. Bestes Beispiel hierfür ist der islamische Religionsunterricht. Zum anderen wird bei der Suche nach Lösungen zu wenig zugehört und Verständnis für die Position des Gegenübers aufgebracht. Zum ändern müssen auch die bestehenden muslimischen Religionsgemeinschaften selbstkritisch ihre Geschichte aufarbeiten und aus ihren Fehlern lernen. Zusätzlich erleben wir seit Jahren einen Anstieg von populistischen und rechten Positionen, die sich in einer immer weiter verbreiteten Islamfeindlichkeit und antimuslimischem Rassismus in ganz Europa manifestiert. Erfreulich ist diesbezüglich, dass es eine Gegenbewegung gibt, die sich diesem gesellschaftlichen Gift entgegenstellt. Von daher ist nicht verwunderlich, dass diese Gemengelage den Diskussionsprozess erschwert und wir im Gesamten nicht schneller vorankommen, auch wenn dies wünschenswert wäre.

Bei der Begriffssetzung „deutscher Islam“ schwingt die Erwartung der Zugehörigkeit und Loyalität zu Deutschland mit. Diese Frage aufzuwerfen ist verständlich und berechtigt. Wie ist das Zugehörigkeitsgefühl der Muslime zu diesem Land. Inwieweit zeigt sich in der Praxis die Bereitschaft der muslimischen Community sich für Deutschland und seine Gesellschaft einzusetzen und bereichernd zu sein. Betrachten wir den Bereich Kunst und Kultur, so werden insbesondere in den letzten Jahren immer mehr Beiträge von Muslimen geleistet. Navid Kermani ist in diesem Zusammenhang nur einer von vielen. Auch was unsere Essenskultur angeht, gibt es bereits Beiträge. Wenn der Döner das liebste Fast-Food Essen des Deutschen ist, dann ist auch dies ein bereichernder Beitrag. Muslimische Religionsgemeinschaften organisieren Blutspende-Aktionen, Nachbarschaftskampagnen, öffentliches Iftar in Innenstädten und vieles mehr. Imame sprechen am Ende der Freitagspredigt Bittgebete für Deutschland und die deutsche Gesellschaft. Die Zakah, die in Deutschland ausgegeben wird, ist auch ein Zeugnis von Zugehörigkeit. Das ist zum Teil gelebte Praxis. Diese Art von Öffnung zur Gesamtgesellschaft zeigt, dass die Richtung stimmt, jedoch muss sie weiter ausgebaut werden, sowohl in der Breite als auch in der Tiefe. Es fehlt vor allem an inhaltlichen Beiträgen der muslimischen Religionsgemeinschaften zu gesellschaftsrelevanten Themen wie zum Beispiel Künstlicher Intelligenz, Klimawandel, modernem Arbeitsleben oder Altersarmut. Denn wer sich Deutschland und Europa verbunden fühlt, der überlegt gemeinsam mit allen anderen, wie in unserem Land mehr Gerechtigkeit und mehr Wohlstand für alle erreicht werden kann.

Das, was man für sich selbst und sein Land möchte, sollte man nicht auf Kosten von anderen Personen oder Ländern, sondern gemeinsam mit ihnen erreichen. Als reiches Land tragen wir über unsere Landesgrenzen hinweg Verantwortung. An den Grenzen Europas ertrinken Menschen und zum Teil sind wir über Waffenverkäufe mittelbar am Leid von Menschen und Fluchtursachen beteiligt. Die Beziehungen zur Türkei, dem Heimatland vieler Eltern oder Großeltern von Muslimen in Deutschland, sind aktuell angespannt. Die Verbundenheit mit Deutschland muss gerade deswegen nicht heißen, dass die Verbindungen in das eigene Geburtsland oder das Heimatland der Eltern abgebrochen wird oder keine Rolle mehr spielt. Muslime können und müssen Brückenbauer und Vermittler sein. Wichtig ist es, sich von niemandem instrumentalisieren zu lassen, sondern selbstbewusster und eigenständig denkender Bürger Deutschlands zu sein. Dies sollte selbstverständlicher Teil der Identität von deutschen Muslimen sein.