,

Die Gefahr absoluter Gewissheiten

Ausgabe 289

Foto: Freepik.com

Die Kritik von Ideologien wird häufig durch Vereinfachungen getrübt. Und solche Kritiken führen ebenfalls dazu, dass die zu prüfenden Begriffe zusammen mit ihren Befürwortern stigmatisiert werden. Das gilt für ideologische Ziele wie Marxismus, Sozialismus, Feminismus und die Kritische Rassentheorie (CRT, engl. critical race theory). Wenn jemand mit der Pers­pektive eines Anderen kurzen Prozess machen will, muss er nur „Marxist“ oder „Feminismus“ schreien.

Das Problem bei Angriffen gegen die Personen besteht darin, dass diese Ideologien Ideen enthalten, die den Werten ihres Publikums entsprechen. Gäbe es diese Ideen nicht, dann wären die Ideologien nicht attraktiv. Nehmen wir beispielsweise die Tatsache, dass Feminismus – insbesondere in seinen ersten Wellen – die Handlungsfähigkeit von Frauen, Selbstbestimmung, ihr Wahlrecht und ihr Recht, Reichtum zu besitzen und zu verdienen, forderte. Es gibt keinen fundamentalen oder stichhaltigen Grund zur Annahme, Islam würde solchen Zielen widersprechen. Daher scheint es für viele Musliminnen – unbewusst – sinnvoll zu sein, sich als Feministinnen zu sehen. Wir dürfen hierbei jedoch nicht annehmen, dass solch ein Etikett nicht aus­reichend die Mission des Propheten Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, im Lichte des Wohlergehens von Frauen zusammenfasst. ­Solche Charakterisierungen sind eine ­Gefahr, die zu Blasphemie führen kann.

Man muss auch gegenüber der angeblich inhärenten und universellen Anwendbarkeit solcher übergreifenden Ideologien skeptisch bleiben, da man den Wald mit den Bäumen verwechseln könnte, wenn man bedenkt, dass ihre ­erkenntnistheoretischen Grundlagen oft mit der moralischen Vision und den Wahrheiten des Islam kollidieren. Wie andere egalitäre Ideologien hat die Kritische Rassentheorie ihre eigene metaphorische Spreu und Weizen. In den Zirkeln muslimischer Aktivisten scheint es ein wachsendes Interesse an der kritischen Rassentheorie zu geben. Viele haben ihre Annahmen ungeprüft übernommen – in Unkenntnis darüber, zu was die Entscheidungen ihrer sogenannten „Bündnispartner“ führen. Aus diesem Grund habe ich diesen Text geschrieben.

Bei der CRT handelt es sich um einen analytischen Ansatz, der von Aktivisten wie ihrem „intellektuellem Vater“, Derrick Bell, Professor für Rechtswissenschaft an der New York University, angewendet wird. Die Theoriebildung begann Mitte der 1970er Jahre. Ihr Hauptziel ist es, das Zusammenspiel von Rasse, Rassismus und Macht in „eurozentrischen“ Kulturen zu verändern. Die Theorie befasst sich mit der Schaffung einer egalitären soziopolitischen, kulturellen und wirtschaftlichen Ordnung, wobei sie direkt auf den „weißen Kulturimperialismus“ abzielt und dessen philosophische Grundlagen dekonstruiert. Die Kritische Rassentheorie baut auf den Bemühungen und Erkenntnissen einer Reihe von Aktivisten für Bürgerrechte von Minderheiten auf, sowie auf kritischen, juristischen, Studien, radikalem Feminismus und europäischen Philosophen wie Gramsci und Derrida.

Nach Ansicht der Akademiker Richard Delgado und Jean Stefancic basiert die Kritische Rassentheorie auf den folgenden sechs moralischen Annahmen:

1. Rassismus gegen „farbige“ Menschen ist seit langem typisch für „eurozentrische“ Gesellschaften. „Farbig“ ist hierbei ein Synonym für „nicht-weiß“; das heißt, nicht-europäische Menschen. Der „weiße“ Vorrang vor dem „farbigen“ dient wichtigen körperlichen und materiellen Zwecken. Rassen sind soziale Konstrukte, keine biologischen Tatsachen.

2. Die differenzierte Rassifizierung, das heißt, der berechnete zeit- und umstandsabhängige Wechsel diskriminierender Maßnahmen zwischen verschiedenen Minderheiten erfolgt „als Reaktion auf sich verändernde Bedürfnisse des Arbeitsmarktes“.

3. Intersektionalität und Anti-Essenzialismus – meinen, dass „jede Rasse ihre eigenen Ursprünge und sich entwickelnde Geschichte hat“. Und kein individuelles Mitglied einer „rassischen“ Gruppe kann als vergleichbar zu jedem anderen Gruppenangehörigen gelten. Vielmehr hebt sich jeder hervor durch eine Vielfalt an Faktoren, die zur eigenen Identität beitragen wie Geschlecht, sexuelle Orientierung, politische Neigung und soziale Klasse (diese Facetten der „Identität“ der heutigen Welt bestimmen den Schweregrad von Unterdrückung in einem Schweregrad von „am wenigsten“ bis „am meisten unterdrückt“).

4. Die These der „einzigartigen Stimme von Farbe“ – sie besagt, dass jede „Gruppe“ aufgrund ihrer Erfahrung mit einer weißen, hierarchischen Ordnung einen einzigartigen Standpunkt zur Erklärung ihrer soziopolitischen und wirtschaft­lichen Lage entwickelt hat. Dieser Standpunkt gilt gegenüber dem der „Weißen“ als überlegen. Von diesen wird allgemein angenommen, dass sie nicht in der Lage sind, das Privileg zu erkennen, mit dem sie leben.

Der größte Gebrauchswert der CRT liegt – wie bei bestimmten, anderen Aspekten der postmodernen Philosophie auch – in ihrer Fähigkeit, „Probleme“ und „soziale Ungleichheiten“ auszumachen und zu dekonstruieren. Ebenso – wie andere postmoderne Philosophien – ist sie nicht gut darin, nach der Dekonstruktion wieder zu rekonstruieren. Mit anderen Worten, die Lösungsangebot für soziale Probleme sind immer oberflächlich und untergraben das eigentlich Projekt dieser Theorie.

Das grellste Beispiel dessen findet sich im Beharren dieser Theorie auf der Neudefinition von „Rassismus“. Die älteren Definitionen von Rassismus gehen davon aus, dass jede „Rasse“ sich des Rassismus schuldig machen kann und dass es im Grunde genommen der „Glaube“ an die Überlegenheit der einen gegenüber der anderen aufgrund der bloßen Rasse oder Hautfarbe ist.

Während man zustimmen kann, dass das gegenwärtige Verständnis von „Rasse“ im „überwiegenden Maße“ ein soziales Konstrukt ist (Biologie spielt nur eine sehr begrenzte Rolle), widerspricht die Definition der CRT mit Islam darin, dass sie – nachdem BefürworterInnen CRT-Vorstellungen von Rasse oder farbbasiertem Verhaltensdeterminismus für „Farbige“ abgelehnt haben – sie manchmal die Ansicht vorschlagen und vertreten, Weiß zu sein, sei „privilegiert“ und „rassistisch“ – wissentlich oder unwissentlich. Mit anderen Worten, während es ein Ziel der kritischen Rassentheorie ist, weiße Vorrangstellung und Pri­vilegien zu dekonstruieren, verstärkt und festigt sie diese, in dem sie behauptet, dass die Mitglieder einer Menschen­gruppe von Dingen motiviert sind, die für andere Gruppen nicht sind und nicht sein können. Das verfestigt das „Othering“ von Weißen, die in dieser Sichtweise ohne die Existenz ihrer „farbigen“ Widerparts nicht wirklich weiß sein ­können.

Das ist gleichermaßen rassistisch und essenzialistisch. Es ist rassistisch, denn es bestärkt Vorstellungen einer biologischen Rasse und eines determinierten Verhaltens; zwei Dinge, die die CRT angeblich ablehnt. Es ist essenzialistisch, denn es bringt alle „Weißen“ in einer gemeinsamen Erfahrung gegenüber „Farbigen“ zusammen. So als gäbe es keine Unterschiede zwischen Engländern, Schotten, Franzosen, Deutschen, Russen, Slawen, Iren, Italienern, Israelis etc. Sie sollen alle gleichermaßen Komplizen in der Unterdrückung „farbiger Völker“ sein. Sie erfreuen sich ihres weißen Privilegs als ein Geburtsrecht. Und diese Ansicht gilt, obwohl die kritischen TheoretikerInnen behaupten, sie lehnten Essenzialismus ab. Es scheint, dass man essenzialistisch sein kann, wenn es um Vorwürfe gegen „Weiße“ geht. Das gilt ungeachtet des Essentialismus, der darin besteht, das Gegenstück von „Weißen“ auch als ein einziges einheitliches Kollektiv zu betrachten.

Ein/e CRT-TheoretikerIn würde niemals die Vorstellung akzeptieren, dass er/sie rassistisch gegenüber weißen Menschen ist. Das liegt daran, dass sie oder er sich überzeugt haben, dass nur weiße Menschen Rassisten sein könnten, weil nur sie die Macht hätten. Demnach könne Rassismus nur Rassismus sein, wenn man die Macht zur Unterdrückung ­anderer habe. Und da den kritischen RassentheoretikerInnen zufolge nur weiße Menschen diese Macht hätten, könnten nur sie rassistisch sein. Das heißt, selbst, wenn ich sagen würde „weiße Menschen werden mit Schwänzen geboren“, „der weiße Mann ist der wiedergeborene ­Teufel“ oder „Weiße riechen wie nasse Hunde“, dann wäre demnach nichts davon rassistisch, denn ich bin schwarz. Und schwarze Menschen haben absolut keine Macht (seufz…), andere zu unterdrücken. Die mangelnde Aufrichtigkeit dieses Prinzips wird jedes Mal deutlich, wenn Schwarze oder andere aufschreien und die Bestrafung von Weißen fordern, die sie mit rassistischen Worten ansprechen.

„Alle“ Macht werde angeblich „absolut“ von weißen Menschen ausgeübt. Sollte sich ein farbiger Mensch jemals in einer Machtposition befinden, dann übt er/sie demnach „geliehene“, nicht eigene Macht aus. Das liegt laut dieser Theorie daran, weil alle Macht und Kraft dem „weißen Mann“ gehören soll. Die Wahrheit ist, dass farbige Menschen auf der ganzen Welt Macht haben, von denen viele mächtiger als Millionen weißer sind. Denkt man an die Lehren der kritischen Rassentheorie zu ihrem logischen Ende, dann würde das heißen, dass kein Dikta­tor in der arabischen Welt verantwortlich sei, wenn er wieder einmal ein Massaker anrichtet. Noch seien dies Chinesen, Burmesen oder irgendwelche andere Menschen oder Regierungen, die für eine bestimmte ethnische Gruppe stehen. Dies soll nicht heißen, dass die politischen ­Eliten Europas in der Tat nicht für die jahrhundertelange Unterdrückung und grausame Behandlung anderer verantwortlich sind. Sie sind verantwortlich für das, was sie tun und getan haben. Jedoch ist jede Seele dem verpflichtet, was sie verdient hat. Und niemand trägt die Last eines anderen.

Im Islam sind alle Menschen die ­Kinder der gleichen Mutter und des gleichen Vaters, Adam und Eva. Unser einziger permanenter und eingeschworener Feind ist Schaitan. Und Schaitan ist kein Mensch. Wir alle sind empfindlich für die gleichen Untugenden und Unzulänglichkeiten. Unsere Impulse, Leidenschaften und Gefühle machen uns formbar. Und unsere Unwissenheit der objektiven Fakten und des moralischen Pfades machen uns empfänglich für Manipulation. Islam betrachtet jedes Individuum als ­erlösbar ungeachtet von Ethnie, Farbe, Geschlecht, Fehlern, Religion oder politischer Zugehörigkeit. Jede Person egal welcher Ethnie kann rassistisch sein; selbst, wenn wir anerkennen, dass ein Rassist mit Macht gefährlicher ist als ein machtloser.

In allen Gesellschaften gibt es Vorstellungen von „Rasse“. Und dieses Konzept beeinflusst sehr stark, wie man zwischen Außenstehenden und Angehörigen unterscheidet. Während Muslime die Gültigkeit ihres Status als Bürger westlicher Länder anerkannt haben, haben viele ebenso das Gepäck der ethnischen Polarisierung mit übernommen.

Hat der Islam etwas Einzigartiges für Gesellschaften zu bieten, die von ethnischen Vorurteilen geplagt sind? Wenn ja: Werden Muslime diese Perspektive nutzen, um die Menschheit zu heilen? Oder werden sie dazu beitragen, die Kluft zwischen Fraktionen in der Gesellschaft zu vergrößern? Wann hat dieser Rassifizierungsprozess begonnen? Welche Parallelen gibt es in der islamischen Tradition? Und werden die Muslime ihren Glauben zurück erlangen, bevor er dauerhaft in eine Vorstellung von „Rasse“ verwandelt und seines transformativen und versöhnlichen Geistes entleert wird?