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Hanau und die Folgen

Ausgabe 297

Foto: Pradeep Thomas Thundiyil, Shutterstock

„Natürlich ist es zu begrüßen, dass der Kampf gegen Rechts eine Klammer ­darstellt, die Menschen parteiübergreifend zusammenführt. Allerdings darf diese Gemeinsamkeit nicht darüber hinwegtäuschen, dass es an einer positiven Vision über das künftige Zusammenleben fehlt. Die Gräben verlaufen nicht nur zwischen Links und Rechts, Ost und West, sondern auch zwischen Arm und Reich.“

(iz). Es ist keine imaginäre Gefahr. Die schrecklichen Morde in Hanau sind real, furchtbar und erschütternd. Für Millionen Mitbürger­Innen in unserem Land, die – mit dem berühmtem Immigrationshintergrund, aber auch Menschen, die Moscheen oder Synagogen besuchen, ein Kopftuch oder eine Kippa tragen – waren diese Nachrichten nicht wirklich über­ra­schend. Das ist an sich schon schockierend und erklärt sich aus den Er­fahrungen unserer Minderheiten im Land, die das vergiftete Klima in Form von Angriffen und Alltagsrassismus am eigenen Leib spüren. Jetzt scheint die politische Klimakatastrophe immerhin in das öffentliche Bewusstsein gerückt zu sein. Das Ziel ist klar: Es gilt, die dumpfe Dialektik gegen den vermeintlich Anderen zu entlarven und die ­Enthemmung der Sprache in der Öffentlichkeit zurückzudrängen.

Parallel zur spürbaren Empörung über die kaltblütigen Morde von Hanau ­verschärfen sich die Debatten über die Einordnung des Extremismus. Nach der sogenannten „Hufeisentheorie“ haben extremistische Kräfte am linken und rechten Rand mehr miteinander gemeinsam als mit der demokratischen Mitte. Dieses alte Bild hat heute aus ­verschiedenen Gründen ausgedient. Zunächst ist mit dem Terror von Muslimen in Europa ein Akteur auf die politische Bühne getreten, der zur Polarisierung der Gesellschaft leider auf neue Weise beigetragen hat und die Problematik des Extremismus erweitert.

Zudem zeigen die Erfahrungen der letzten Jahre spätestens seit den NSU-Morden, dass die Gefahr von Rechts eine andere, gefährlichere Dimension hat als die Gefahr des linkem Extre­mismus. Die Erinnerungen an die Er­fahrungen mit des RAF-Terrors in den 1970er Jahren sind dagegen längst historisch eingeordnet und verblassen. Heute gelten daher neue Lehrsätze: Nicht jeder stramme Konservative ist ein Terrorist, aber immer mehr Terroristen sind rechts! Über diese neue Gefahrenlage besteht in diesen Tagen ein breiter Konsens.

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Eine weitere Folge der antiquierten Idee der Hufeisentheorie, ist, dass die demokratische Mitte im Grunde nichts mit den extremistischen Umtrieben im Lande zu tun hat, nicht mehr zu halten ist. Dies zeigt sich – neben dem gesamtgesellschaftlichen Problem des Antise­mitismus – gerade auch im Umgang mit der muslimischen Minderheit im Land. Die hitzigen Diskussionen über das ­Phänomen des Islam in Deutschland und die wachsende Zuwanderung seit 2015 hat natürlich in erster Linie zum Erstarken der AfD geführt.

Mehr oder weniger ausdrücklich ist die Dialektik gegen den Islam eine der ideologischen Hauptpfeiler der rechten Populisten. Ihre Rhetorik gegen Ausländer, Flüchtlinge und Muslime führt hart an die Linie, nach der nur noch Gewalt Steigerung verspricht. Wenn man aber nach der alten Hufeisentheorie die AfD im rechten Extremismus verortet, übersieht man gerne, dass sich das anti-muslimische Ressentiment auch in den Parteien wiederfindet, die sich heute als die neuen Demokraten, links von der AfD definieren. Allein von der CDU sind in der Thüringen-Wahl 2019 etwa 17.000 Wähler von der imaginären Mitte flugs zur AfD gewandert.

Reflektiert man zudem die Rolle ­unserer Leitmedien im Umgang mit dem Islam in Deutschland, findet sich ein weiteres Indiz, wonach sich eine wachsende, pauschale Islamfeindlichkeit in der ganzen Gesellschaft erfolgreich verbreiten konnte. Das Kalkül mancher Medien ist so banal wie gesellschaftspolitisch gefährlich: Die harte Kritik am Islam verkauft sich besser als eine ausgewogene und sachliche Berichterstattung. Signifikant ist hier, um nur ein Beispiel zu nennen, dass der Islam und die Muslime in den Medien nur mit ­Tätern assoziiert werden, nie aber mit den Opfern, die heute vom Terror ­betroffen sind. Die erschossenen Bürger von Hanau werden zu „Fremden“ oder – wie es in einem Bericht der Tages­schau heißt – zu „Menschen, die sich in Sisha-Bars aufhalten, mit migrantischem Hintergrund“. Ihre religiöse Identität spielt hier nicht zufällig keine Rolle.

Diese Begriffsverwirrungen erklären sich auch aus der Schwierigkeit der ­Parteien, Islam und die Muslime überhaupt als Teil der deutschen Gesellschaft anzuerkennen. Fatal wirkt auch der Eindruck, dass sich das Bekenntnis zum Islam und das Engagement in einer ­demokratischen Partei ausschlössen. Wen wundert es im Ergebnis, dass sich viele Muslime frustriert von einer ­Gesellschaft abwenden und beklagen, dass man auch, wenn man in Deutschland geboren ist und seit Generationen hier lebt, noch immer als Bürger 2. Klasse angesehen wird?

Natürlich hat der Begriff der Mitte jenseits des abstrakten Theorienstreites noch immer seine praktische Daseinsberechtigung. Die Abneigung gegenüber Extremen, die Dialogfähigkeit und die Bereitschaft zur Differenzierung machen die Substanz dieser Haltung aus. Die ­absolute Mehrheit aller Muslime sieht sich in der Tradition dieser Tugenden.

Darüber hinaus gehört hierher auch die Möglichkeit gesunder Selbstkritik und der Respekt gegenüber den Gefahren der politischen Dialektik gegen den Feind. Die Erfahrung zeigt, dass sich allzu schnell Eigenschaften, die man dem Gegner zuschreibt, sich in den ­eigenen Reihen und im eigenen Sprachgebrauch wiederfinden.

Wer sich zum Beispiel – zu Recht – dagegen wehrt, dass „die“ Muslime pauschal als Terroristen verunglimpft werden, sollte angesichts des rechten Terrorismus auch nicht von „den“ Deutschen sprechen.

Wenn heute Extreme, Wahn und ­Terror die gesellschaftliche Realität mit ausmachen, gilt es auch über den Nährboden dieser Phänomene nachzudenken. Natürlich ist es zu begrüßen, dass der Kampf gegen Rechts eine Klammer darstellt, die Menschen parteiübergreifend zusammenführt. Allerdings darf diese Gemeinsamkeit nicht darüber hinwegtäuschen, dass es an einer positiven Vision über das künftige Zusammenleben fehlt. Die Gräben verlaufen nicht nur zwischen Links und Rechts, Ost und West, sondern auch zwischen Arm und Reich. Die Zukunft der Demokratie ist nicht nur durch den politischen Extremismus bedroht, sondern auch durch die Innovationen der Finanztechnik und der Dynamik der digitalen ­Revolution. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass der „ökonomische Extremismus“, die Finanzkrise und das Thema der ­Gerechtigkeit längst kaum mehr diskutiert werden.

Die Muslime in Deutschland sind in jedem Fall aufgerufen Maß und Mitte in diesem Land aktiv mitzugestalten. Jede andere Minderheit sollte sich unserer Solidarität immer sicher sein. Die mögliche Falle ist ebenso klar: wir dürfen nicht in die gleiche Rhetorik des „Wir gegen die Anderen“ verfallen. Wir müssen konstruktive Kritik an uns aushalten, aber auch polemische Ideologie gegen den Islam entlarven. Am Ende muss es uns um die Stiftung eines ­Wir-Gefühls gehen. Wir sind Teil des Ganzen. Trotz Hanau, oder gerade auch deswegen.

Eine der Folgen der Ereignisse von Hanau sollte es auch sein, unsere Rolle als zivilgesellschaftlicher Akteur in der Bundesrepublik zu stärken. Dieser ­Ansatz muss einhergehen mit einer selbstkritischen Analyse des Zustandes unserer Organisationen. Das Dilemma der medialen Präsenz von Muslimen zeigt sich auch wieder in der Trauerarbeit rund um Hanau. Muslimische Vertreter tauchen bisher nur im Kontext des Terrorismus und im Bezug zur inneren Sicherheit in der Berichterstattung auf. Unsere Verbandsvertreter sind inzwischen zwar in der Lage, in Krisensituationen professionell Rede und Antwort zu stehen, es fehlt aber an einer Strategie, auch in anderen gesellschaftlichen Debatten wahrgenommen zu werden. Das wäre aber wichtig, denn der Islam würde nicht immer nur als Teil eines Problems, sondern auch als Teil einer Lösung wahrgenommen werden.

Die prekäre Lage der Muslime sollte auch zu der überfälligen Reform und Modernisierung unserer eigenen Strukturen führen. Die berechtigte Forderung an die Mehrheitsgesellschaft Pluralität zu leben trifft – selbstkritisch gesehen – auf einen entscheidenden Widerspruch. Die meisten Verbände setzen selbst nach wie vor (im Grunde seit den 1970er ­Jahren) auf die ethnische Identität ihrer Mitglieder.

Es ist wichtig, jenseits der Idee ­einer ethnischen Differenz, neue Organisationsformen zu gestalten, die das zivil­ge­sellschaftliche Engagement von Muslimen koordinieren und die vorhandene Kompetenz und Intelligenz von Muslimen abruft. Muslime sollten ­vorleben, dass die Kompetenz und das gemeinsame Engagement wichtiger ist als die Herkunft. Um die gewaltigen Herausforderungen zu meistern, bedarf es veränderter Strukturen und neuer ­Synergien. Nur durch neue Formen der gemeinsamen Öffentlichkeitsarbeit kann der zivilgesellschaftliche Beitrag der Muslime deutlicher werden.

Hier hat sich schon viel verbessert, ausreichend sind die Bemühungen aber noch nicht. Die sozialen Medien sind beispielsweise ein Brandbeschleuniger für anti-muslimische Ressentiments, es fehlt aber an einer koordinierten Strategie für eine digitale Gegenoffensive. Ein Blick auf die Webseite des Koordinationsrates der Muslime genügt, um zu verstehen, was hier gemeint ist.