Hintergrund: Hauptmann als Bahnbrecher der Moderne und Mönch der Poesie

(dpa) Gerhart Hauptmann ist für Peter Sprengel einer der bedeutendsten Autoren seiner Zeit und ein Aushängeschild der literarischen Moderne in Deutschland. Viele seiner Werke sind jedoch fast vergessen. Dabei seien Dramen wie «Die Weber» nicht von gestern, erklärt der Hauptmann-Spezialist und Professor für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin im Interview mit der Nachrichtenagentur dpa.

Welche Rolle spielt Gerhart Hauptmann in der deutschen Literatur?

Sprengel: «Er ist einer der ganz entscheidenden Bahnbrecher der literarischen Moderne um 1900. Hauptmann ist nicht der einzige, aber einer der wichtigsten Autoren für diesen Aufbruch, ohne den die Entwicklung der modernen Literatur bis hin zu Kafka gar nicht vorstellbar wäre.»

Droht Hauptmann trotzdem in Vergessenheit zu geraten?

Sprengel: «'Bahnwärter Thiel', 'Rose Bernd' oder 'Die Weber' werden noch gelesen, auch in der Schule. Aber der Rest ist für das breite Publikum offenbar weg vom Fenster.»

Ist Hauptmann schlicht von gestern?

Sprengel: «Hauptmann ist noch aktuell, wenn es gelingt, die historische Perspektive auf ihn zu überwinden. Bei der Aufführung der 'Weber' im Deutschen Theater musste ich an den Arabischen Frühling denken – ohne dass die Regie Aktualisierungstupfer aufgetragen hatte.»

Im Kaiserreich galt Hauptmann als Sozialist und gefährlich – zurecht?

Sprengel: «Die Aufführung der 'Weber' wurde verboten, weil damit sozialdemokratische Propaganda gemacht würde. Aber das war ein Missverständnis. Hauptmann war kein politischer Kopf. Er sagte, das Mitleid habe ihm die Feder geführt, als er das Drama geschrieben hat. Aber eigentlich ging es ihm um das künstlerische Experiment.»

Aber im Ersten Weltkrieg hat er dann nationalistische Töne angeschlagen.

Sprengel: «Ab den frühen 1890er Jahren beschäftigte er sich mit der Bedeutung Deutschlands. Er hat gesagt, mit seinem Revolutionsdrama 'Florian Geyer' habe er an die Glocke des Nationalbewusstseins zu schlagen versucht, aber sie habe nicht geklungen. Es gab bei ihm eine Begeisterung für die deutsche Sache, und im Ersten Weltkrieg träumte er von einer Vorrangstellung Deutschlands in Mitteleuropa. Aber das war bei Thomas Mann ähnlich.»

War Hauptmann im «Dritten Reich» ein Opportunist?

Sprengel: «Er ist jedenfalls nicht emigriert und hat gesagt, er sei ein alter Baum, den man nicht mehr verpflanzen könne. Und es gibt diese begeisterten Äußerungen über Hitler nach dem Sieg über Frankreich. Aber Hauptmann war kein Nazi, und ich sehe auch keine nennenswerten Berührungspunkte zwischen seinen politischen Ideen und denen der NSDAP. Er hat den Antisemitismus und die rassistische Züchtungsideologie der Nazis radikal abgelehnt. Aber er hat vermieden, öffentlich Stellung zu beziehen.»

War er gegenüber den Frauen in seinem Leben nicht auch opportunistisch?

Sprengel: «Die Heirat mit Marie, seiner ersten Frau, hat ihn zwar finanziell unabhängig gemacht. Aber ich hätte nichts auf den Tisch zu legen, was dafür spräche, dass das Berechnung war und keine Liebesheirat. Er hatte eine Begabung dafür das zu wollen, was für ihn auch wirtschaftlich das Beste war. Die Trennung von Marie zieht sich über zehn Jahre hin. Er war ein eher entscheidungsschwacher Mensch, auch in privater Hinsicht.»

Was fasziniert die viel jüngere Margarete, die er dann heiratet, an ihm so?

Sprengel: «Als sie ihn kennenlernt, war sie noch ein Mädchen und sieht in ihm ein Genie und einen Ersatzvater. Hauptmann scheint selbst nicht zu wissen, wohin diese Beziehung wohl führt. Er will aber kein bloßes Verhältnis zu ihr, sondern fährt nach Hause und erklärt Marie, dass es Margarete gibt.»

Erscheint Hauptmann nicht manchmal als esoterischer Spinner?

Sprengel: «Hauptmann trug häufig eine Franziskanerkutte, in der er auch begraben wurde. Aber diese Faszination für den heiligen Franziskus gab es auch bei anderen Künstlern. Bei Hauptmann war sie vielleicht etwas heftiger ausgeprägt. Er fühlte sich als Mönch der Poesie, wenn er die Kutte anhatte. Und er hat auch nächtliche Andachten zelebriert und imaginäre Gespräche mit Verstorbenen geführt. In seinem Arbeitszimmer hatte er etliche Totenmasken aufgehängt und notierte, was die Toten ihm sagten. Da gibt es diese Tendenzen, die schon in Richtung Okkultismus gehen.»