Hintergrund: Krise auf der Krim weckt das Trauma der Tataren

Mit 300 000 Menschen bilden die Tataren eine starke Gruppe auf der Krim. Einst wurden sie von Stalin deportiert. Nun kehrt für sie der Schrecken zurück.

Simferopol (dpa). Die Krise auf der Krim bedroht das friedliche Zusammenleben der Menschen dort. Angst vor Übergriffen der russischen Mehrheit raubt besonders den muslimisch geprägten Tataren auf der Halbinsel im Schwarzen Meer den Schlaf. Einst unter Sowjetdiktator Josef Stalin als Verbündete von Nazi-Deutschland deportiert, wird dem Turkvolk sein tragisches Schicksal mit der neuen Macht der Russen wieder vor Augen geführt.

«Wir organisieren nachts Bürgerwehren, um uns zu schützen», erzählt Sewilja Kakura. Gemeinsam mit Freundinnen organisiert die 26-jährige Uni-Dozentin einen der seltenen Proteste gegen Russlands Einfluss und die von Moskau unterstützten Bewaffneten auf den Straßen. Schnell löst sich die Kundgebung in einem Vorort von Simferopol wieder auf.

Angespornt vom Einsatz der Männer in Uniformen ohne Hoheitszeichen ziehen ethnische Russen seit Tagen durch die Straßen der Krim-Hauptstadt. Die Stimmung sei aggressiv, berichtet die Tatarin Jelisara Abduramanowa. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion durfte ihr Volk auf die Krim zurückkehren. «Für die 300 000 Krimtataren ist die russische Invasion ein traumatisches Ereignis nach den Erfahrungen der stalinistischen Deportationen», kritisiert die Grünen-Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck in einer Mitteilung.

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Trotz des Zusammenlebens – so richtig nahe kommen sich die Menschen auf der Krim nicht. «Im Großen und Ganzen wissen die Russen kaum etwas über die Tataren», schreibt der Journalist Aider Muschdabajew, der selbst zu dem Turkvolk gehört, in einem Blog-Beitrag. Sie würden zwar das tatarische Essen wie die gefüllten Teigtaschen Tschebureki und das herzhafte Grillfleisch Schaschlik genießen. Aber auch wegen tendenziöser russischer Filme würden Tataren häufig nur als «mörderisches Volk» und «historische Feinde der Russen» angesehen.

Die Tataren sind nicht die einzigen auf der Halbinsel, die Angst haben. Auch die jüdische Gemeinschaft fürchtet Übergriffe. Die Synagogen in Simferopol und Sewastopol waren vorübergehend wegen Sicherheitsbedenken geschlossen. Ein antisemitisches Graffiti soll an eine Wand geschmiert gewesen sein. Dabei berufen sich die Russen bei ihrem Vorgehen in der Ukraine selbst auf den Schutz von Minderheiten.

Gut zwölf Prozent der Krim-Bevölkerung sind Tataren, ethnische Russen machen hingegen etwa 60 Prozent aus. Die Mehrheit fühlt sich – so begründet Moskau seine Einmischung – von der neuen Regierung im fernen Kiew bedroht. «Faschisten» und «Extremisten» hätten nun dort die Macht. Daher fordern viele Russen eine größere Selbstständigkeit der Autonomen Republik Krim, vielleicht sogar eine Abspaltung von Kiew oder einen Anschluss an Russland. Die neue prorussische Regierung der Krim hat eilig ein Referendum anberaumt.

Doch der geplante Volksentscheid berücksichtige nicht die Sorgen der Tataren, betont Muschdabajew. Die «Ureinwohner» der strategisch wichtigen Halbinsel wollen zumeist weiter zur Ukraine gehören. Schon kurz nach dem Machtwechsel in Kiew gingen sie zu Tausenden in Simferopol auf die Straße und demonstrierten ihre Solidarität mit der neuen prowestlichen Führung. «Wir wollen in einer europäischen Gesellschaft leben, wo die Rechte nationaler Minderheiten geschützt werden, wo es eine gerechte Justiz gibt und die Staatsmacht den Bürgern verpflichtet ist», betont Muschdabajew.

Doch die Tataren-Kundgebung vor dem Regionalparlament traf auf Tausende prorussische Demonstranten. Es kam zu Auseinandersetzungen, im Gedränge wurde angeblich eine Frau totgetrampelt, ein Mann erlitt einen tödlichen Herzinfarkt, es gab Dutzende Verletzte. Kurz danach tauchten die unbekannten Uniformierten auf – seitdem halten die Tataren vorsichtshalber still. «Wir wollen keine Provokationen riskieren», erklärt Aktivistin Abduramanowa. Damit wendet sie sich auch gegen radikale ukrainische Gruppen, die Krimtataren zu einem «Partisanenkampf gegen die russischen Okkupanten» aufgerufen hatten.

Tatsächlich scheint sich Russland um die Stimmungslage der wichtigen Minderheit zu sorgen. Als Zeichen gilt, dass an diesem Mittwoch der Chef der russischen Teilrepublik Tatarstan auf die Krim reist. Rustam Minnichanow plane «eine Reihe von Arbeitstreffen». Nach Ansicht von Experten soll er bei dem verwandten Turkvolk auch für die Vorzüge russischer Religionsfreiheit werben. Tatarstan gilt russlandweit als Beispiel für ein friedliches Zusammenleben von Slawen und Muslimen.