„Es gibt zum Glück innerhalb einiger Parteien aber auch parteinahen Stiftungen und Verbänden Personen, die eine Vermittlerrolle übernehmen können. Solche Personen sind derzeit von großer Bedeutung. Sie müssen in der jetzigen Situation Verantwortung übernehmen.“
(iz). Die Ereignisse in der Türkei haben weltweite Aufmerksamkeit erregt. Nicht nur wurden und werden diese erhitzt diskutiert, sie haben auch bestehende Konflikte und Gegensätze in der Türkei und in Deutschland verschärft.
Bedauerlicherweise kamen und kommen in der bundesdeutschen Öffentlichkeit mehrheitlichen nur die gleichen Positionen zu Wort. Für eine differenzierte und freie Debatte braucht es aber ein breites Meinungsbild. Zu diesem und verwandten Themen sprachen wir mit Bülent Aydin vom Vorstand der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD).
Islamische Zeitung: Sehr geehrter Herr Aydin, die Ereignisse vom Freitag, den 15. Juli in der Türkei haben weltweit für Aufregung gesorgt. Über die Vorgänge und ihre Interpretation wird ebenso weltweit gestritten. Wie würden Sie diese unseren Lesern zusammenfassen?
Bülent Aydin: Ich habe die Ereignisse in der Türkei mit tiefer Bestürzung verfolgt. Am späten Freitagabend versuchten kriminelle Einheiten, die sich jahrelang in den militärischen Strukturen und allen anderen Ebenen des staatlichen Behördenapparates einnisten konnten die Regierung und den Staatspräsident Erdogan zu stürzen. Gegen 20 Uhr sperrten die Putschisten die Durchfahrt über die Fatih-Sultan-Mehmet-Brücke und Bosporus-Brücke. Es gab Schüsse und Explosionen, die vorerst von der Bevölkerung mit Unverständnis wahrgenommen wurden. Es war völlig unklar, weswegen die Brücken gesperrt wurden und Panzer auf den Straßen rollten. Gegen 22 Uhr wurde deutlich, dass eine illegale Gruppe innerhalb der Streitkräfte einen Militärputsch verübte. Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim meldete in einem privaten Fernsehsender, dass ein Teil der Streitkräfte außerhalb der regulären Befehlskette agiere und einen Putschversuch startete.
Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der sich zu dem Zeitpunkt in Marmaris befand, forderte per Facetime das Volk auf, sich auf öffentlichen Plätzen und am Flughaben zu versammeln. Dieser Aufruf war der entscheidende Moment der Nacht. Obwohl der staatliche Sender TRT durch Putschisten gestürmt und von hier aus die Machtübernahme des Militärs und eine Ausgangssperre verkündet wurde, hatte diese verlesene Putsch-Mitteilung keinen Einfluss auf die Bevölkerung. Millionen von Menschen gingen nach dem Appell des Ministerpräsidenten und Staatspräsidenten auf die Straßen, stellten sich den Panzern entgegen und demonstrierten mit Mut und Entschlossenheit gegen den Militärputsch. Trotz tieffliegenden Kampfjets, Panzerfahrzeuge in Wohngebieten und Militärhubschrauber, die Feuer auf Zivilisten eröffneten, ließ sich die Bevölkerung durch die Gewalt der Putschisten nicht einschüchtern. Der Putschversuch nahm 260 Menschen das Leben und verletzte über 1500 Menschen.
In den deutschen Medien wird überwiegend von einem dilettantischen und laienhaften Putschversuch gesprochen. Äußerungen wie „Putsch hinter dem Putsch“ oder „Erdogan errichtet eine Diktatur“ verdeutlicht, dass der Putschversuch völlig unzutreffend interpretiert wird. Die türkische Bevölkerung hat sich geschlossen gegen eine Militärdiktatur gestellt und die Demokratie verteidigt. Mit Bedauern stelle ich fest, dass der Putschversuch und die Folgen des gescheiterten Putschs in der deutschen Öffentlichkeit nicht verstanden werden. Wichtig ist zu betonen, dass der Putsch vor allem durch die unvergleichbar mutige Haltung der türkischen Bevölkerung verhindert wurde.
Islamische Zeitung: Gleichermaßen Uneinigkeit herrscht in der Benennung der Verantwortlichen. Wie stellt sich die Faktenlage aus Sicht der Regierung dar?
Bülent Aydin: Wer genau hinter den Putschversuch steckt, wird sich wohl nach den geführten Gerichtsverhandlungen klarstellen. Die türkische Justiz befindet sich vor einer großen Herausforderung. Sicherheitsexperten der Türkei betonen, dass es keinen Zweifel daran gibt, dass dieser Putschversuch lange und akribisch geplant wurde. Die türkische Bevölkerung hat eine lange und leidvolle Erfahrung mit Militärputschen. In den Gedächtnissen sind die Putsche von 1960, 1971, 1980 und 1997 mit Ermordungen, Grausamkeiten, Verfolgung von Minderheiten, wirtschaftlichem Rückschritt und Armut verbunden.
Bei der Benennung der Verantwortlichen bzw. der direkten Ausführer dieses Putschversuchs existiert in der Türkei Einigkeit darüber, dass der Putschversuch durch eine Gruppe von Offizieren, die der Fethullaistischen Terrororganisation (FETÖ) angehören, stattgefunden hat. Alle Parteien im türkischen Parlament haben den Putschversuch geschlossen mit einer parlamentarischen Erklärung verurteilt. Im treffen des Nationalen Sicherheitsrats wurden Maßnahmen zur Fethullaistischen Terrororganisation ergriffen. Es ist offensichtlich, dass Anhänger der in den USA lebenden Fethullah Gülens seit den 80er Jahren den Staat unterwanderten. Sie haben wichtige Positionen in der Polizei, im Justizapparat und im Bildungswesen besetzt. Anhänger dieser Sekte waren auch verstärkt im Militär vertreten. Nach den geführten Balyoz und Ergenekon-Prozessen, wo hunderte Offiziere und mehrere Generäle unter Putschverdacht standen, wurden die kemalistischen Kräfte im Militär geschwächt, wogegen die Posten vor allem von Gülen-nahen Offizieren besetzt wurde. Wichtige Prozessbeobachter berichteten über Ungereimtheiten und illegal erworbener Dokumente. Nach diesen Prozessen betonten Experten, dass die Macht des Militärs angeschlagen wurde und Generäle niemals einen Putschversuch wagen würden. Der Putschveruch vom 15. Juli bewies genau das Gegenteil.
Islamische Zeitung: Wie sieht die Suche nach den Hintermännern bzw. treibenden Kräften aus? Gibt es da bereits belastbare Erkenntnisse in Ankara? Manche öffentliche Stimmen bezweifeln die Fähigkeit der Gülen-Gruppe, einen Putsch zu organisieren…
Bülent Aydin: Generäle, Admirale, Soldaten und andere Verantwortliche, die wegen der Teilnahme am Putschversuch in der Türkei festgenommen wurden, legten beim Verhör offen, welche Beziehungen sie zu der FETÖ-Gruppe pflegen. Soweit Details dieser Verhöre in die Öffentlichkeit gelangen, können Hintergründe besser nachvollzogen werden. Beispielsweise gab der verhaftete Adjutant des Generalstabschefs und Oberleutnant Levent Türkkan zu, ein Mitglied der FETÖ-Gruppe zu sein. Diese Aussage ist insoweit wichtig, weil es die jahrelange Unterwanderung des türkischen Staates offenlegt. Türkkan sagt im Verhör, das er im Jahre 1989 an dem Eignungstest der Isiklar Militärschule teilgenommen habe, wo ihm ein Tag früher die Lösungen der Aufnahmeprüfung vorgegeben wurde und er dies erfolgreich bestand. Türkkan legt weiter offen, dass er als Adjutant alle Aufträge befolgte, die ihm von der Gülen-Bewegung zugetragen wurde. Er gab zu, dass er den ehemaligen Generalstabschef Necdet Özel durchgehend mit einem Abhörgerät abhörte und die Aufnahmen an ranghöhere Gülenisten weitergab. Das sind Aussagen, die viele um den Verstand bringen. Natürlich werden erst nach den Gerichtsverhandlungen klargestellt, welche Aussagen und Erkenntnisse der Wahrheit entsprechen. Es gibt viele belastbare Erkenntnisse in Ankara. Das Justizministerium der Türkei hat nach dem Putschversuch erneut die Auslieferung Fethullah Gülens aus den USA gefordert. Vier Dossiers zur Auslieferung des FETÖ-Terroristenchefs wurden an die USA geschickt. Wie die USA handeln wird ist noch offen.
Islamische Zeitung: Nicht nur die Parteien der Türkei stellten sich auf die Seite der Regierung, auch weite Teile der Bevölkerung nahmen aktiv Anteil an der Verhinderung des versuchten Staatsstreichs. Ist das nicht – angesichts der hiesigen Aufrufe zur aktiven Partizipation – ein eigentlich optimistisch stimmendes Zeichen für die türkische Zivilgesellschaft?
Bülent Aydin: Es muss ausdrücklich betont werden, dass alle politischen Parteien, unabhängig von der ideologischen Ausrichtung sich gegen den Putsch gestellt haben. In der Türkei herrscht eine seit langem vermisste Geschlossenheit der politischen Elite. Verschiedene politische Lager haben sich gemeinsam mit dem Volk gegen die Militärdiktatur ausgesprochen. Regierungskritische sowie regierungsnahe Medien haben sich gleichermaßen gegen den Putsch positioniert. Arbeitgeberverbände wie TUSIAD und MUSIAD, der Dachverband der insgesamt 1,2 Millionen Einzelunternehmen (TOBB) haben den Putschversuch auf das Schärfste verurteilt. In der Zivilgesellschaft gibt es keine einzige Stimme, die den Militärputsch ersehnt hätte. Sogar die kurdisch-nationalistische HDP hat die Parlamentserklärung mit den anderen Parteien unterschrieben und Parteianhänger sind im Osten der Türkei auf die Straßen gegangen. Diese Haltung und Stimmung gibt Hoffnung auf eine Milderung der Umgangsart miteinander. Der abgewandte Putsch am Freitagabend hat verschiedene Bevölkerungsschichten zusammengeschweißt.
Islamische Zeitung: Es wurden nach dem Scheitern des Putsches Befürchtungen laut, wonach der versuchte Staatsstreich eine Vorlage für eine weitere Festigung der Macht von Regierung und AKP darstelle. Dementsprechende Titel kursierten ja schon in ausländischen Massenmedien. Können sie solche, bis ins verschwörungstheoretische reichende, Kolportagen entkräften?
Bülent Aydin: Verschwörungstheorien über eine Inszenierung des Putschversuchs sind absurd. Es sind über 250 Menschen gestorben, um die 2000 Menschen wurden die Nacht verletzt. Unter den Verstorbenen sind der enge Verbündete Erdogans Erol Olcok und dessen 16-jähriger Sohn Abdullah Tayyip Olcok. Olcok und sein Sohn wurden auf der Bosporus-Brücke durch die Putschisten erschossen. Dieser Verlust traf Erdogan zutiefst, sodass er in der Beerdigung in Tränen ausbrach. Außerdem wurde der Bruder des einflussreichsten Beraters Erdogans, Prof. Dr. Ilhan Varank am Rathaus von Istanbul erschossen. Ziel der Putschisten war, Staatspräsident Erdogan in seinem Hotel entweder lebend oder Tod, zu fassen. Wichtig ist festzuhalten, dass der Putschversuch ursprünglich gegen 03:00 Uhr geplant war aber am Tag des Putsches vorgezogen wurde. Es wird davon ausgegangen, dass mindestens 5 Generäle und 28 Oberste an dem Putschversuch beteiligt sind. Zu glauben, dass sie diesen Putsch gemeinsam inszeniert haben widerspricht jeder Vernunft.
Warum der Putschversuch scheiterte kann aus unterschiedlichen Perspektiven beurteilt werden. Meiner Meinung nach haben die Putschisten bei ihrer Planung die mögliche Haltung des Volkes außen vor gelassen. In den 60er Jahren mag diese ignorante Haltung gegenüber dem Volk zutreffen, aber in einer offenen und freien Gesellschaft, wo jeder durch Internet und social media miteinander vernetzt ist, hatte die Erklärung der Putschisten durch den Staatssender TRT keine Wirkung.
Islamische Zeitung: Wie sieht es in dem Kontext mit der angeblich erwähnten Wiedereinführung der Todesstrafe oder massenhaften Beurlaubungen aus? Spielt das die überzeugteren Kritiker der Regierung und des Landes nicht direkt in die Hände?
Bülent Aydin: Die Türkei hat dramatische Erfahrungen mit Militärputschen. Man kann für oder gegen eine Todesstrafe sein. Es gibt Staaten auf der Welt, die in der NATO und auch in anderen internationalen Organisationen sind, mit denen Deutschland sehr eng kooperiert, die die Todesstrafe haben. In diesen Organisationen herrscht eine so genannte Wertegemeinschaft. Ich persönlich bin gegen die Einführung der Todesstrafe.
Die Diskussion über eine mögliche Wiedereinführung der Todesstrafe muss aber im Moment aufgrund der Emotionalität in der Bevölkerung betrachtet werden. Teile des türkischen Volkes verlangt aufgrund der akuten Lage so eine Strafe. Das Parlament wird aber mit allen politischen Parteien darüber diskutieren und zu einer Entscheidung gelangen.
Zu den massenhafte Entlassungen und Beurlaubungen kann ich nochmal wie bereits eben betonen, dass es eine massive Unterwanderung des Staates (Polizei, Justiz, Bildungsministerium, Bürokratie) gibt. Für viele Bürokraten und Beamten steht die Loyalität gegenüber Fethullah Gülen vor der Loyalität zur türkischen Verfassung. So eine Situation kann in keinem Land der Welt gutgeheißen werden. Wer Staatsbediensteter ist und sein Lohn vom Staat erhält, darf nicht als Befehlsempfänger von anderen Institutionen oder Personen fungieren.
Islamische Zeitung: Seit geraumer Zeit wird die deutschtürkische, aber auch die deutschmuslimische Community durch Konflikte in und über die Türkei aufgeheizt. Sehen Sie die Gefahr, dass dieser Putschversuch das noch einmal beschleunigen wird? Wenn ja, wie könnte dem entgegengewirkt werden?
Konflikte aus anderen Ländern sollten natürlich nicht hierhin importiert werden. Es ist aber Fakt, dass Menschen aus anderen Ländern nun einmal hier leben. Diese Menschen haben teilweise ihre gesamte Verwandtschaft im Ausland. Sie sind nicht nur emotional, sondern auch organisch mit ihren Heimatländern verbunden. Dies widerspricht im Übrigen auch nicht der Integration. Wir rufen zudem immer wieder die Menschen dazu auf, stets auf dem Boden des Grundgesetzes und der demokratischen Werte zu handeln. Wir erwarten von allen Menschen sich nicht emotional, sondern rational und sachlich zu verhalten.
Islamische Zeitung: Fehlt es derzeit nicht – analog zur Deutsch-Arabischen Gesellschaft – an einem Gremium, dass sich hier um das deutsch-türkische Verhältnis bemüht? Sehen Sie Chancen für eine „verbale Abrüstung“?
Es gibt zum Glück innerhalb einiger Parteien aber auch parteinahen Stiftungen und Verbänden Personen, die eine Vermittlerrolle übernehmen können. Solche Personen sind derzeit von großer Bedeutung. Sie müssen in der jetzigen Situation Verantwortung übernehmen. Aber auf der anderen Seite gibt es auch Parteifunktionäre in Deutschland, die die Situation mit ihren täglichen Verlautbarungen immer mehr vergiften und aus politischem Kalkül Öl ins Feuer gießen. Nicht nur Politiker, sondern auch Vertreter bestimmter zivilgesellschaftlicher Verbände müssen verbal abrüsten. Wir rufen immer wieder zu Ruhe und Frieden auf. Dies erwarten wir auch von denen, die die jetzige Situation bewusst missbrauchen, um sich auf irgendeine Art und Weise zu profilieren. Wir rufen die Menschen dazu auf, die Souveränität des Volkes, die Demokratie, die verfassungsrechtliche Ordnung und Freiheit zu beachten und sich dafür einzusetzen. Andere wiederum verteidigen die Putschisten, drücken unverblümt ihre Trauer über den gescheiterten Putsch aus oder gehen direkt zum Angriff über. Sie sollten innehalten und nachdenken, wie sie die Situation beruhigen können und nicht sie noch weiter zu verschärfen.