,

„Ich setze auf die Jugendlichen“

Ausgabe 270

Foto: ATIB

(iz). In diesem Jahr jährt sich zum 30. Mal der Gründungstag der Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e.V. (ATIB). Aus diesem Anlass sprachen wir mit dem Vorsitzenden Ihsan Öner, der dem Verband seit 2012 vorsteht, über seine Organisation, der bestehenden Kritik an ihr, sowie Gegenwart und Ausblicke der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland.
Öner ist 61 Jahre alt und kam nach seinem Abitur nach Deutschland, wo er Bauingenieurwesen studierte sowie Betriebswirtschaft im Fernstudium. 12 Jahre lang war er Vorsitzender des Mainzer Ausländerbeirates sowie der türkisch-europäischen Unternehmervereinigung TIDAF e.V.
Islamische Zeitung: Lieber Ihsan Öner, die ATIB feiert momentan ihre 30-jährige Gründung. Wie schätzen Sie die Entwicklung ihres Verbandes ein?
Ihsan Öner: Wir haben in den 1980er Jahren – vor der ATIB-Gründung – festgestellt, dass bestehende Strukturen in Deutschland entweder mit Parteien sympathisierten oder einer bestimmten Gemeinschaft angehörten. Es war uns klar, dass die Mehrheit der türkischen Gemeinschaft nicht mehr in die Türkei heimkehren wird. Die Familien waren alle schon nachgezogen.
Wir waren zuvor selbst Mitglied einer Organisation, die mit einer türkischen Partei sympathisierte. Uns wurde klar, dass Strukturen mit einer direkten Verbindung zur Türkei hier nicht unabhängig agieren können. Denn diese wird immer versuchen, die hiesigen Vereine zu lenken. Wir haben gesagt, dass wir als türkische Organisation in Deutschland eine Struktur brauchen, die sich für die Interessen der türkischstämmigen Muslime einsetzt. Der Vorstand sollte von Anfang an unter den Leuten hier gewählt werden und ihre Agenda sollten die Mitglieder vor Ort selbst festlegen.
Deshalb haben wir ATIB ins Leben gerufen. Viele haben uns damals nur eine kurze Dauer zugetraut. Diese Stimmen mussten dann feststellen, dass wir zu allen gleichermaßen Kontakte pflegten, uns aber nicht von ihnen steuern ließen. Seit der Gründung haben wir festgestellt, wie richtig diese Entscheidung war. Selbst heute gibt es noch Organisationen, die direkte Verbindungen zur Türkei unterhalten oder sich von dort aus steuern lassen.
Ich selbst kam im Alter von 17 Jahren zum Studium nach Deutschland. Alle meine Kinder und Enkel sind hier geboren. Meine Kinder kennen die Türkei nur, wenn sie dort Urlaub machen, und um die Großeltern zu besuchen. Die Oma und der Opa meiner Enkel leben hier. Wir werden in Deutschland leben. Das gilt auch für die erste oder zweite Generation. Längst haben die Menschen hier Wurzeln geschlagen. Dieses Land ist unsere zweite Heimat geworden. Wir müssen uns darum kümmern.
Islamische Zeitung: Wie viele Moscheen sind Mitglied bei der ATIB?
Ihsan Öner: Als Moscheen sind 32 Vereine bei uns. Hinzu kommen Jugend- oder Elternvereine, die keine Moscheegemeinden sind. Insgesamt liegen wir derzeit bei 63 Mitgliedern.
Islamische Zeitung: Und als Dachverband machen sie auch beim Zentralrat der Muslime in Deutschland mit…
Ihsan Öner: Nicht nur das. Wir sind auch einer seiner Gründer. Es musste damals eine Organisation geben, welche die Interessen sämtlicher Muslime wahrnimmt. Bei der Gründung war uns wichtig, dass es sich hierbei nicht nur um türkische Organisationen handeln sollte. Alle sollten in einer Gesellschaft zusammenkommen, um die die Belange der Muslime zu vertreten.
Islamische Zeitung: Wie sieht diesbezüglich Ihr Zwischenresümee aus? Sind die Vorstellungen aufgegangen oder sehen Sie Nachholbedarf?
Ihsan Öner: Er wird sicherlich noch einiges entstehen müssen. Der Zentralrat folgt ja meiner Empfehlung, wonach wir Landesverbände brauchen. Erst seit einigen Jahren haben wir sie beispielsweise in Hessen, Bayern, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen oder Berlin gegründet. Da wir eine gemischte Struktur verschiedener Gruppen und Kulturen sind, wird es nicht so schnell zum Ziel führen wie bei Organisationen wie der DITIB oder anderen, die rein türkisch sind.
Ich bin aber optimistisch. Vor der ATIB-Gründung war ich einer der wenigen bei den Verbandsvorständen, der einigermaßen Deutsch konnte. Heute stelle ich fest, dass die nachfolgenden Generationen sich besser artikulieren und angemessener argumentieren können. Ich hoffe, dass nach dem Übergang sämtlicher Organisationsstrukturen in jugendliche Hände einiges wesentlich besser laufen wird als heute.
Islamische Zeitung: Lieber Herr Öner, von kritischer Seite werden der ATIB immer wieder Negativbezüge zu bestimmten Gruppierungen unterstellt. Was entgegen Sie darauf?
Ihsan Öner: Thema „Graue Wölfe“ usw. (…) Wir haben in Deutschland leider Gottes ein Problem, das nicht nur ATIB betrifft, sondern alle Muslime. Es wird ein Bild gezeichnet, über das man nur sagen kann: Das bin ich nicht! Worauf uns gesagt wird: Doch, das bist du! Bisher hat sich keiner bemüht, die ATIB richtig kennenzulernen. Bei allen muslimischen Organisationen, die eigentlich viel mehr kulturell bedingt sind, hat sich niemand wirklich die Mühe gemacht, ihnen richtig zu begegnen. So kommt das Wissen über mich nicht von mir, sondern von Leuten, die uns gegenüber sowieso schon feindlich eingestellt sind. Das sind beispielsweise PKK-Anhänger oder Linke, die seit Jahren schon mit entsprechenden Pendants in Deutschland kooperieren. Für sie sind wir von vornherein ein Feindbild.
Ich möchte hierfür ein Beispiel nennen. Vor den Wahlen in der Türkei kamen dortige Parteien und haben hier die Zentralen türkischer Organisationen besucht. Ich habe mich beschwert, warum nur AKP-Leute kämen, aber niemand von den anderen. Wollen sie keine Stimmen von unseren Mitgliedern haben, die in der Türkei wahlberechtigt sind? Dieses Mal kamen zwei stellvertretende CHP-Vorsitzende. Auch sie kamen mit vorgefassten Einstellungen zu uns – islamischer Verein, möglicherweise rechts etc. Eigentlich wollten beide nur auf eine Viertelstunde reinschauen, blieben aber zweieinhalb Stunden. Und einer der beiden räumte ein, zum ersten Mal in einer zivilgesellschaftlichen Organisation gewesen zu sein.
Wenn wir uns nicht richtig kennenlernen und nicht aufeinander zugehen wollen, aber vielmehr den anderen abstempeln möchten, enden wir bei einem umfassenden Problem. Das haben viele Muslime, auch meine Enkelkinder in der Schule. Sie müssen sich für etwas rechtfertigen, das sie gar nicht sind. Das Gleiche betrifft die ATIB auch. Wir wurden ja alle als „Erdogananhänger“ abgestempelt. Ich kann offen sagen, dass ich das nicht bin. Seit 30 Jahren und seit sechs Jahren als Mitglied dieses Verbandes mache ich mich dafür stark, dass diese Organisation von Parteien frei bleibt. Wir mischen nicht mit, wer wen wählen soll. Und wir ziehen in unseren Vereinen keine Partei vor.
Islamische Zeitung: Viele Muslime berichten, dass der äußere Druck zur stellenweisen Entsolidarisierung untereinander führt. Können Sie das nachvollziehen?
Ihsan Öner: Selbstverständlich. Wir werden beispielsweise als „Erdogananhänger“ in eine bestimmte Ecke gestellt. Persönlich bin ich der Meinung, dass Politiker in der Türkei und in diesem Land eine große Verantwortung tragen. Es gibt unzählige Beziehungen – zwischenmenschlich, wirtschaftlich, politisch – zwischen beiden Ländern. Beide können nicht aufeinander verzichten. Anstatt Muslime in eine mutmaßliche Ecke zu stellen, sollten sie mit diesen reden. Als jemand, der seit 40 Jahren in diesem Land lebt und der Vorsitzender einer Organisation ist, kann ich es als das Mindeste erwarten. Wir haben 10.000 Mitglieder und erreichen 100.000 Menschen.
Um zu Ihrer Frage zu kommen. Das Bundesinnenministerium vergibt Fördermittel. Sie unterstützen keine religiösen Zwecke, aber Aleviten oder andere Gruppen finden Unterstützung. Gesellschaftlich finde ich die jetzige Situation nicht sehr erbauend. Jugendliche, die hier aufwachsen und zur Schule gehen, werden wegen ihres Glaubens und ihrer religiösen Identität ausgegrenzt. Dieses Land bildet selbst soziale Randgruppen, die eine Gefahr für seine Zukunft werden könnten. Wenn sich die Jugendlichen nicht akzeptiert fühlen und sich rechtfertigen müssen, entstehen in diesem Land – ob gewollt oder ungewollt – Randgebiete, die in fünf oder in zehn Jahren nicht mehr zu handhaben sind.
Islamische Zeitung: In den letzten fünf Jahren erhielten auch muslimische Organisationen Gelder vom BMI…
Ihsan Öner: Ich weiß. Das waren Mittel im Rahmen der Flüchtlingsbetreuung. Als Mitglied im Zentralrat haben wir dabei auch mitgewirkt, ohne einen Cent dafür verlangt zu haben.
Islamische Zeitung: Es ist im deutsch-türkischen Verhältnis auf beiden Seiten – zum Schaden vieler deutschtürkischer Muslime – Porzellan zerschlagen worden. Sehen Sie Wege, wie sich zukünftig die Dinge verbessern lassen?
Ihsan Öner: Selbstverständlich. Ich mache zwischen beiden Seiten keinen Unterschied. Alle müssen verantwortungsbewusst handeln. Ein Wahlsieg soll nicht auf dem Rücken der Betroffenen geschehen. Ich habe auch der türkischen Presse gesagt, dass ein Erfolg in der Türkei nicht auf Kosten der Deutschtürken sein kann. Seit 60 Jahren leisten wir hier Arbeit, seit 30 mit der ATIB. Hier wurden Aufbauleistungen rücksichtslos zerstört. Eigentlich könnten wir sehr viel beitragen. Dafür müssen wir ernstgenommen werden, was alle Parteien derzeit nicht tun. Die deutsche Politik klammert uns aus und die türkische Politik kümmert sich auch nicht um uns.
Islamische Zeitung: Ihre Veranstaltungsreihe stand unter dem Zeichen der Jugend. Häufig wird diese kritisch behandelt. Wäre hier nicht eine größere Kooperation mit deutschtürkischen MuslimInnen angezeigt, da diese sich bisher unempfänglich für Radikalisierung zeigten?
Ihsan Öner: Ich stimme zu. Wir sollten nicht als türkische Organisationen abgedrängt werden, da wir die Basis ansprechen können. Während der Staat mit einigen türkischen Vereinen zusammenarbeitet, werden die muslimischen Einrichtungen nicht ernstgenommen. Das kann nicht funktionieren. Auf beiden Seiten nicht. Wir werden als Nationalisten hingestellt. Ein gläubiger Muslim aber kann das nicht sein und darf es nicht.
Islamische Zeitung: Seien wir ehrlich, natürlich gibt es das auch unter Muslimen…
Ihsan Öner: Ja. Es gibt sehr viele zu kritisierende Dinge in der muslimischen Welt. Ein Muslim sollte kein Rassist sein. Eigentlich verfolgen wir türkischen Muslime den Mittelweg. Ein Muslim auf diesem Weg darf kein Rassist sein, weil ihm das seine Religion verbietet. Beide Eigenschaften passen nicht zusammen. In keiner unserer Moscheen wird Feindschaft gepredigt. Regelmäßig weisen die Imame darauf hin, dass man als Muslim etwas Gutes für dieses Land tun soll, in dem man lebt. In kann nicht wegen einer kleinen Minderheit die übergroße Mehrheit in eine Ecke stellen.
Islamische Zeitung: Bisher haben beinahe alle Muslime auf das Vereinsrecht gesetzt. Braucht es nicht ein neues Nachdenken, ob dieses Modell überhaupt noch geeignet ist?
Ihsan Öner: Soweit es die jetzigen Vereinsformen betrifft, wird sich die neue Generation über geeignete Organisationsstrukturen Gedanken machen müssen. Diese lassen sich ja ändern. Bestehende Vereinen können durchaus einzeln oder gemeinsam Stiftungen ins Leben rufen, die bestimmte Ziele verfolgen sollen. Die Vereine müssten Stiftungen unterstützen. In der kommenden Generation dürfte das erfolgversprechend sein, bei der jetzigen sehe ich das eher problematisch.
Islamische Zeitung: Wir haben derzeit mit DITIB, IGMG, VIKZ und ATIB vier große türkischstämmige Moscheeorganisationen. In religiöser Hinsicht haben diese Dachverbände die gleichen Grundlagen, wollen aber separate Religionsgemeinschaften bilden. Ist das nicht paradox?
Ihsan Öner: All diese Organisationen sind nicht vorrangig aus religiösen Gründen ins Leben gerufen worden. Bei ihrem Entstehen waren sie von der Türkei beeinflusst. Der ehemalige Diyanet-Chef Görmez hat hier in Köln gesagt, mit der DITIB-Gründung sei ein Fehler gemacht worden. Diese hätte die bestehenden Vereine mit Imamen versorgen sollen, anstatt eine eigene, parallele Organisation zu schaffen. Denn die Diyanet ist auch meine Einrichtung oder die von Milli Görüs.
Die Verbände verfolgen unterschiedliche Absichten. Der VIKZ zum Beispiel gibt mehrheitlich Qur’ankurse. Wir sind mehr auf die Kulturpflege ausgerichtet. So bieten wir kulturelle Aktivitäten wie Musik oder Theater an. Beispielsweise haben wir keine eigenen Gelehrten und müssen welche aus der Türkei holen; im Gegensatz zum VIKZ, die hier eigene Imame ausbilden.
Islamische Zeitung: Wie sehen nach 30 Jahren Arbeit, nach dem Engagement im Zentralrat, Ihre Visionen für die Zukunft aus?
Ihsan Öner: Ich setze auf die wachsende Zahl von Jugendlichen in diesem Land, die eine gewisse Mindestbildung und welche die Sprache haben. Sie können sich besser artikulieren. Hier ist ein Zuwachs zu beobachten. Hier entwickelt sich etwas, das auch diesem Lande zugute kommt. Die jungen Leute, die hier eine Ausbildung oder ein Studium abschließen, sind ein positiver Gewinn für deutsche Unternehmen. Interessant wird es, wenn sich die Jugend von den ihr zugewiesenen Zuschreibungen frei macht und in einem größeren Maße in die Politik und in die Gesellschaft geht. Der Altersdurchschnitt ist bei den meisten Parteien auf Ortsebene sehr hoch. Hier fehlt es an Engagement. Könnte sich unsere Jugend hier artikulieren, hat sie erhebliches Potenzial.
Das würde auch das Gesicht dieser Gesellschaft verändern. Ich glaube, sie kann beispielsweise im sozialen Umgang mit Älteren oder Eltern einiges von uns lernen. Viele Dinge, die hier langsam verloren gehen, könnten von den Muslimen wiederaufgebaut werden. Wenn wir die Weisheit von Hodscha Ahmet Yesevi, dass zuerst der Mensch zählt, in unseren Herzen zur Wirklichkeit werden lassen, werden auch viele Vorurteile abgebaut.
Islamische Zeitung: Lieber Ihsan Öner, wir bedanken uns für das Gespräch.