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Im Reich der Phantomdebatten

Ausgabe 275

(iz/KNA). Es kommt nicht häufig vor, dass aus Österreich Vorlagen kommen, die die deutsche Politik aufgreift. Das änderte sich vor einigen Wochen. Denn der nordrhein-westfälischen Landesregierung scheint die Initiative des schwarzblauen Bundeskanzlers Kurz zu gefallen. Auch im Westen denke man über ein Kopftuchverbot für Kinder unter 14 Jahren nach. Warum das politische Düsseldorf gerade jetzt eine weitere Phantomdebatte anfacht, bleibt bis auf Weiteres unbeantwortet.
Nach Ansicht des dortigen Integrationsministers Joachim Stamp (FDP) dürften Mädchen unter 14 Jahren, also nach dem deutschen Recht religionsunmündige Kinder, nicht gezwungen werden, ein solches Tuch zu tragen. Daher solle geprüft werden, ob diese Bekleidung für die Altersgruppe gesetzlich untersagt werden könne. Die ministerielle Staatssekretärin für Integration Güler (CDU) sekundierte: „Lehrer beobachten an den Grundschulen immer häufiger, dass schon siebenjährige Schülerinnen mit Kopftuch in den Unterricht kommen.“
Ibrahim Yetim, Integrationsexperte der SPD-Landtagsfraktion sieht in dem Vorhaben „kein Signal in Richtung Integration“. Stattdessen werde eine ganze Religion verdächtigt. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Widmann-Mauz (CDU) hat dem geforderten Kopftuchverbot eine Absage erteilt. Sie könne die Motivation dafür zwar gut nachvollziehen. Bei einer solchen Maßnahme stellten sich aber schwierige verfassungsrechtliche Abwägungsfragen.
Die Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes“ meint ebenfalls, einen Anstieg des „Kinderkopftuches“ erkannt zu haben. Oft geschehe das, wenn sich eine Religionsgemeinschaft nach außen abgrenzen wolle, glaubt Hania Luczak von der Organisation gegenüber dem Deutschlandfunk. Auch Stimmen aus Lehrerverbänden äußerten sich wohlwollend. Heinz-Peter Meidinger, Chef des Deutschen Lehrerverbandes, sagte der „BILD“, ein Kopftuchverbot würde dazu beitragen, Diskriminierung aus religiösen Gründen und antireligiösem Mobbing zumindest tendenziell den Boden zu entziehen.
Nicht alle Akteure des Bildungssektors stimmen zu. Helmut Holter (Die LINKE), Vorsitzender der Kultusministerkonferenz, hält ein solches Verbot für falsch. „Alle Kinder sollen sich zu freien und selbstbestimmten Individuen entwickeln können. Daher müssen wir die Demokratiebildung in den Schulen stärken.“ Für Christiane Mika, NRW-Landesvorsitzende des Grundschulverbandes, scheint diese Diskussion wenig sensibel und hilfreich. Ihr Verband sehe hier keinerlei Handlungsbedarf. Mario Vallana pflichtete ihr bei. Für den Landessprecher der Schulleitungsvereinigung der NRW-Gesamtschulen sei die Frage derzeit kein relevantes Phänomen. „Grundsätzlich halten wir nicht viel von pauschalen Verboten.“
Stimmen aus der Theologie, wie etwa Prof. Dr. Bülent Ucar, bemühen sich um Sachlichkeit. Bis zur Pubertät gäbe es keine Notwendigkeit für muslimische Mädchen, ein Kopftuch zu tragen. Verbotserklärungen „vom Obrigkeitsstaat“, so Ucar in der „Welt“, „werden wenig erreichen. Denn das führt zu einer Trotzreaktion“. Wie andere verwies der Osnabrücker darauf, dass es überhaupt kein belastbares empirisches Material für den behaupteten Anstieg von Kopftüchern bei kleinen Kindern gäbe.
„Kopftuchzwang und Kopftuchverbot schlagen in dieselbe Kerbe: Beide entmündigen Musliminnen“, sagte der Vorsitzende des Islamrats für die Bundesrepublik Deutschland, Ali Kizilkaya. Diese Debatte sei populistisch, symbolgeladen und inhaltsleer. „Als eine islamische Religionsgemeinschaft sehen wir es als unsere selbstverständliche Aufgabe, vor allem muslimische Mädchen in allen Lebenslagen zu stärken, sie beim Entdecken ihres eigenen Weges beistehend zu begleiten, aber auch vor jedem Zwang und Verbot der Religiosität zu schützen.“
Juristisch steht das Vorhaben auf wackligen Füßen. Rechtliche Zweifel meldete auch der Jurist Murat Kayman an. Im Grunde wolle sich das zuständige NRW-Ministerium in das Gespräch der Eltern darüber, in welchem Bekenntnis ihr Kinder erzogen werden solle, einmischen. „Das ist eine alarmierende Entwicklung im Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern.“ Nur wenn die Eltern ihrer Fürsorgepflicht nicht mehr nachkämen, dürfe der Staat „mittels abgestufter Maßnahmen“ in dieses Erziehungsrecht eingreifen.