„In der Tradition von Kolonialtruppen“: Der Historiker Stefan Petke über die Beziehungen der Nazis zu den Muslimen

Foto: Bundesarchiv, Bild 146-1974-059-40 / Gösling | Lizenz: CC-BY-SA 3.0Der Grossmufti ¸berzeugt sich von der Schiessausbildung der jungen Rekruten. 13.1.1944 [Herausgabedatum] PK-Aufnahme des SS-Kriegsberichter Gˆsling (Wb)

Der Berliner Historiker Stefan Petke analysiert in seiner nun als Buch erschienenen Dissertation sorgfältig und auf Basis teils neu ausgewerteter Quellen die Rolle muslimischer Hilfsverbände in deutschen Diensten im Zweiten Weltkrieg. Dabei kommt er zu einigen Neubewertungen, auch in Bezug auf die griffige These David Motadels eines muslimischen Eintretens „für Prophet und Führer“. Ein Gespräch. 

Frage: Herr Petke, waren die Muslime in deutschen Diensten im Zweiten Weltkrieg Täter oder Opfer?

Stefan Petke: Eine so eindeutige Zuordnung ist weder möglich noch sinnvoll. Zum einen ist es schwierig, von „den Muslimen“ zu sprechen. Zum anderen ist die Frage nach Opfer oder Täter vielschichtig. Muslimische sowjetische Kriegsgefangene, die sich ab Dezember 1941 zu den sogenannten Ostlegionen meldeten, hatten das Massensterben in den deutschen Kriegsgefangenenlagern überlebt. Und Angehörige der Roma auf der Krim oder in Albanien, die sich zu den Tatarenselbstschutzkompanien oder der Waffen-SS meldeten, taten dies aus Furcht, erkannt und im Porajmos umgebracht zu werden. Unter diesen Aspekten waren sie Opfer.

Frage: Ihr Buch enthält eine Reihe von Neubewertungen. So sehen Sie die muslimischen Einheiten in Wehrmacht und Waffen-SS in der Tradition von Kolonialtruppen. Wie genau ist das zu verstehen?

Stefan Petke: Schon die äußerlichen Ähnlichkeiten mit den Kolonialtruppen im deutschen Kaiserreich sind bemerkenswert. Auch hier wurden eigene Uniformen mit einem Fes verwendet. Der Sinn dieser eigenen Uniformen lag in der Kenntlichmachung der nichteuropäischen Soldaten als „fremd“. Darüber hinaus bekamen die Soldaten der „Ostlegionen“ eigene Dienstränge, die sie immer schlechter als deutsche Soldaten stellten. Eine 1942 gestiftete „Tapferkeits- und Verdienstauszeichnung für Angehörige der Ostvölker“ sollte, wie bei einem ähnlichen Orden für die Askaris im Ersten Weltkrieg, verhindern, dass nichtdeutsche Soldaten Tapferkeitsauszeichnungen wie das Eiserne Kreuz bekamen. 

Frage: Welches Bild von Muslimen hatten die Deutschen?

Stefan Petke: Muslime galten – unter anderem dank Karl-May-Romanen – als besonders brutale, aber auch tapfere Krieger, die besonders für den Einsatz im Guerilla- und Partisanenkampf geeignet seien. Aufgrund „natürlicher Eigenschaften“ seien sie gute Schützen, Reiter und insgesamt widerstandsfähiger. Aber auch negative koloniale Zuschreibungen wie übersteigerter Sexualtrieb, Maß- und Disziplinlosigkeit tauchen in diesem Zusammenhang auf. Nur das deutsche Militär sei in der Lage, dieses „wilde und ungestüme Wesen“ in geordnete Bahnen zu lenken. In den deutschen Quellen tauchen immer wieder Berichte über Misshandlungen und Diskriminierungen durch deutsche Soldaten und Vorgesetzte auf. Dies scheint ein großes und generelles Problem gewesen zu sein. 

Frage: Araber und „Turkestaner“ unter deutschen Fahnen waren letztlich auch Opfer von Rassismus?

Stefan Petke: Zum Wesenskern des Nationalsozialismus gehörte nicht nur ein eliminatorischer Erlösungsantisemitismus, sondern auch ein stark hierarchisiertes rassistisches Weltbild. Unter diesem Aspekt wurden Araber, Bosnier, Albaner, Tataren, Turkestaner und andere Volksgruppen in rassische Kategorien eingeordnet. Insofern waren sie Objekte von rassistischen und kolonialen Zuschreibungen. 

Frage: Die waren aber nicht eindeutig.

Stefan Petke: Die Bosnier etwa wurden „aufgenordet“. Es seien dort während der Völkerwanderung germanische Stämme durchgezogen und so sei noch viel „wertvolles Blut“ bei den Bosniern vorhanden. Bei den Aserbaidschanern war es die angebliche Nähe zur „indoarischen Rasse“. Trotz dieser ideologischen Verrenkungen blieben intime Beziehungen zwischen deutschen Frauen und Angehörigen der muslimischen Einheiten eine Grenzüberschreitung, die von den deutschen Behörden in der Regel verhindert wurde, durch Schwangerschaftsabbrüche und auch Konzentrationslagerhaft für die Frauen wegen „Rassenschande“.

Frage: Sie schildern Fälle, in denen sowjetisch-muslimische Kriegsgefangene aufgrund ihrer Beschneidung, aber auch ihres „asiatischen Aussehens“ für Juden gehalten und deshalb ermordet wurden. Waren Muslime Opfer deutscher Verfolgung?

Stefan Petke: Laut einer durch Himmler beauftragten Zählung wurden in deutschen Konzentrationslagern 1.130 Muslime gefangen gehalten. Neueste Forschungen von Reinhard Otto haben für das Konzentrationslager Mauthausen ergeben, dass unter den dort inhaftierten sowjetischen Kriegsgefangenen viele aus den sogenannten sowjetischen Orientrepubliken stammten. Viele der muslimischen Soldaten aus den französischen Kolonien hingegen kamen als Kriegsgefangene z.B. beim Bau der deutschen U-Bootbunker zum Einsatz. 

Frage: Waren Muslime am Holocaust beteiligt?

Stefan Petke: Dies muss eindeutig mit Ja beantwortet werden. Auf der Krim verriet die lokale muslimische Bevölkerung Juden an die Einsatzgruppe D. Angehörige der 152. Tatarenselbstschutzkompanie waren als Wachmannschaften im deutschen KZ Speckenbüttel (Krasny) auf der Krim tätig. Einheiten der Ostlegionen wurden als Sicherungskette um Ortschaften eingesetzt, deren jüdische Bevölkerung deportiert wurde. Einige deutsche Berichte kritisieren dabei aber, dass Juden nicht an der Flucht gehindert wurden. Die Division „Handschar“ beteiligte sich an der Ermordung der jüdischen Bevölkerung im Nordosten Bosniens. Angehörige der Division „Skanderbeg“ errichteten in Priština ein Konzentrationslager, in dem vor allem politische Gegner, zumeist Serben, aber auch Juden inhaftiert wurden.

Frage: Gab es Solidarität zwischen Moslems und Juden?

Stefan Petke: Für die Zivilbevölkerung z.B. in Sarajevo, Albanien oder Nordafrika ist dies belegt. In Albanien kam es zu keinem Massenmord an der jüdischen Bevölkerung. Viele europäische Juden versuchten, mit albanischen Visa nach Palästina und Übersee zu emigrieren. Als dies nach der Besetzung Albaniens durch Italien 1939 nicht mehr möglich war, wurden sie von der lokalen Bevölkerung versteckt. Albanien war das einzige Land Europas, in dem 1945 mehr Juden lebten als zu Beginn des Weltkrieges. 

Frage: Und in Nordafrika?

Stefan Petke: Ich konnte in den letzten Jahren als Gutachter sowohl für das israelische wie auch das deutsche Finanzministerium bei der Wiedergutmachung für marokkanische, tunesische und algerische Jüdinnen und Juden arbeiten. Dabei zeigte sich, dass die Entrechtung und Verfolgung in Algerien, das Teil des französischen Mutterlandes war und eine französische Verwaltung besaß, am stärksten ausgeprägt war. In Tunesien und Marokko dagegen, also Protektoraten mit eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten für den marokkanischen König und tunesischen Bey, gab es zwar auch antijüdische Maßnahmen oder lokale Ausschreitungen, jedoch besaßen diese nicht den systematischen Charakter wie in Algerien. 

Frage: Ab 1943 stellte auch die Waffen-SS muslimische Verbände auf, insbesondere die beiden Divisionen „Handschar“ und „Skanderbeg“. SS-Chef Heinrich Himmler lag sehr an der religiösen Betreuung „seiner“ muslimischen Einheiten. In der strikt antireligiösen SS war das eine absolute Ausnahme.

Stefan Petke: Himmler war in gewisser Weise vom Islam fasziniert. Er schaltete sich öfter persönlich ein und kümmerte sich um Dinge wie die Form der Fese oder Halal-Verpflegung. 

Frage: Die SS richtete sogar eine Schule für Feld-Imame ein!

Stefan Petke: Ja. Jedoch machte Himmler von Anfang an klar, dass die religiöse Betreuung als Teil der politischen bzw. weltanschaulichen Erziehung zu verstehen sei. Sein erklärtes Ziel war, eine schlagkräftige Truppe aufzubauen. Insofern stellten die muslimischen Einheiten zwar etwas Neuartiges innerhalb der Waffen-SS dar, folgten in ihrer Zielsetzung aber bekannten kolonialen Zuschreibungen. 

Frage: Neu bewerten Sie auch die Rolle des berüchtigten Großmuftis Mohammed Amin al-Husseini. Sein Einfluss auf die deutsche Islampolitik sei weitaus geringer gewesen als bisher angenommen. Woran machen Sie das fest?

Stefan Petke: Ein gewisser Einfluss al-Husseinis auf die deutsche Islampolitik ist zweifelsfrei zu erkennen, insbesondere bei der Aufstellung muslimischer Einheiten in der Waffen-SS und bei der Propaganda im arabischen Raum. Im Gegensatz hierzu muss sein Einfluss auf die deutsche Politik jedoch mehr als kritisch gesehen werden. Eine Vielzahl seiner Schreiben, mit denen er die deutschen Stellen überhäufte, wurde abgelehnt. Fast mitleidig vermerkte 1943 ein Unterstaatssekretär auf den Wunsch des Großmuftis, eine Propagandareise auf den Balkan unternehmen zu dürfen, dass dieses Mal das Auswärtige Amt zustimmen könne, da seine Wünsche regelmäßig abgelehnt würden und ein Schaden durch ihn kaum entstehen könne. Ein von mir im Auswärtigen Amt entdecktes Schreiben beweist sogar, dass im Oktober 1942 Admiral Wilhelm Canaris… 

Frage: …der deutsche „Abwehr“-Chef…

Stefan Petke: …offiziell beim Auswärtigen Amt anfragte, ob er den Großmufti ausschalten dürfe. Dies spricht nicht für eine uneingeschränkte Position al-Husseinis innerhalb des NS-Systems. 

Frage: Auch den Hitler-Attentäter Claus Graf Stauffenberg, der maßgeblich an der Aufstellung der muslimischen sog. Ostlegionen im Kaukasus beteiligt war, bewerten Sie neu.

Stefan Petke: Ein Autor schreibt in einer Biografie über Stauffenberg, sein Wirken aus christlicher Überzeugung und Menschlichkeit habe eine Gleichberechtigung der Ostlegionen als grundsätzliche Absage an den Nationalsozialismus im Sinn gehabt. Das ist natürlich vollkommener Quatsch. Es ging darum, das Zusammenbrechen der Ostfront zu verhindern. Die eilig aufgestellten Ostlegionen stellten hierfür nur Mittel zum Zweck dar. Dass viele ihrer Angehörigen kaum eine Chance hatten, im Einsatz zu überleben, war Stauffenberg wohlbekannt. Zu diesem Zeitpunkt trug er aktiv zur Verlängerung des Krieges bei, der zu diesem Zeitpunkt für alle Angehörigen der Oberkommandos erkennbar verloren war.    

Frage: Der Historiker Dan Diner legte jüngst in seinem Werk „Ein anderer Krieg“ den Fokus auf den II. Weltkrieg im Orient. Hätte Hitler den Krieg womöglich gewinnen können, hätte er sich ernsthaft auf den orientalischen Kriegsschauplatz fokussiert?

Stefan Petke: Das bezweifele ich. Frankreich war zwar besiegt und damit auch die französischen Truppen jenseits des Mittelmeeres. Allerdings hätte Franco überzeugt werden müssen, die Straße von Gibraltar für die Briten zu sperren, ebenso die Türkei, um den Bosporus für die sowjetische Schwarzmeerflotte zu sperren. Ägypten hätte erobert und der Sueskanal blockiert werden müssen. Dies hätte Großbritannien zwar empfindlich getroffen, jedoch nicht in die Knie gezwungen. An der Fortsetzung des Krieges und dem Kriegseintritt der USA als Partner Großbritanniens hätte dies nichts geändert. Dass die arabische Bevölkerung ein ausschlaggebender Faktor beim Kampf gegen die Briten gewesen wäre, kann bezweifelt werden. Selbst als für das Afrikakorps Alexandria und auch Kairo in ernsthafte Reichweite gerieten, kam es zu keinem Massenaufstand der Ägypter. Im Gegenteil: Im Rücken der deutsch-italienischen Truppen mussten Aufstände lokaler Bevölkerungen brutal niedergeschlagen werden. Die dabei begangenen deutschen Kriegsverbrechen sind heute in Vergessenheit geraten. Ein Erfolg wäre somit von einer ganzen Menge Unwägbarkeiten und einem schier unmöglichen Ausgleich unter den rivalisierenden Mittelmeerländern abhängig gewesen.

Von Stefan Petke erschien im März 2021 im Metropol Verlag Muslime in der Wehrmacht und Waffen-SS. Rekrutierung – Ausbildung – Einsatz. 582 S., 34€. Das Gespräch führte Konstantin Sakkas.