Essen (KNA). Angesichts der Kämpfe in Syrien und der Massendemonstrationen in der Türkei steht ein weiterer Staat der Region derzeit eher im Abseits: der Irak. Dabei war der Mai dort einer der blutigsten Monate in der jüngeren Vergangenheit. Mehr als 1.000 Menschen kamen gewaltsam ums Leben. Der Caritasverband im Bistum Essen hält als einziger deutscher Diözesancaritasverband seit rund sechs Jahren Kontakt zu dem Land. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) berichtet der Irak-Beauftragte der Essener Caritas, Rudi Löffelsend, von den Eindrücken seiner soeben beendeten Reise.
KNA: Sie selbst waren bislang über zehnmal im Irak. In der vergangenen Woche haben Sie den Norden besucht. Wie sieht die Lage dort aus?
Löffelsend: Wenn wir vom Norden sprechen, dann meinen wir zunächst mal die Autonome Region Kurdistan mit der Hauptstadt Erbil. Dann gibt es, außerhalb dieser Region, zwischen der Stadt Mossul und der Autonomen Region, aber unter ihrem Einfluss stehend, die Ninive-Ebene, die offiziell zum Zentralteil des Landes gehört.
KNA: Beginnen wir mit Kurdistan.
Löffelsend: Die Autonome Region hat sich inzwischen zu einer absoluten Boom-Region und einem Hort der Stabilität inmitten einer ziemlich chaotischen Umgebung entwickelt. Erdöl, Ackerbau in großem Stil und der Handel mit den Nachbarländern sorgen für einen gewissen Reichtum. Die politische Lage ist stabil. Seit 2007 hat es keine Attentate mehr gegeben. Politiker, die in Bagdad nur mit 30 Personenschützern die „grüne Zone“ des Regierungsviertels verlassen, können sich in Erbil frei bewegen.
KNA: Färbt diese Stabilität auch auf Mossul und die Ninive-Ebene ab?
Löffelsend: Bedingt. So sorgen in der Ninive-Ebene kurdische Sicherheitskräfte mit dafür, dass es nicht zu Konflikten kommt. Trotzdem ist die Ebene, übrigens eine urbiblische Gegend, zu einer Art Niemandsland geworden. Die Zentralregierung versucht, muslimische Extremisten dorthin abzuschieben. Hinzu kommen immer mehr Flüchtlinge, und gleichzeitig fehlt es komplett an wirtschaftlichen Perspektiven. Das gilt auch für Mossul.
KNA: Wie wirkt sich der Konflikt im benachbarten Syrien auf den Nordirak aus?
Löffelsend: Indem immer mehr Menschen, vor allem Kurden, über die gemeinsame Grenze von Syrien in den Irak strömen, Nacht für Nacht ungefähr 700 bis 900 Leute. Dazu muss man wissen, dass auch im Osten Syriens traditionell Kurden siedeln. Syrien erfuhr infolge des Irakkriegs noch einmal einen Zuwachs um rund 300.000 Personen – die jetzt größtenteils wieder zurückkommen, weil der Irak inzwischen mehr Sicherheit verspricht als Syrien.
KNA: Wer kümmert sich denn um diese Flüchtlinge?
Löffelsend: Das ist für mich der eigentliche Skandal an der Geschichte. Die Autonome Region Kurdistan wird mit diesem Problem von der internationalen Gemeinschaft komplett alleingelassen. Außer „Ärzte ohne Grenzen“ zeigt keine andere große Hilfsorganisation Präsenz. Nicht aus Deutschland, nicht aus anderen Ländern – übrigens kommt auch nichts von muslimischer Seite oder der Zentralregierung in Bagdad.
KNA: Über welche Dimensionen reden wir?
Löffelsend: Nur ein Beispiel: Wir haben diesmal das in der Autonomen Region gelegene Flüchtlingslager Domiz besucht, ausgelegt für 8.000 Bewohner. Im Juni 2012 lebten dort 12.000 Menschen, im November waren es schon 50.000, und jetzt sind es 80.000. Da fehlt es einfach an allem.
Die Verantwortlichen in Domiz sagen ganz offen: „Wir brauchen Experten für die Leitung eines solchen Camps. Wir brauchen Ärzte und Pfleger, wir brauchen Fachkräfte, die sich um die Betreuung und schulische Bildung der Kinder kümmern, wir brauchen Menschen, die sich in der internationalen Helferszene auskennen und Anträge formulieren können.“ Das alles ist nicht so sehr eine Frage des Geldes – das ist durch die Erdölvorkommen vorhanden –, sondern eine strukturelle Frage. Es bräuchte einfach große Organisationen, die sich langfristig im Irak engagieren.