Interview mit Björn Bicker: „Migration ist der Normalfall“

(iz). Die jetzige Flüchtlingskrise stellt nicht nur die Politik, sondern viele Aspekte unseres Alltags und Landes vor Herausforderungen. Unter anderem geht es um das Finden einer neuen Sprache und, ob bisherige Identitäten weiterhin tragbar. Vom 16. bis zum 18. Oktober fand auf allen Bühnen der Münchner Kammerspiele der erste OPEN BORDER KONGRESS statt, mit dem sich auch die Kunst zu Wort melden wollte. Wir sprach vorab mit einem der beiden künstlerischen Leiter, Björn Bicker.

Islamische Zeitung: Sehr geehrter Herr Bicker, vom 16.-18. Oktober fand auf allen Bühnen der Münchner Kammerspiele der erste OPEN BORDER KONGRESS statt. Sie wollten Antworten darauf geben, wie „wir das Einwanderungsland Deutschland gestalten wollen“. Auch Künstler und Kulturschaffende haben sich zu dem Thema zu Wort gemeldet … wir würden Sie die bisherige Debatte in Deutschland bewerten?

Björn Bicker: Debatte? Es gibt leider keine wirklich ernstzunehmende Debatte. Das ist das Problem. Es gibt von Seiten der Politik lediglich recht kurz gedachte Reaktionen, sowohl, was die Grenzpolitik Europas angeht, als auch, was das Zusammenleben im Inneren betrifft. Ich sehe nirgendwo eine wirklich gute Auseinandersetzung darüber, wie wir in Zukunft mit der Situation auf der Welt umgehen wollen.

Migration ist der Normalfall, wird aber skandalisiert. Also gibt es auch keine wirklich menschenfreundlichen Konzepte, wie mit der aktuellen Situation umgegangen werden kann. Man merkt jetzt, dass wir es über Jahrzehnte verschlafen haben, tragfähige Modelle von Einwanderung auf der einen Seite und lebbare Regeln für unsere Einwanderungsgesellschaft auf der anderen Seite zu entwickeln. Was steckt da dahinter? Man muss das auch getrennt sehen von der aktuellen Situation – dass so viele Menschen auf der Flucht nach Europa, nach Deutschland kommen. Das ist eine Managementaufgabe, die es zu bewältigen gilt.

Um so ärgerlicher ist diese regressive Angstmache der Politik und die Rede davon, man sei überfordert. Hallo? Diese Leute werden dafür bezahlt, dass sie Probleme lösen sollen. Die Lokalpolitiker agieren da meistens viel mutiger und zupackender. Die Bundespolitik sollte lieber Probleme lösen, anstatt rumzujammern oder schlimmer noch: Die Stimmung zu vergiften. Aber politisch geht es um ein viel größeres Thema: Die Welt ist kleiner geworden, wir alle haben mit den Konflikten auf der ganzen Welt zu tun. Historisch, wirtschaftlich, politisch, ja sogar persönlich. Das müssen wir uns eingestehen, dann werden wir handlungsfähig sein. Solange wir dem Irrglauben aufsitzen, wir könnten uns hier in Europa vom Rest der Welt trennen, solange wird nur Verderben produziert. Das wurde auf unserem Kongress so deutlich: Wir haben bewusst nur Leute eingeladen, die positiv über die Zukunft der Einwanderungsgesellschaft nachdenken wollten.

In einem waren sich alle einig: Es fehlt bei den Entscheidern und in großen Teilen der Bevölkerung am Wissen um solche Konzepte. Aber es gibt sie. Es gibt großartige Migrationsforscher, es gibt umwerfende Initiativen vor Ort, es gibt Konzepte von Teilhabe, Gerechtigkeit und so weiter. Es gibt Modelle von Migration die wesentlich komplexer sind als Grenze auf/Grenze zu. Was es aber auch gibt: Diese unglaubliche Diskrepanz zwischen dem, was ein Teil der Zivilgesellschaft gerade entwickelt und ermöglicht, und der Angst der Politik, die einhergeht mit der Angst einer immer größer werdenden Bevölkerungsgruppe. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das nicht mehr lange gut geht.

Islamische Zeitung: Momentan werden existenzielle Fragen wie die nach den Flüchtlingen sehr doktrinär und polarisierend behandelt. Sehen Sie Alternativen dazu? Können Kultur und Kunst Brücken bauen?

Björn Bicker: Selbstbewusst gesprochen: Ja! Auch wenn der Beitrag vielleicht nur klein ist, so könnte er doch modellhaft sein. Wir sehen in allen Gesellschaften, bei allen Problemen, dass es einen Ansatz gibt, der vermutlich am besten funktioniert. Und das ist Begegnung. Leute müssen sich kennenlernen, miteinander etwas zu tun haben, eine gemeinsame Aufgabe bewältigen. Die Soziologen nennen das die Kontakt-Hypothese. Wenn die Leute sich kennenlernen, dann sinkt die Aggression, die Angst, die Furcht vor dem vermeintlich Fremden. Und Theater kann diese Begegnung inszenieren.

Dazu muss das Theater sich allerdings auch selbst ändern. In meinen Projekten (New Hamburg (www.new-hamburg.de) und Urban Prayers zum Beispiel) geht es im Kern immer um das Inszenieren von Begegnung. Das findet dann nicht (nur) auf Bühnen statt, sondern im sozialen Raum, in Moscheen, Kirchen, in öffentlichen Räumen, aber manchmal auch im Theater. Im Rahmen von URBAN PRAYERS 2013 haben wir die Münchner Kammerspiele temporär in eine Moschee verwandelt, die Muslime haben dort gebetet und der Gebetsruf wurde von der Tonabteilung des Theaters in die Nachbarschaft übertragen. Anschließend gab es zum Abschluss des Projekts ein großes, gemeinsames Iftar. Anwesend waren: Theaterzuschauer, Mitarbeiter des Theaters, Juden, Christen, Buddhisten, Bahai, Sikhs und natürlich Muslime aus unseren unterschiedlichen Partnergemeinden.

Das Abendland ist nicht untergegangen, im Gegenteil. Es hat geleuchtet. Alle waren glücklich und haben sich gemeinsam gefreut. In einem der kulturellen Zentren der Stadt wurde ein Bild geschaffen. Schaut mal: So sieht Anerkennung aus. Respekt. In den Wochen davor wurde in Moscheen Theater gespielt, in Tempeln, in der Synagoge. Menschen, die sich ohne solche Projekte normalerweise nie begegnen würden, treffen sich, machen etwas zusammen und lernen sich darüber kennen. Danach sieht die Welt anders aus.

Ein ganz kleines, aber um so beeindruckenderes Beispiel aus unserer aktuellen Arbeit am MUNICH WELCOME THEATRE: Wir haben die Leute von I,Slam eingeladen, einen Poetry Slam Work-Shop mit Gymnasiasten aus Grünwald (Münchens weiße Nobelgegend) und einer ebenso großen Gruppe von jungen Menschen, die auf der Flucht nach München gekommen sind, zu machen. Die haben sich drei Tage lang kennengelernt – da sind Welten aufeinander getroffen. Was entstanden ist: Empathie. Das brauchen wir: Empathie. Und das können Theater, Kunst erzeugen. Wenn sie den Raum dafür bieten.

Islamische Zeitung: Lieber Herr Bicker, eines der häufig bemühten Themen, gerade auch bei der Frage nach Flüchtlingen, ist das der „Identität“. Wie würde eine solche aussehen und können Menschen wirklich in den ortungslosen und hybriden Konstrukten zu Hause sein?

Björn Bicker: Nein, ich glaube nicht, dass Menschen in solchen Konstrukten zu Hause sein können. Aber trotzdem taugt der gewöhnliche Identitätenbegriff meiner Meinung nach nicht mehr.

Die Realität ist einfach eine sehr komplizierte. Man ist heutzutage in vielen Identitäten gleichzeitig zu Hause. Ich bin Muslim, Christ oder Jude, freischaffender Künstler, Familienvater, Zugereister in Bayern, Rheinländer, Kaiserslautern-Fan, Deutscher, Europäer, Kleingärtner, Fahrradfahrer, Elternbeiratsmitglied, auf-dem-Dorf-aufgewachsen, überzeugter-Städter und was weiß ich noch alles. Und so geht es jedem und jeder. Das muss ich akzeptieren. Bei Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund ist diese Multiplikation der Identitäten ja meistens noch ausgeprägter.

Das heißt auch: Es gibt so etwas wie eine abgeschlossene deutsche Identität nicht. Was soll das denn sein in einem Einwanderungsland? Ich lebe in München und hier ist es schön zu sehen, wie langsam aber sicher, die Diversität der Bevölkerung auch ins identitäre Bewusstsein der Leute vordringt. „Wir sind viele.“ „München ist bunt.“ „Mia san ned nua mia.“ Das sind Slogans, die von den Münchnern kommen und vor allem eins beschreiben: Wir definieren uns als Gemeinschaft darüber, dass wir viele verschiedene sind und die Verschiedenheit der Anderen ist etwas, was ich als Bereicherung erfahre und schützenswert finde. Das wäre das Ideal für mich.

Der Einzelne braucht Heimat. Ganz klar. Religion. Familie. Das kann ja vieles sein. Aber wenn ich weiß, dass mich die Heimat des anderen nicht bedroht und ich die Möglichkeit habe, mich in meiner eigenen Heimat frei zu entfalten, dann will ich, dass das auch für den anderen gilt. Für diese Freiheit brauchen wir Erzählungen, die fehlen uns noch. Auch das kann Kunst und Theater übrigens leisten. Diese Erzählungen von gelingender Vielfalt zu kreieren.

Islamische Zeitung: Wie hilfreich ist dabei der Versuch, durch neue Begriffe („Refugees“ statt „Flüchtling“) eine neue Perspektive einzunehmen?

Björn Bicker: Sprache spielt bei dem Kreieren neuer Narrative natürlich eine Riesenrolle. Deshalb macht es schon einen Unterschied, ob ich jemanden als Flüchtling bezeichne oder als einen Menschen, der auf der Flucht zu uns gekommen ist. Die eine Formulierung ist eine Versachlichung, eine Zuschreibung, damit bediene ich das Bild des Opfers, des Hilfsbedürftigen, ich reduziere einen Menschen auf sein Flüchtling-Sein. Die andere Formulierung sagt: Das ist ein Mensch, wie Du und ich. Und dieser Mensch ist auf der Flucht. Also muss ich mich ihm zuwenden.

Sprache schafft Bewusstsein. Das gilt für so vieles. Das gilt übrigens für den gesamten Diskurs über Migration. Weil fast jedem Reden über Migration das Problematische immer schon eingeschrieben ist. Auch da, wo es nicht um Probleme geht, sondern um Normalität. Es könnte auch anders sein: Chance. Freiheit. Gewinn. Bereicherung. Öffnung. Aufgabe statt Problem. Befreiung statt Angst.

Islamische Zeitung: Halten Sie es für möglich, dass aus der jetzigen Krise eine Kultur- oder Sinnstiftung möglich sein könnte?

Björn Bicker: Ja. Wenn wir zum Beispiel aufhören von Flüchtlingskrise zu reden, sondern sagen, dass wir es mit einer globalen Krise zu tun haben, deren Auswirkung es ist, dass sich viele Menschen auf den Weg machen. Wenn wir es schaffen, dass wir das als unsere gemeinsame Aufgabe begreifen. Auch hier wieder eine kleine Beobachtung aus München: Als so viele Menschen am Hauptbahnhof den Neuankommenden Menschen geholfen haben, dann waren da sehr viele unterschiedliche Menschen, Migranten, Nicht-Migranten, Muslime, Christen, Atheisten, die haben einfach alle zusammen geholfen.

Das habe ich in Deutschland so bisher noch nicht erlebt. Es bestünde also die Möglichkeit, dass die Sphären ineinander greifen. Das interessante an Merkels Satz „Wir schaffen das!“ ist die Frage nach dem WIR. Wer ist damit gemeint? Es kann ja nur die Gesellschaft sein, die durch Migration geprägt ist. Das neue Wir. Davon müssen wir berichten. Von diesem neuen Wir.

Islamische Zeitung: Wenn ja, wie könnten Ansätze zu einer solchen aussehen?

Björn Bicker: Da wären wir wieder bei unserem Projekt: Der OPEN BORDER KONGRESS war ja nur der Auftakt zu dem großen Vorhaben MUNICH WELCOME THEATRE. Wir als Künstler haben den Auftrag vom Theater, Konzepte zu entwickeln, wie wir die städtische Institution gemeinsam mit den MitarbeiterInnen und geflohenen Menschen für die Realität von Flucht, Ankunft und Asyl öffnen können. Welche Kooperationen sind denkbar? Welche Ausbildungsprogramme kann man auflegen, welche Themen sollen behandelt werden, wer soll überhaupt ins Theater kommen, wer soll dort arbeiten, wie kann man geflohene Menschen in die Arbeitsprozesse des Theaters mit einbinden?

Es geht also darum, die Institutionen zu öffnen. Es muss selbstverständlich werden, dass unsere Institutionen für alle zugänglich sind. Und zwar nicht nur symbolisch, sondern auch so, dass sie genutzt werden können. Das was wir die letzten 50 Jahre weitestgehend verschlafen haben. Warum auch immer. Das gilt für Theater, Universitäten, Bibliotheken, Schulen, alles mögliche. Daran müssen wir (auch) arbeiten. Dazu gehört die Akzeptanz von Diversität. Dazu gehört zum Beispiel auch, dass man die Religiosität der Leute anerkennt. Im Rahmen des OPEN BORDER KONGRESS haben wir ein Vernetzungstreffen Münchner Gemeinden organisiert. Also christliche und muslimische Gemeinden, die Arbeit mit geflohenen Menschen machen, haben sich getroffen und sich gegenseitig erzählt, wo es fehlt, wie es gehen könnte, was die spirituellen Grundlagen für Barmherzigkeit oder politisches handeln sind. Plötzlich entstehen neue Netzwerke.

Wegen des Themas, wegen der Aufgabe sitzen da plötzlich orientalische Christen und somalische Muslime, deutsche Juden, armenische Christen, türkische und ägyptische Muslime zusammen in einem Raum, essen gemeinsam, reden miteinander und schmieden gemeinsame Pläne. Wir haben das die Refugee Friedenstafel genannt. Ein zartes Pflänzchen, aber ein Beispiel dafür, was die Ankunft der vielen Menschen hier bei uns auch für Chancen bringt – auch für uns als Einwanderungsgesellschaft.

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