
Ob „Islamisierung“ oder „Unterwanderung“: Rechte und bürgerliche Stimmen erzeugen Narrative, die keinen empirischen Standards entsprechen.
(iz). Nicht Klimawandel, hybride Kriegführung Russlands, Rechtsruck oder Wirtschaftskrise scheinen Teile der Deutschen so zu fürchten wie die Schreckwörter „Umvolkung“ und „Islamisierung“. Während das erste Phänomen eine extrem vage Verbindung zur Wirklichkeit hat – den realen demografischen Wandel –, entbehrt das Letztere jeder Grundlage.
„Islamisierung“ – Verschwörungstheorie mit anderen Mitteln
Nicht nur Muslime hier wenden sich seit Jahren gegen das Zerrbild einer „Islamisierung“ und den damit verbundenen Generalverdacht. Ihre große Mehrheit lebt gesetzestreu und zeigt so, dass es keinerlei reale Bestrebungen gibt, ein solches Projekt zu verfolgen.
Renommierte Experten wie der Islamwissenschaftler und Jurist Mathias Rohe, Direktor des Erlanger Zentrums für Islam und Recht in Europa, argumentieren seit Langem gegen diese weitverbreitete Verschwörungstheorie.
Der Begriff „Islamisierung“ ist ein zentraler Kampfbegriff in der Debatte, insbesondere im rechtskonservativen und -populistischen Spektrum. Der frühere AfD-Politiker Alexander Gauland etwa nutzte diese Terminologie regelmäßig, um eine vermeintliche Bedrohung der deutschen Kultur und Gesellschaft durch „den Islam“ zu beschwören.
So sagte er beispielsweise 2018 auf dem Bundesparteitag: „Wir wollen keine Islamisierung Deutschlands. Der Islam gehört nicht zu Deutschland.“
Auch seine Parteikollegin Von Storch sprach 2017 auf Facebook von einer „schleichenden Islamisierung“ und „Unterwanderung“ der deutschen Werte: „Wir erleben eine schleichende Islamisierung unseres Landes, die von der politischen Elite nicht nur geduldet, sondern aktiv gefördert wird.“
Foto: Nicolaus Fest, via flickr | Lizenz: CC BY-ND 2.0
Der einflussreiche Psychologe und Publizist Ahmad Mansour nutzt diese pauschalisierte Markierung nicht. Er kritisierte seine Nutzung 2018 in einem Interview: „Der Begriff ‚Islamisierung‘ wird von Rechtspopulisten benutzt, um Angst zu schüren. Es gibt Herausforderungen durch den politischen Islam, aber eine pauschale Islamisierung findet nicht statt.“
Frei von verschwörungstheoretischen Sprachbildern ist er hingegen nicht. Differenzierter und in Abgrenzung zu plumpen Rechtsextremen warnte er wiederholt vor „Unterwanderung“ in der Bundesrepublik durch den „politischen Islam“.
Dieses Vokabular taucht in seinen Texten wie bei öffentlichen Auftritten auf. „Unterwanderung bedeutet nicht, dass wir in zehn Jahren ein Kalifat in Deutschland haben. Ich meine damit, dass der Einfluss von Jahr zu Jahr größer wird. (…) Wir sehen es in den letzten Monaten, beispielsweise daran, wie DITIB-Moscheen genehmigt werden; zuletzt in Wuppertal, ohne dass Politiker eine Ahnung haben, was die Imame dort predigen“, sagte er im Gespräch mit der „Augsburger Allgemeinen“.
Dass muslimische Gemeinschaften von der rechtlich einwandfreien Möglichkeit Gebrauch machen, Gebäude zu errichten, scheint schon problematisch.
Mit einer solchen Rhetorik lässt sich nahezu jede Alltagspraxis als potenziell gefährlich interpretieren, ohne sich allzu offen im rechten Spektrum zu positionieren. Mansour sagte etwa 2022 dem Magazin „Cicero“:
„Die Islamisten sind nicht kurz davor, unsere Gesellschaft zu übernehmen, sie haben aber Macht. Vor allem auf lokaler Ebene haben sie schon einen nicht zu unterschätzenden Einfluss. Und in manchen Parteien sind die dritten bis vierten Reihen bereits besetzt durch Islamistenunterstützer oder Verharmloser.“
Während sich die Rhetorik am rechten Rand häufig verschwörungstheoretischer Sprachbilder bedient, greifen solche bürgerlichen Stimmen auf Techniken wie Assoziation, Generalverdacht oder den Verweis auf Extremfälle zurück.
Nicht selten muss dabei das Beispiel Berlin stellvertretend für alles Muslimische herhalten. Abgesehen von fragwürdig zitierten Umfragen mangelt es beiden an der empirischen Grundlage, die für eine seriöse Debatte unerlässlich wäre.
Empirisch sind diese Vorstellungen unhaltbar
In vielen deutschen Landesregierungen und in der Bundesregierung sitzen eine Handvoll von Ministern und Staatssekretären mit Zuwanderungsgeschichte. Keiner von diesen wie Staatsministerin Güler ist dafür bekannt, praktizierende Muslimin oder gar „Islamistin“ zu sein.
Nach Jetztstand gibt es im Bund und den Landtagen zwar Abgeordnete mit muslimischem Hintergrund. Unter ihnen – darunter den 19 MandatsträgerInnen des Bundestags mit „muslimischem Migrationshintergrund“ – gibt es kaum, bis gar keine Parlamentarier, die praktizieren würden.
Schauen wir auf die Bereiche Staat, Bürokratie und Ämter, zeigt sich ein ähnliches Bild: Selbstverständlich arbeiten im öffentlichen Dienst, in der Verwaltung und bei der Polizei praktizierende Muslime.
Gleiches gilt für die Bundeswehr, in der Schätzungen zufolge zwischen 1.600 und 6.000 Menschen islamischen Glaubens ihrem Land dienen. Einzelne Angehörige der Streitkräfte sind dafür bekannt geworden, wie sie ihren Militärdienst mit ihrer Religionspraxis in Einklang bringen.
Foto: Bundeswehr/Rolf Klatt
Bei Parteien und deren Organen zeigt sich ein ähnliches Bild: Es gibt zwar prominente Mitglieder mit Migrationshintergrund, doch es mangelt an sichtbaren Vertretern, die offen für die Belange religiös praktizierender Personen eintreten oder entsprechende Gesetzesinitiativen anstoßen.
Dieses Defizit wird von Beobachtern und Teilen der Community kritisiert, da sich viele dadurch politisch nicht ausreichend repräsentiert fühlen. Auch bei den Parteistiftungen ist die Lage vergleichbar: Sichtbare und bekennende Muslime in Führungspositionen sind nur selten zu finden.
Ein Grund dafür ist, dass Parteien ihre Repräsentanten in erster Linie wegen der Wählbarkeit und weniger nach identitätspolitischen Kriterien auswählen.
Bei der Wissensproduktion und -vermittlung – an Universitäten, in Forschungseinrichtungen, Stiftungen und Massenmedien – sind bekennende und praktizierende Muslime vertreten. Abgesehen von einer kleinen Gruppe, die überwiegend in den Fachgebieten Islamwissenschaft, Theologie oder Migration tätig ist, bleibt ihre Zahl begrenzt.
Ähnliches gilt für andere öffentliche Institutionen: Zwar gibt es dort Mitarbeiter und Stipendiaten mit einem solchen Hintergrund, doch kaum jemanden, der eine einflussreiche Führungsposition innehat.
Das Bild in Qualitäts- und Massenmedien ist vergleichbar. Die Zahl muslimischer Journalistinnen und Journalisten – festangestellt bzw. freiberuflich – ist in den letzten Jahren gestiegen. Doch in Spitzenpositionen wie Ressortleitungen oder Chefredaktionen sind bislang keine Angehörigen der Community bekannt.
Stellungnahmen, etwa vom Zentralrat, kritisieren diese mangelnde Sichtbarkeit und Repräsentanz islamischen Lebens in zentralen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere in der Medienlandschaft.
In der freien Wirtschaft – allen voran in den obersten Führungsebenen wie Aufsichtsräten, Geschäftsführungen oder dem Top-Management großer Konzerne – sind in Deutschland bislang keine praktizierenden Muslime öffentlich bekannt.
Weder die verfügbaren Quellen noch Berichte nennen Beispiele für Personen, die in DAX-Unternehmen, bedeutenden Mittelständlern oder in Aufsichtsgremien der deutschen Wirtschaft eine herausgehobene Rolle einnehmen. Aktuelle Analysen zur Diversität in Unternehmensführungen heben die geringe Repräsentanz von Menschen mit einem solchen Hintergrund – und insbesondere von offen praktizierenden Muslimen – hervor.
Zwar arbeiten Millionen als Arbeiter und Angestellte, doch in den höchsten Leitungsfunktionen sind sie bislang weder sichtbar noch öffentlich präsent.
Alleine schon dieser oberflächliche Blick auf die deutschen Verhältnisse zeigt, dass die Angst- und Schlagworte „Islamisierung“ bzw. „Unterwanderung“ nicht begründet sind, wenn es um relevante Schlüsselstellungen in Staat, Gesellschaft oder Wirtschaft geht. Die damit verbundenen Narrative mögen beim Zielpublikum ankommen, die Wirklichkeit bilden sie nicht ab.
Foto: FAU/Boris Mijat
Jurist und Islamwissenschaftler Rohe ordnet die Debatte in den richtigen Kontext ein
Der Begriff „Islamisierung“ werde laut dem oben erwähnten Mathias Rohe häufig zur Beschreibung „islamistisch-extremistischer Entwicklungen“ genutzt, sei aber irreführend. Tatsächlich handele es sich dabei um eine politische Ideologie, die eine islamische Gesellschaftsordnung über den säkularen Staat stellen wolle.
Nur ein kleiner Teil der muslimischen Bevölkerung in Deutschland unterstütze solche Positionen. Das zeigten zahlreiche Studien. Die Mehrheit lebe religiös im privaten Rahmen. Er warnte vor pauschalen Unterstellungen: Spirituelle Praktiken wie das Tragen eines Kopftuchs oder ein Verzicht auf den Handschlag sollten nicht vorschnell als Zeichen von Extremismus gewertet werden.
Wer Normalität mit „Islamismus“ verwechsle, betreibe eine gefährliche Täter-Opfer-Umkehr. Feindliche Pauschalurteile förderten nicht Sicherheit, sondern Radikalisierung.
Er wies darauf hin, dass zahlreiche seriöse Erhebungen (darunter die BAMF-Studien zum muslimischen Leben 2020 sowie die spätere Untersuchung zur Zusammengehörigkeit) entsprechende Erkenntnisse lieferten. Verschiedene Untersuchungen des Bertelsmann-Religionsmonitors kämen zu ähnlichen Ergebnissen.
Der Wissenschaftler betonte, dass manche Studien mit problematischen Fragestellungen im deutlichen Gegensatz zu seriösen stünden. So werde beispielsweise kritisiert, dass Befragte gefragt würden, ob ihnen die Regeln ihrer Religion – wie etwa „die Scharia“ – wichtiger seien als das deutsche Recht.
Durch eine solche Methodik werde ein fundamentaler Widerspruch suggeriert, der in Wirklichkeit nicht existiere. Dies bestehe zum größten Teil aus religiös-ethischen Vorschriften, die grundsätzlich durch die Religionsfreiheit geschützt seien.
Hinsichtlich rechtlicher Normen lehre diese, dass gläubige Muslime die Gesetze des Landes, in dem sie leben, respektieren müssten, was für die Mehrheit ohnehin selbstverständlich sei. „Wer tatsächlich vorhandene problematische Einstellungen z.B. zum Verhältnis der Geschlechter oder zu Körperstrafen erforschen möchte, muss dies mit konkreten Fragestellungen tun, die wissenschaftlichen Standards entsprechen. Dafür ist freilich Fachkenntnis erforderlich, und die Ergebnisse sind deutlich weniger spektakulär.“
Bei diesem Thema plädierte er für Minderheitenschutz. „Religionsfreiheit im säkularen Staat äußert sich in der Neutralität des Staates gegenüber Religionen sowie deren Gleichbehandlung, auch im Alltag.“ Wer diese zwar abstrakt begrüße, aber ihre Einschränkung im Falle von Muslimen und Musliminnen in Deutschland gutheiße, „stellt sich gegen rechtsstaatliche Grundsätze“.
Für ihn bewähre sich ein auf Rechtsgrundlagen agierender Staat im Schutz von Minderheiten. „Religionsfreiheit ist zudem dynamisch. Sie erstreckt sich nicht nur auf historisch etablierte Religionen. Deshalb ist die Errichtung einer religiösen Infrastruktur für die muslimische Bevölkerung eine schiere Normalität und hat nichts mit ‘Islamisierung’ zu tun.“
Rohe wies darauf hin, dass das Übernehmen von AfD-Parolen aus Angst durch die Mitteparteien letztlich „Islamismus“ und Rechtsextremismus begünstigen könne. Staatspolitische Verantwortung bedeute aus seiner Sicht, einerseits effektive Maßnahmen gegen tatsächliche Probleme radikaler Ideologien zu ergreifen und andererseits der destruktiven Agenda extremistischer Gruppen wie der AfD entgegenzutreten.