Zweiteilige IZ-Serie über unseren Blick auf Kriege bzw. bewaffnete Konflikte. Und darüber, warum es wichtig ist, sich mit der eigenen Perspektive zu beschäftigen.
(iz). Als Europäer leben wir seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in einer der sichersten Regionen der Welt. Krieg kennen wir – mit Ausnahme der Balkankriege in den 1990er Jahren – nur durch Medien und von Menschen, die deswegen zu uns fliehen mussten. Wir Deutschen haben nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts eine friedliche Nachkriegszeit erlebt. Hinzu kam, dass uns dank fehlender Kolonien die „dreckigen“ Kleinkriege der Dekolonisierung erspart blieben und dass es jahrzehntelang einen Konsens gab, sich mit dem Thema nicht beschäftigen zu wollen.
Das heißt nicht, dass die Bonner Republik nicht indirekt durch Waffenlieferungen an kriegführende Parteien beteiligt war. Wir waren aber bis in die späten 1990er Jahre hinein eine Gesellschaft, in der alles Militärische kaum Interesse weckte. Umso desorientierter reagierten die Eliten auf den in der Nachbarschaft ausgebrochenen Krieg gegen die Ukraine – und damit auf das Phänomen organisierter, bewaffneter Gewalt. Dabei hätten wir es besser wissen können: Auch im 21. Jahrhundert gehören kriegerische Auseinandersetzungen zur menschlichen Erfahrung.
Bewaffnete Zeiten & Kriege: jene, die wir nicht sehen
2024 gab es mehrere schwere Kriege – u.a. in Gaza und im Nahen Osten, in der Ukraine, im Sudan, in Myanmar (Burma), Nigeria, Somalia, Burkina Faso, Mexiko (Staat vs. Drogenkartelle), Syrien und Mali. 2024 (noch ohne Syrien) forderten sie in Gaza, der Ukraine, Myanmar, Sudan und Nigeria die meisten zivilen Opfer.
Wie in Vorjahren ist die globale Aufmerksamkeit (eher Fiktion als Realität) für bewaffnete Gewalt ungleich verteilt. Sie wird aufgrund verschiedener Faktoren unterschiedlich wahrgenommen. Die Hilfsorganisation CARE International veröffentlicht ab 2013 den Bericht „Breaking the Silence“. Seit zehn Jahren wird darin festgehalten, über welche gewalttätige Krisen nicht gesprochen wird. Die erschreckende Bilanz für 2023: Die am wenigsten beachteten ereigneten sich alle in Afrika.
Foto: UNICEF | UN Photos
„Menschliches Leid passt in keine Rangliste. Die 10 Krisen, die keine Schlagzeilen machten, betreffen Millionen von Menschen und finden dennoch kaum Gehör. CARE geht es mit dem Report nicht um eine Anklage. Er ist vielmehr eine Aufforderung an alle, mehr über diese Krisen zu erfahren, die Informationen zu teilen, sich zu engagieren“, sagte Corinna Henrich 2023. Dass das Kämpfen und Sterben (der Zivilbevölkerung) in Afrika so erschreckend wenig Beachtung findet, lässt sich nicht allein mit dem oft zitierten „Eurozentrismus“ erklären. CARE International bezog u.a. auch die arabischen Medien mit ein.
Grob lassen sich drei Modi des Umgangs mit Kriegen unterscheiden. Da es keine abstrakte „Weltöffentlichkeit“ gibt, die alles gleich bewertet, hängen Bewertungen und Interessen zum Teil erheblich von lokalen Interessen und Befindlichkeiten ab.
a) Ist bekannt und bewegt „uns“ (das konstruierte Gesamt-Ich, abhängig vom jeweiligen Erkenntnisinteresse) wie im Falle der Ukraine oder des Nahostkonflikts.
b) Ist bekannt, aber bewegt „uns“ nicht/kaum: Kriege/Konflikte wie im Sudan, Jemen etc.
c) Sind nicht bekannt und berühren „uns“ nicht/kaum: Siehe Afrika.
Henrich erklärt dies mit den Gesetzen der globalen Aufmerksamkeitsökonomie. Medienunternehmen befänden sich in einem rasanten Wandel, der sich auf Berichterstattung auswirke. Dabei seien die „Konsequenzen für Millionen Menschen, die von humanitären Krisen betroffen sind und trotzdem kaum in den Fokus der medialen Aufmerksamkeit gelangen“ enorm. Mangelnde Sichtbarkeit gehe nicht selten mit geringer finanzieller Unterstützung einher. „Es ist wichtig, Wege zu finden, das Interesse des Publikums für vermeintlich kleinere Krisen zu wecken.“
Unsere Gewohnheiten des Hinschauens
Obwohl Medien und Journalisten für sich in Anspruch nehmen, Nachrichten und Analysen zu liefern, haben sich je nach Medium, Genre, den jeweiligen AutorInnen und Publikumssegmenten unterschiedliche Gewohnheiten der Wahrnehmung bewaffneter Konflikte gebildet. Bei der folgenden Beschreibung handelt es sich um vereinfachte Typologien.
Foto: DoD Media, via Wikimedia Commons | Lizenz: Public Domain
a) Kriege werden im Rahmen politischer Erklärungsmodelle verstanden. Ihr Rahmen kann national sein bzw. in Kombination regional oder international verstanden werden. Als Ursachen gelten Interessengegensätze und Gegnerschaften, Bündniszugehörigkeiten, territoriale Begehrlichkeiten etc. Bei zwischenstaatlichen Kriegen lässt sich diese Perspektive „leichter“ durchhalten, bei innerstaatlichen ist dies schwieriger – wenngleich bei Bürger- und Stellvertreterkriegen politische Feindschaften Ursache und/oder Anlass sein können. In den letzten Jahren hat sich – ausgelöst durch die russische Aggression gegen die Ukraine – teils das überholt geglaubte Denken in Einflusszonen und Großräumen durchgesetzt.
b) Mit obiger Deutung geht häufig eine ideologische (bzw. religiöse) Interpretation einher. Die Motive der Akteure werden durch die Unterschiede ihrer Ansichten bzw. Identitäten erläutert: prowestlich vs. prorussisch, muslimisch vs. nichtmuslimisch, schiitisch vs. sunnitisch, fortschrittlich vs. reaktionär. Die Zuordnung der Konfliktparteien (in innerstaatlichen Auseinandersetzungen) ist medial oft begleitet von schwarz-weiß- bzw. gut-böse-Darstellungen. Die Journalistin Kristin Helberg erklärte jüngst am Beispiel Syrien, wie schädlich das sein kann: „Syrien lässt sich nur verstehen, wenn man das entweder-oder überwindet, das viel mit ideologischer Vereinfachung und wenig mit der komplexen Realität vor Ort zu tun hat. Statt einseitige Schlüsse zu ziehen, gilt es Mehrdeutigkeit auszuhalten.“ (ZEIT-online)
c) Insbesondere bei den oft vernachlässigten Kriegen in armen, aber ressourcenreichen Ländern werden wirtschaftliche Aspekte als Ursache oder Zankapfel hervorgehoben. Die Kontrolle über Ressourcen, Schürfrechte, Transitrouten etc. sei die Kriegsursache. Nicht selten artet dies in einen vulgärmarxistischen „cui bono“-Ökonomismus aus. Wir kennen das z.B. noch von der Parole während des Irakkrieges: „Kein Krieg für Öl“. Auch im aktuellen Krieg gegen die Ukraine geht es für viele um die Kontrolle ukrainischer Ressourcen.
Was nicht heißen soll, dass es bei bewaffneten Konflikten in den letzten Jahrzehnten nicht auch um wirtschaftliche Faktoren oder die Herrschaft über Rohstoffe ging und geht. Ein Beispiel dafür ist der Abtransport der sudanesischen Goldreserven in Milliardenhöhe durch russische Söldner. Im weiteren Sinne gibt es Dinge wie die Ressource Wasser, deren Knappheit bzw. Kontrolle mitursächlich für einen Krieg sein kann. So gab es beispielsweise in Syrien vor dem Arabischen Frühling eine ungleiche Verteilung an verschiedene Bevölkerungsgruppen. Oder in Westafrika kämpfen Nomaden und Ackerbauern um immer weniger fruchtbares Land.
d) Beliebt und gerne verwendet wird die kulturalistische Brille. Je weiter und je „exotischer“ ein Kriegsgebiet, desto lieber erklären sich Laien und manche Experten einen Konflikt anhand tatsächlicher oder eingebildeter „kultureller“ Markierungen. Das kann von ernsthaften wissenschaftlichen Betrachtungen bis zu Ansichten reichen, die nur als rassistisch zu bezeichnen sind.