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Kolumne: „Mama, was ist Sex?“

Ausgabe 362

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Foto: Freepik.com

Eine Kolumne der Sexualtherapeutin Magdalena Zidi: Warum wir mit Kindern über Pornografie sprechen müssen.

(iz). „Mama, was ist Sex?“ – Wenn diese Frage aus dem Kindermund kommt, zucken viele Eltern innerlich zusammen. Noch unangenehmer wird es, wenn Kinder uns Dinge erzählen, die sie irgendwo aufgeschnappt – oder bereits gesehen – haben: „Ich hab ein Video gesehen, da hat ein Mann einer Frau wehgetan, die waren nackt und sie hat komisch geschrien.“ Das ist nicht Fiktion, sondern Realität in vielen Familien. Und oft ist es dann schon zu spät. Zu spät, um den ersten Eindruck zu korrigieren.

Warum es so wichtig ist, DAVOR zu sprechen

In meiner Praxis als Sexualtherapeutin und Sexualpädagogin begegnen mir immer wieder Jugendliche, deren erstes Wissen über Sexualität nicht durch Gespräche mit vertrauten Erwachsenen geprägt wurde, sondern durch Pornografie. Oft konsumieren Kinder schon mit 9 oder 10 Jahren erste pornografische Inhalte – unfreiwillig oder aus Neugier. Studien zeigen: Der durchschnittliche Erstkontakt mit Pornografie liegt heute bei etwa 11 Jahren – Tendenz sinkend.

Pornos sind heute nicht mehr versteckt in der hintersten Ecke einer Videothek, sondern einen Klick entfernt – auf dem Handy, im Tablet, im WLAN des Schulbusses. Und das Problem ist nicht nur der Zugang, sondern der Inhalt. Egal wieviele Filter oder Kindersicherungen wir installieren – früher oder später werden Kinder mit pornografischen Inhalten konfrontiert. Das, was in den meisten Pornos gezeigt wird, hat mit gesunder, verantwortungsvoller oder liebevoller Sexualität nichts zu tun. Es geht um Macht, Unterwerfung, Schmerz und unrealistische Bilder von Körpern und Beziehungen. Wer seine ersten Eindrücke von Intimität aus solchen Quellen gewinnt, erhält ein zutiefst verzerrtes Bild von Sexualität – und damit auch von sich selbst.

Deshalb ist es unsere Verantwortung als Eltern, Erziehende und muslimische Gemeinschaft, das Gespräch über Sexualität nicht zu tabuisieren, sondern zu gestalten.

Foto: olsima, Freepik.com

Aber ist es islamisch, mit Kindern über Pornografie zu sprechen?

Diese Frage wird mir häufig gestellt – und sie ist absolut berechtigt. Wenn dich dieser Artikel bisher empört, dann frag dich bitte, wie du selbst zum ersten Mal mit solchen Inhalten in Berührung gekommen bist? Gab es damals schon so viele Möglichkeiten im Internet wie heute? Haben deine Bezugspersonen mit dir über Körpergrenzen und Sexualität gesprochen? Hast du als junger Mensch nicht auch Unsicherheit verspürt und dich damit manchmal allein gelassen gefühlt? Im Islam gibt es klare Grenzen und gleichzeitig eine tiefe Weisheit im Umgang mit der menschlichen Sexualität. Allah hat die Sexualität nicht erschaffen, um sie zu verdrängen, sondern um sie zu ehren – innerhalb bestimmter ethischer und spiritueller Rahmen.

Der Prophet Muhammad, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, war offen in Fragen der Sexualität, wenn es darum ging, seine Umma zu lehren – angepasst an Alter, Geschlecht und Reife seiner Zuhörenden. In der islamischen Geschichte gibt es zahlreiche Werke, die sich mit der Psychologie, Ethik und Spiritualität von Intimität beschäftigen. Was wir heute oft als „Tabuthema“ empfinden, war früher ein Teil der islamischen Bildung, eingebettet in Haya’ (Schamhaftigkeit) und Adab (guter Charakter).

Also ja: Es ist islamisch, mit Kindern über Pornografie zu sprechen – wenn wir es auf angemessene, feinfühlige und entwicklungsorientierte Weise tun. Es ist islamisch, unsere Kinder zu begleiten, bevor sie mit falschen Bildern geprägt werden.

Die Gefahr des Schweigens

Viele muslimische Eltern schweigen aus Angst, Unwissenheit oder falschem Schamgefühl. Doch dieses Schweigen hinterlässt einen Raum – und dieser Raum wird gefüllt. Mit Halbwissen. Mit Bildern aus dem Internet. Mit Gesprächen auf dem Schulhof. Mit Serien, Filmen oder TikTok-Trends. Schweigen schützt nicht – es liefert aus.

Ein Kind, das das erste Mal mit Pornografie konfrontiert wird, hat keine Worte, um zu beschreiben, was es gesehen hat. Es hat keine Werkzeuge, um es einzuordnen. Und häufig entwickelt es daraus Scham, Angst, Ekel – oder im Gegenteil: Neugier, die in eine ungesunde Richtung kippt. Kinder brauchen Begriffe, Wissen und Orientierung – nicht erst, wenn der Schaden passiert ist, sondern vorher.

Was macht Pornografie mit Kindern und Jugendlichen?

Aus therapeutischer Sicht wirkt Pornografie auf junge Menschen oft toxisch. Hier ein paar typische Effekte.

Realitätsverzerrung: Kinder und Jugendliche glauben, dass Sexualität genau so „funktioniert“ wie in Pornos. Das kann zu Enttäuschung, Leistungsdruck oder auch Angst vor körperlicher Nähe im Erwachsenenalter führen.

Verlust der natürlichen Schamgrenzen: Wiederholter Pornokonsum kann Haya (gesunde Scham) abbauen und emotionale Abstumpfung fördern.

Suchtentwicklung: Besonders bei Kindern und Jugendlichen mit ungestillten emotionalen Bedürfnissen (z. B. Nähe, Zuwendung, Sicherheit) kann Pornografie eine kompensierende Rolle einnehmen – bis hin zur Abhängigkeit.

Beeinträchtigung des Selbstbilds: Viele Jugendliche vergleichen sich mit den dargestellten Körpern, Rollen oder „Leistungen“. Selbstzweifel, Komplexe und Schamgefühle können die Folge sein.

Störung der Beziehungsfähigkeit: Wer früh lernt, dass Sexualität „funktionieren“ muss wie ein Klick-Video, wird später Schwierigkeiten haben, echte Nähe, Zärtlichkeit und gegenseitige Verantwortung zu leben.

Wie kann eine islamische Begleitung aussehen?

Wir brauchen keine Angst vor Aufklärung haben – wenn sie altersgerecht, islamisch fundiert und beziehungsorientiert gestaltet ist. Hier sind zentrale Prinzipien, die wir muslimischen Eltern und pädagogischen Fachkräften an die Hand geben können:

1. Sprich, bevor das Internet es tut: Der Grundsatz lautet: Erst die Beziehung, dann die Information. Kinder müssen spüren, dass sie mit allen Fragen zu dir kommen dürfen. Je früher das Vertrauensverhältnis aufgebaut wird, desto leichter wird das Gespräch über schwierige Themen. Ebenso ist es hilfreich, wenn Fragen rund um Körperlichkeit von Geburt an einen Raum finden. Dann lernt dein Kind, dass es auch bei solchen Themen zu dir kommen kann, ohne verurteilt zu werden. Dabei gilt: Du musst nicht alles auf einmal erklären – aber du musst da sein, wenn dein Kind fragt. Und manchmal auch, wenn es nicht fragt.

2. Benutze klare Begriffe – ohne Vulgarität: Islamische Pädagogik bedeutet nicht, Dinge zu verschweigen, sondern sie in Würde zu benennen. Statt „eklig“ oder „verboten“ zu sagen, können wir erklären: „Pornografie zeigt eine entstellte Form von Nähe, die Allah nicht für uns möchte.“ Oder: „In solchen Videos wird nicht gezeigt, was wahre Liebe, Verantwortung und gegenseitiger Respekt bedeuten – und das ist im Islam sehr wichtig.“

Verwende Begriffe, die Kinder verstehen, aber auch einen moralischen Rahmen setzen: Respekt, Verantwortung, Würde, Liebe, Ehe, Scham, Grenzen. Auch Genitalien sollten bei ihren medizinisch korrekten Bezeichnungen benannt werden und nicht als „Pipimax“, „Pipifrau“ oder „Muschi“.

3. Lehre Haya (Scham) als Schutz – nicht als Mauer: Haya bedeutet nicht Schweigen oder Tabuisieren. Haya bedeutet, das Gute zu kennen – und das Schlechte zu vermeiden. Wer seine Kinder islamisch begleitet, spricht offen, aber in Adab. Wir müssen Kindern beibringen, wie sie sich selbst schützen können, ohne Angst zu machen. Und wie sie über das, was sie sehen, sprechen dürfen – ohne sich schuldig zu fühlen.

Beispiel: „Wenn du mal etwas siehst, was sich komisch anfühlt oder was dich verwirrt – du darfst immer zu mir kommen. Es ist nicht deine Schuld. Aber es ist meine Aufgabe dich zu schützen und dir zu helfen.“

4. Stärke das Herz – nicht nur den Filter: So wichtig technische Schutzmaßnahmen sind (Jugendschutzfilter, Bildschirmzeiten, kein unbegrenzter Internetzugang), so entscheidend ist die innere Stärke. Kinder müssen lernen, warum sie bestimmten Dingen nicht folgen. Und das kommt nur durch spirituelle Bildung und echte Herzensbindung.

Zeige deinem Kind, dass Allah nicht der Strafende ist, der „sieht, wenn du etwas Falsches machst“ – sondern der Liebevolle, der möchte, dass du dich selbst achtest; dass dein Körper ein Geschenk ist. Dass Intimität etwas Kostbares ist, das in einem sicheren, islamischen Rahmen wachsen darf.

Was tun, wenn mein Kind bereits Pornos gesehen hat?

Zunächst: Ruhe bewahren. Nicht schreien, nicht schimpfen. Dein Kind hat ohnehin schon eine emotionale Überforderung erlebt. Jetzt braucht es dich als sicheren Hafen.

1. Fragen statt Vorwürfe: „Was hast du gesehen? Wie hast du dich dabei gefühlt?“ – Das öffnet Räume, statt sie zu schließen.

2. Benennen, ohne zu bewerten: „Du hast etwas gesehen, das sehr viele Menschen schauen, aber was trotzdem nicht gut für uns ist. Ich erkläre dir warum.“

3. Islamische Orientierung geben: „Allah liebt uns so sehr, dass Er uns schützt. Pornos tun unserem Herzen nicht gut. Es ist okay, dass du neugierig warst. Aber ich helfe dir, besser damit umzugehen.“

4. Alternativen anbieten: Bücher, Gespräche, altersgerechte islamische Medien oder kreative Projekte über Körper, Liebe und Schöpfung können die Neugier umlenken.

Muslime

Foto: Aaron Amat, Shutterstock

Fazit: Eine Umma, die schweigt, verliert ihre Kinder

Unsere Kinder wachsen nicht im Vakuum auf. Sie leben in einer digitalen Welt, in der der Zugriff zu sexuellen Inhalten nur ein Klick entfernt ist. Wenn wir als muslimische Familien, Moscheegemeinden und Bildungseinrichtungen nicht die Verantwortung übernehmen, wird das Internet es tun. Und das – gnadenlos.

Lasst uns unsere Kinder nicht mit Scham, Angst oder Verboten überfordern – sondern mit Liebe, Wissen und islamischer Orientierung stärken. Lasst uns Räume schaffen, in denen sie fragen dürfen, staunen dürfen, verstehen dürfen. Und lasst uns nicht vergessen: Die Sexualität ist kein Feind – sie ist ein Geschenk von Allah. Aber nur dann, wenn wir sie als solches vermitteln.

Über die Autorin: Magdalena Zidi ist Sexual- und Traumapädagogin sowie Sexualtherapeutin. Unter dem Namen „sexOlogisch“ begleitet sie Jugendliche, Eltern und Paare in sensiblen Fragen rund um Körper, Intimität und Beziehung einfühlsam und fachlich fundiert – online wie offline.

Mehr zu ihrer Arbeit, ihrem Podcast, Instagram-Kanal und Beratungsangebot unter: www.sexologisch.com

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