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Kolumne: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht

Ausgabe 335

Mut Kübra Böler Kolumne
Foto: Kübra Böler

„Wer klug ist, nützt sich selbst / Und nützt zugleich uns allen.“ (Mewlana Rumi, Diwan-i Kebir)

(iz). Seit jeher identifizierte ich mich als geselligen und extrovertierten Menschen. Ich ging in der Gemeinschaft auf; der Kontakt mit anderen gab mir neue Kraft und die Lasten des alltäglichen Lebens schienen plötzlich nicht mehr so schwer auf meinen Schultern.

Auch das Kontakteknüpfen fiel mir nicht wirklich schwer, ging ich doch in der Regel offen auf Menschen zu. Im Laufe der Zeit veränderte ich mich, doch das Bild der sehr extrovertierten Kübra, die gefühlt 10.000 Menschen kennt und überall aktiv ist und viel zu tun hat, blieb und hält sich hartnäckig.

Lange Zeit war die Gemeinschaft alles für mich. „Wir müssen für andere da sein.“, „Die muslimische Gemeinden brauchen unseren Einsatz, unser Engagement!“, „Wir sind die Zukunft!“ – beim Tippen schmunzle ich vor mich hin und denke mir „Ach, wie schön war diese kindliche Naivität, dieser nie enden wollende Idealismus und die Leidenschaft, die nie erlöschen wollte. Eine klassische Bilderbuch-Samariterin halt.

Zugegeben, ich schöpfe aus dieser Leidenschaft immer noch einen Teil meiner Kräfte. Doch ich habe aufgehört, mich in rosaroten Fantasien zu verlieren und mich vollends für andere aufzuopfern.

Denn eines Tages wurde auch ich mit der (eis)kalten Realität konfrontiert: So sehr wir uns um andere kümmern, egal, wie sehr wir für andere da sind und das große Wir im Blick haben – wenn’s hart auf hart kommt, denkt jeder an sich selbst. Und was soll ich sagen: Genau so sollte es auch sein.

Wenn wir stetig damit beschäftigt sind, alle anderen um uns herum zufrieden zu stellen, uns für sie einzusetzen, können wir schnell in eine Haltung verfallen, dass es auch Menschen geben wird, die unsere Bedürfnisse und Wünsche erfüllen und für uns da sind. Nur ist die Realität nun mal anders, als viele von uns sie gerne hätten.

„Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht, Kübra.“, sagte F. mal zu mir. Als ich diesen Spruch das erste Mal hörte, traf er mich mitten ins Herz. „Wie egoistisch“, dachte ich mir im Stillen. „Menschen brauchen Menschen. Wir brauchen die Gemeinschaft. Nur gemeinsam sind wir stark!“ – Ich habe Jahre gebraucht, um zu erkennen und zu verinnerlichen, wie wahr und wichtig diese Aussage ist. „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.“

Es war eines unserer langen Gespräche mit E., in denen wir uns austauschten. Rückblickend gerädert und ausgelaugt wegen irgendwelchem Firlefanz, teilte ich folgendes:

„Es gibt ja den Ausspruch des Propheten ṣallā ʾllāhu ʿalayhi wa-sallam, in dem es heißt: ‘Die Gläubigen in ihrer Zuneigung, Barmherzigkeit und ihrem Mitleid zueinander sind einem Körper gleich: Wenn ein Teil davon leidet, reagiert der ganze Körper mit Schlaflosigkeit und Fieber!‘ – Ich bin auch Teil dieses Körpers, und wenn es diesem Körper langfristig gut gehen soll, dann muss es mir auch gut gehen. Ich muss auf mich schauen, auf mich achten, damit ich überhaupt die Kraft und die Ressourcen habe, um mich um andere zu kümmern und sie zu unterstützen. Wenn ich immer nur auf die anderen schaue und mich selbst vergesse, ist das mindestens kontraproduktiv und maximal destruktiv“ – „Exakt, Kübra.“

Puh, an sich denken – Wie geht das überhaupt, wenn Du so lange an das große Wir gedacht hast? Wie funktioniert an sich denken bei den ganzen Rollen, die wir täglich haben und ausführen? „Wenn Du schnell gehen willst, gehe allein. Wenn Du weit gehen willst, gehe mit anderen.“ – wie soll jemand, der letzteres im Sinne hatte plötzlich nur auf sich achten?

Wie nun das ganze Tempo, dass einen auf Zehenspitzen wie Prinzessin Lillifee von A nach B sprinten ließ, rausnehmen, wo Zeit doch Geld sei und es noch so unglaublich viel zu tun gibt und das Abbremsen einen ins Straucheln und Vertüddeln brachte, sodass alles Getragene herunterfiel und sich wild in alle Himmelsrichtungen auf dem Weg verteilte? Beim weit Gehen blieb ich manchmal auf der Strecke, obwohl mich wie so viele immer ganz weit vorne sahen. Sprach ich darüber, bekam ich häufig ein „Ach, das schaffst Du schon.“

Egal, wie extro- oder introvertiert wir sind, manche Wege müssen allein gegangen werden.

Egal, wie viele Menschen an uns glauben und uns anfeuern: Den Weg müssen wir allein gehen.

Und ich weiß, wie egoistisch das alles vor dem Hintergrund des aktuellen Weltschmerzes klingt. Doch wem nützt es, wenn Du und ich komplett ausgelaugt und ausgebrannt sind, weil wir so eifrig für alle anderen da sein wollten und uns selbst abhingen?

Dies ist kein Aufruf, alles an den Nagel zu hängen und nur noch seine eigenen Bedürfnisse im Fokus zu haben, auf keinen Fall! Es geht vielmehr darum, ein inneres Gleichgewicht zu finden, wie so oft, eigentlich immer im Leben. Es geht darum, innezuhalten und zu schauen, wo ich auf dieser Reise des Lebens und in diesem ganzen Getümmel stehe. Es geht darum, abzuwägen, ob ich das Maß eingehalten habe oder ein Punkt erreicht ist, wo ich anfange, anderen und allen voran mir selbst zu schaden, statt zu nützen und gut zu tun.

Auch bin ich mir vollends darüber im Klaren, dass all dies leichter gesagt als getan ist. Doch ich weiß auch, dass es sich absolut lohnt, egal, wie groß die Angst sein mag, die einem stets ins Ohr flüstert. Manchmal lohnt es sich beim Aufsammeln des Heruntergefallenen innezuhalten und Ballast als solchen zu erkennen und hinter sich zu lassen. Ob schnell oder langsam: Es ist einfacher mit leichtem Gepäck, ob nun To-Do’s, zwischenmenschliche Beziehungen, Ziele, Träume und Wünsche.

So schloss sich mein persönlicher Kreis: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht: Es geht darum, uns gegenseitig daran zu erinnern, dass wir unsere größte und wichtigste Ressource und in allererster Linie für unser eigenes Wohlbefinden verantwortlich sind. Hilfe zur Selbsthilfe.

Ob ich nach diesen Erkenntnissen erfolgreich in der Umsetzung war? Natürlich nicht. Es war der Beginn einer anhaltenden Reise. Manchmal ist es ein bisschen wie Tanzen: Zwei Schritte vor, einen zurück und vorwärts, rückwärts, seitwärts, ran, Hacke, Spitze, hoch das Bein. Am Ziel Ankommen mag dann zwar länger dauern, doch so wird es zumindest nie langweilig. Ist bekanntlich nicht der Weg das Ziel und der Prozess wichtiger als das Endergebnis? Manchmal braucht es halt ein paar Anläufe, bis das richtige Tempo mit der passenden Schrittabfolge sitzt. 

Das Geheimnis liegt darin, sich nicht für diesen Prozess zu schämen und für sich herauszufinden, welche Hindernisse uns unsere Vorhaben erschweren. Tief in uns selbst wissen wir, dass wir sie hinter uns lassen dürfen, gar müssen. In diesem Sinne: Auf die Plätze, fertig, vorwärts, rückwärts, seitwärts ran, Hacke, Spitze, hoch das Bein! 

Ein Kommentar zu “Kolumne: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht

  1. Ich bin so angetan vom hoch das Bein 🤣👌🏽 Wirklich ein wunderschöner Beitrag, der So wichtig für uns alle ist. Hilfe zur Selbsthilfe ist der Beste Ansatz jemanden zu helfen und es fängt bei uns selbst an. „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“ Danke für den ermutigenden Beitrag. 🫶

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