Kommentar: Der Virus und die Gelassenheit

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„Unsere Hoffnung, dass diese Einschränkungen nur ein vorübergehendes Phänomen darstellen und nach einigen Monaten wieder der Vergangenheit angehören, deutet auf unsren geistigen Ort hin, den wir im Projekt der Moderne längst klaglos eingenommen haben. Wir Unverbesserlichen sehen in jeder dramatischen Krise bloß eine kurzzeitige Störung.“

Berlin (iz). Man liest jetzt viel von Panik und Hysterie, die der weltweit verbreitete Coronavirus ausgelöst hat. Die Vernunft gebietet, dass man sich von diesem Zustand nicht anstecken lässt. Allerdings ist die Sorge um das eigene und das Wohlbefinden Anderer Teil unserer Natur und grundlegende Seinsweise unserer Existenz. Der Mensch ist auf dieser Grundlage – im Gegensatz zur Panik – so zur Vorsorge fähig; begleitet von einer nüchternen Reflexion, Sinnsuche und Analyse der Lage.

Das Problem mit dem Virus fällt in eine Zeit, in welcher der Mensch sich unter dem Stichwort „Globalisierung“ eingerichtet hat. Ewiges Wachstum, andauernde Beschleunigung, vollständige Kontrolle sind Maximen, die sich mit den Prinzipien der Natur nur schwer in Einklang bringen lassen. Schon Goethe hat sich mit diesem Grundwiderspruch im Faust beschäftigt: Das expansive Streben und der Herrschaftswille des modernen Menschen treffen hier auf natürliche Grenzen. Oder wie der Dichter an anderem Ort mahnte: „Die Natur hat manches Unbequeme zwischen ihre schönsten Gaben ausgestreut.“

Wenn wir heute der unheimlichen Störung aus der Welt der Biologie ausgesetzt sind, betrifft dies gleichermaßen unsere imaginäre und symbolische Ordnung, die nach jeder neuen Krise immer mühsamer aufrechtzuerhalten ist. Kennzeichnende Begriffe derselben wie Menschenrechte, Demokratie und Gerechtigkeit haben unserer Politik bisher eine absolute Legitimität verliehen. In der Vorstellung sollte es eine Welt der Perfektion werden: Märkte, die Wohlstand verteilen, bürgerliche Gesellschaften sowie eine Technik, die uns bei der Umsetzung dient. Schon länger aber driften die Regel und das Sein weit auseinander.

Es gehört zu den paradoxen Folgen der Epidemie dieser Tage, dass sie mit ihren, unserer Politik entzogenen Mitteln einen faktischen Zustand der Mäßigung schafft. Weniger Konsum, Reisefreiheit und Ressourcen-Verbrauch nähern sich den Verhaltensweisen, die für ein Überleben der Menschheit in der Theorie angemahnt wurde. Dass das konkret Notwendige mit derart schmerzlichen Folgen verbunden ist, gehört zur unausweichlichen Tragik der menschlichen Situation.

Unsere Hoffnung, dass diese Einschränkungen nur ein vorübergehendes Phänomen darstellen und nach einigen Monaten wieder der Vergangenheit angehören, deutet auf unsren geistigen Ort hin, den wir im Projekt der Moderne längst klaglos eingenommen haben. Wir Unverbesserlichen sehen in jeder dramatischen Krise bloß eine kurzzeitige Störung. Vergessen wir nicht: Mit dem Predigen von Mäßigung gewinnt man heute keine Wahlen. Das ist vielmehr eine Position, die wir der Politik nur im Ausnahmezustand gewähren.

Die Aufforderung zur sozialen Distanz (das heißt, der faktischen Entfernung zum Mitmenschen) korrespondiert nun merkwürdig mit dem Vorwurf der sozialen Kälte, der unsere Gesellschaften schon länger trifft. Und sich jetzt – und sei es nur für einige Monate – als einheitlicher Lebensumstand entfaltet. Das Denken in Kausalitäten verbietet hier jede Konstruktion eines Zusammenhangs. Man mag hier dennoch einen Bedeutungszusammenhang erkennen: nicht im Sinne einer Verschwörungstheorie, doch aber im Geiste einer ganzheitlichen und nachdenklichen Bestandsaufnahme unserer Situation insgesamt.

„Gelassenheit ist eine anmutige Form des Selbstbewusstseins“, schrieb Marie von Ebner-Eschenbach einst. Muslime haben kein gesondertes und geheimnisvolles Schutzschild gegenüber biologischen Katastrophen anzubieten. Der Islam beansprucht vielmehr nur, eine natürliche Lebenspraxis zu sein, die zu jeder Lage passt – sei sie gut oder schlecht. Es ist eine Praxis, die menschlichen Fortschritt keinesfalls ablehnt, aber Mäßigung anempfiehlt und in jeglicher Situation, wie sie eben ist, Trost, gutes Verhalten und Solidarität ermöglicht. In der Tat sagte der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben: „Die Gläubigen gleichen Halmen auf einem Feld, die der Wind hin und her wogen lässt.“