Kommentar: Haben wir die Zeit oder hat sie uns?

Ausgabe 309

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(iz). Zu den Fragen, denen wir heutige Muslime eher aus dem Weg gehen, gehören neben der Natur von Macht das Problem der Zeit. Oft beruhigen wir uns mit Gemeinplätzen wie denen, dass Zeit relativ sei oder dass man sie „habe“.

Dabei übersehen wir, dass es in unserer Terminologie mehrere Möglichkeiten der Bezeichnung gibt. Zum einen gibt es mit „Waqt“ ein Wort, mit dem häufig die messbare Zeit im herkömmlichen Sinne beschrieben wird. Als Nächstes dient „Zaman“ zur Benennung längerer Zeitläufe wie Dynastien und Epochen. Und dann gibt es das Wort „‘Asr“. Ihm werden unterschiedliche ­Bedeutungen zugeschrieben. Der englische Gelehrte Schaikh Abdalhaqq Bewley übersetzt es mit „Raum-Zeit“.

Einer der Gründe, warum wir das Modell der linearen Zeit so unbewusst verinnerlicht haben, ist das Bedürfnis nach der Beherrschbarkeit ­unserer Existenz. Die Wahrnehmung einer ­linearen Zeit erscheint uns unerschütterlich und als Konstante unserer Existenz.

Wie verletzlich sie ist, zeigt unsere Erfahrung seit Beginn der Pandemie. „Die große Entschleunigung aller Abläufe fühlt sich wie eine Umkehr der inneren Logik der Moderne an“, schreibt der australische Historiker (siehe S. 17) in seinem neuen Buch. Die Zeit floss nicht mehr so schnell wie das Wasser in einem Gebirgsbach. „Sie konzentrierte sich um jede einzelne Aufgabe. Die Zukunft wurde verschwommen.“ Wohl ein Grund, warum so viele Menschen erschüttert auf den Lockdown reagierten.

Es gehört zum Weltverständnis des sogenannten politischen Islam, Zeit der menschlichen ­Machenschaft gefügig zu machen. Eines seiner Narrative beruht auf einer „wenn => dann“-Logik. Wenn wir dieses und jenes tun, dann haben wir „Islam“. Das heißt, seine Manifestation wird auf eine planbare Zukunft verschoben.

Das ist in gewisser Hinsicht eine Umkehrung des medinensischen Paradigmas, bei dem der Fokus auf das richtige Handeln im Augenblick liegt. Nicht umsonst gibt es in der islamischen Weisheitslehre das Ideal des Gottesfreunds als „Sohn des Augenblicks“. Und es gibt die Warnung von Sajjiduna ‘Ali: „Zeit ist ein zweischneidiges Schwert. Entweder wir schneiden mit ihm oder werden von ihm geschnitten.“