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Letzter Teil der Kurzserie: Die Rechtsschulen in der Moderne (6)

Ausgabe 323

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(iz). Meine Absicht in dieser Behandlung der Rechtsschulen war es, einige kennzeichnende Eigenschaften der jeweiligen zu beleuchten, um zu zeigen, wie jede auf ihre je eigene Weise einen spezifischen Ansatz zur Frage verkörperte, was genau den Din des Islam ausmacht.

Zusätzlich geht es um die ausdrückliche Bestätigung, dass jede in sich eine authentische Transmission hin zu unserer Zeit darstellt. Alle haben eine traditionell anerkannte Form, die einen Korpus aus Wissen und Praxis repräsentiert, durch den das islamische Gesamtgebäude durch die Jahrhunderte bewahrt und erneuert wurde.

Es ist wichtig zu betonen, dass jede von ihnen selbstständig ist. Alle sind das Ergebnis einer bestimmten Methodologie, die sie hervorbrachte. Daher ist es nicht möglich, wahllos zwischen ihnen hin- und herzuwechseln. Jetzt gilt es festzuhalten, dass die Madhhabs im heutigen Kontext nur wenig mit den Methodologien zu tun haben, die zu ihrer Entstehung führten. Sie sind jetzt – und bereits seit beträchtlicher Zeit – nichts als statische Gesetzeswerke und dichte Zusammenstellungen von Rechtsurteilen, die jeden Aspekt des persönlichen und sozialen Lebens der muslimischen Gemeinschaft betreffen.

Wie wir zu Beginn feststellten, wurde die Zugehörigkeit einer Person zu einer bestimmten Rechtsschule in beinahe jedem Fall zu einer simplen Frage von Geografie. Die Madhhab hängt vom Zufall der Geburt ab. Wird man in der Türkei oder auf dem indischen Subkontinent geboren, ist man Hanafi. Stammt man aus dem Fernen Osten, folgt man Asch-Schafi’i. Kam jemand in Nord- oder Westafrika zur Welt, ist er wahrscheinlich Malikite. Im gesamten Nahen Osten gibt es eher eine Mischung und die eigene Rechtsschule hängt eher von der Familie ab, in die man hineingeboren wurde. Es gibt keinen Zweifel, dass sich das in vielen Wegen als ein Schutz für die Muslime in der Welt erweisen sollte. Durch die Lehren ihrer Schulen haben sie den Zugang beibehalten zu einer ungebrochenen und authentischen Überlieferung des Dins aus den frühesten Tagen.

Es gibt jedoch eine Schattenseite. Diese Lage erzeugt den Eindruck, die Dinge wären in Ordnung, und dass die Situation der heutigen Muslime in irgendeiner Weise mit der Vergangenheit zu vergleichen sei, als Islam eine funktionierende Realität war. Nirgendwo auf der Erde gibt es einen Ort, an dem Islam anders implementiert wäre als in einem vollkommen fragmentierten Modus. So wurden die finanziellen und wirtschaftlichen Aspekte der Schari’a komplett abgestoßen im Austausch für eine kapitalistische Ordnung mit unbegrenzter Geldvermehrung. Dies war ein Wirtschaftssystem, das im Europa der Nachreformation entstand.

Die Madhhabs wurden sämtlich im Kontext einer offenen muslimischen Herrschaft entwickelt, wo Allah und sein Gesandter, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, die einzigen Quellen der rechtlichen Autorität waren. Ihr Zweck bestand darin, zu den nötigen Urteilen zu gelangen, um ihre Manifestation in allen Bereichen des muslimischen Lebens zu gewährleisten. Sie hatten nichts Theoretisches an sich, und sie existierten nicht in einem Vakuum. Sie waren ein vitales und aktives Prinzip im ständigen Leben der Gesellschaft.

In den Augen heutiger muslimischer Herrscher sind die Madhhabs irrelevant. Selbst für muslimische Richter in dieser Zeit steht die Rechtsschule weit unten auf der Liste ihrer Rechtsquellen. Und die Vorstellung eines modernen muslimischen Geschäftsmannes, der heute den Vorgaben einer Madhhab unterworfen wäre, ist einfach lachhaft. Sie wurden reduziert auf die Domäne hilfloser Gelehrter. Oft genug kennen sie jedes Urteil, das es zu irgendeinem Thema unter der Sonne gibt, doch sie sind impotent, auch nur eines davon umzusetzen.

Auch wenn die Madhhabs ein Bindeglied zur Vergangenheit darstellen und eine authentische Transmission des Dins zur heutigen Zeit gewährleisteten, ist die Wahrheit, dass sie nicht länger die Funktion erfüllen, für die sie eigentlich geschaffen wurden. Ihr Zweck bestand in den Urteilen für eine komplette Umsetzung des Islam in jedem Lebensbereich. Dazu sind sie nicht mehr in der Lage, weil Allahs Din an keinem physischen Ort etabliert ist. Das ist der Fall dieser Art seit der ersten Gemeinschaft in Medina.

Die Rechtsschulen waren ausgezeichnete Werkzeuge, um das Buch und die Sunna umzusetzen, sobald sie in Kraft waren. Aber sie hatten nichts damit zu tun, sie überhaupt erst zu etablieren. Daher ist es höchst unwahrscheinlich, dass die Madhhabs in ihrer jetzigen Form uns die Mittel an die Hand geben werden, um die vor uns liegende Aufgabe zu erfüllen. Imam Malik pflegte zu sagen: „Das Letzte dieser Gemeinschaft wird nicht in Ordnung gebracht werden, außer durch das, was sie an erster Stelle in Ordnung gebracht hat.“

Mit anderen Worten, um Allahs Din an seinem passenden Platz am Kopf der muslimischen Angelegenheiten wiederherzustellen, müssen wir ganz zurück zum Beginn. Die Frage ist, wie das zu bewerkstelligen sei? Die Modernisten wollten es nicht tun. Auch wenn die Salafis behaupteten, es zu wollen, war ihr Weg ein Fehlschlag. Denn es gibt keinen direkten Zugang zur Quelle mit den Mitteln, für die sie eintreten.

Wenn wir Islam als einen Fluss betrachten, dessen Quelle die erste Gemeinschaft war und der durch mehr als 14 Jahrhunderte bis zu unserer Zeit floss, dann sind die Madhhabs eindeutig ein untrennbarer Bestandteil dieses Stroms. Die sich uns stellende Frage lauter: Wie kommen wir zurück zur Quelle?

Setzen wir das Fluss-Gleichnis fort und verwandeln die Jahre in Distanzen. Laufen wir an ihm entgegen seiner Fließrichtung, erreichen wir ca. 220 Meilen von der Quelle entfernt einen Staudamm. Hinter ihm befindet sich ein Stausee, in dem viel vom Oberwasser gesammelt wird, bevor es ins Meer fließt. Dieser Damm ist Imam Ibn Hanbal.

180 Meilen von Quelle wurde ein großer Kanal gegraben, der das Flussbett verlässt und hunderte Meilen parallel zu ihm verläuft, bevor er wieder in den Hauptstrom mündet. Er ist wunderschön gestaltet und lässt das gefilterte und gereinigte Wasser des Flusses, gleichmäßig zwischen seinen gut konstruierten Ufern fließen, sodass er leicht zu verwalten und zu bewirtschaften ist. Dieser Kanal ist die Madhhab von Imam Asch-Schafi’i.

Weiter flussaufwärts, rund 120 Meilen weg vom Ursprung, finden wir einen Nebenarm, der von einer Seite in den Fluss münde und sich mit ihm verbindet. Sein Urbeginn liegt in nahe liegenden Hügeln. Das ist die Methodologie der hanafitischen Madhhab.

Kurz vor diesem Zufluss erreichen wir ein Schleusensystem, welches das Wasser der eigentlichen Flussquelle reguliert und steuert. Das ist Imam Malik. Das macht deutlich, dass wir letztlich nur über Imam Malik Zugang zur Quelle des Din haben; zu jenem Urbild des gelebten Islam, das wir brauchen, um ihn hier und heute wiederherstellen zu können.

In dieser Hinsicht sollte er nicht als der Gründer der nach ihm benannten Rechtsschulen betrachtet werden, sondern vielmehr als der Imam der Heimstätte der Hidschra, Medina al-Munawwara. Er ist der Schreiber und Übermittler des ‘Amal Ahlil-Medina, der Praxis der Leute von Medina. Wie wir wissen sah er es als seine Aufgabe an, für die Nachwelt die lebendige Tradition des Islam in Handlung aufzunehmen. Das waren das Buch und die Sunna in ihrer unberührten ursprünglichen Form, die ihn unverändert durch die zwei Generationen erreichte, die seit dem Tod das Propheten vergangen waren, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben.

Dies stellt eindeutig die bestmögliche Darstellung des Islam dar, wie er vom Propheten und seinen Gefährten gelebt wurde. Das war die ununterbrochene Übermittlung von Buch und Sunna am eigentlichen Ort, wo sie etabliert, bewahrt und unverändert von den ersten beiden gelebt wurde. Das bringt uns die rohe, vitale Energie aus den ersten Tagen des Islam, der Zeit des Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, und der rechtgeleiteten Kalifen, als der Din in seiner höchsten Phase der Expansion und Etablierung war.

Aus diesem Grund wird sie manchmal auch als Madhhab von ‘Umar genannt. Es war das eigentliche Verhaltensmuster, dass Islam in erster Linie geschehen ließ. Welches bessere Modell könnte es also für diese Zeit geben, in der es wieder einmal notwendig ist, von Grund auf neu zu beginnen? Seine unbestreitbare Authentizität wurde im Laufe der Jahrhunderte immer wieder bestätigt.

Nicht zuletzt durch den hanbalitischen Gelehrten Ibn Taimijja, dessen Buch „Die Korretkheit der grundlegenden Annahmen der Madhhab der Leute von Medina“ klar macht, dass das vollständige Bild von Sunna – in Hinblick auf ihren Geist und ihre Praxis – von Imam Malik in den Umrissen seines Buches „Al-Muwatta’“ festgehalten wurde. Das lag an Imam Maliks großem Wissen, seiner räumlichen Nähe zur Stadt des Propheten, der großen Anzahl von Männern des Wissens, die dort geblieben sind, und die Din in seiner Gesamtheit seit der Zeit des Propheten bewahrten. Es war allgemein anerkannt, dass während der ersten drei Generation des Islam keine Erneuerung im Din in Medina stattfand.

Mehrmals in der Geschichte des Dins war dieser im Verfall geraten und die Verhältnisse wurden dekadent. Dann bedurften sie einer Erneuerung. Die Gelehrten des Islam verwiesen darauf, dass die Madhhab der Leute von Medina eine Position repräsentierten, die rein dem Buch und der Sunna entsprach. Hier gab es keine Kontroverse und alle Muslime konnten sich darauf einigen. Ein herausragendes Beispiel war der große indische Gelehrte Schah Waliullah von Delhi. Er propagierte Medina und die Muwatta’ als einen Weg zur Wiederbelebung des indischen Islam – im Angesicht der vordrängenden Briten.

Unsere Verantwortung besteht darin, hier zusammenzukommen, an dem es keinen Streit und keine Abweichung gibt. Dieser Ort ist Medina. Nur hier finden wir das ursprüngliche Modell… denn es war die Evidenz und der Beweis des Gesandten Allahs, dass Menschen in Gerechtigkeit und in Frieden sowie mit Vertrauen zueinander zusammenleben können, wenn sie Allah gehorchen.