Islam in Europa: Das Mittelmeer zeugt von muslimischer Zivilisation

Ausgabe 262

Foto: Cresques Abraham - Unknown, Public Domain

(iz). Das große Meeresbecken, zu dem auch das Schwarze Meer gehört, bedeckt eine Fläche von 2.700.000 Quadratkilometern. Es hat eine Ausdehnung von 3.860 Kilometern – von der Straße von Gibraltar (arab. Dschebel Tariq; benannt nach Tariq bin Zijad, dem ‘umaijadischen Führer und General, der den ersten muslimischen Vorstoß nach Iberien 711 leitete) bis zur Küste des Nahen Osten. Die Nord-Süd-Ausdehnung des Mittelmeeres beträgt an seiner weitesten Stelle 1.600 Kilometer, während sie im Durchschnitt bei der Hälfte dieser Strecke liegt.
Heute konzentrieren sich nicht weniger als 21 europäische Staaten im Gebiet des Mittelmeeres: Türkei, Georgien, Russland, Ukraine, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Zypern, Albanien, Mazedonien, Kosovo, Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Slowenien, Italien, Malta, Frankreich, Spanien und Portugal.
Die ersten islamischen Gebiete formierten sich hier beinahe zeitgleich in den östlichsten und westlichsten Teilen, das erste bildete sich im Südkaukasus an den Ufern des Schwarzen Meeres zur Mitte des 7. Jahrhunderts. Das andere im südlichen Teil der Iberischen Halbinsel zu Beginn des 8. Jahrhunderts. In Perioden direkter oder indirekter Herrschaft (im Falle von abhängigen Gebieten), die große Gebiete Russlands bis nach Moskau beinhaltete, aber auch Regionen der heutigen Schweiz, Süditalien, Südfrankreich, alle großen Inseln wie Zypern, Rhodos, Kreta, Malta, Sizilien, Sardinien, Korsika, Mallorca, gab es für mehr als 1.300 Jahre (von 651 bis heute) eine muslimische Präsenz in diesem Teil Europas. Diese hatte eine entscheidende Auswirkung auf die Schaffung seiner kulturellen Identität, seiner ethnischen und religiösen Zusammensetzung von Bevölkerungen der Region, seiner geostrategischen Bedeutung und seiner politischen Wirklichkeit.
Namentlich im Raum der Balkan-Halbinsel begannen intensive Kontakte mit Muslimen bereits in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts – insbesondere in den Küstengebieten Thraziens, der Bucht von Thessaloniki, der Westküste Albaniens und bis hinein in den Norden zu den Städten Trogir und Zadar. Natürlich eröffnete die Herausbildung des osmanischen Devlets und sein Wachstum in den Balkan hinein während der Periode des späten 14. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts den Weg für die massive und dauerhafte Präsenz islamischer Kultur, politischer Institutionen, wirtschaftlicher Maßnahmen, Produktionsweise in Landwirtschaft und Handwerk, aber auch für philosophische, religiöse und spirituelle Praktiken in diesem Teil Europas.
Nach ihrer endgültigen Vertreibung aus Spanien 1492 (die vollkommene Auslöschung von Muslimen/Moriscos und Juden/Maranos wurde in Spanien 1612 abgeschlossen) und aus Portugal 1356, wurden Hunderttausende Juden von Selim II. auf den Balkan gebracht.
Zur gleichen Zeit begann der Prozess der Herausbildung bedeutender muslimischer Bevölkerungsanteile (durch die freiwillige Annahme des Islam genauso wie durch Einwanderung aus anderen Teilen des riesigen osmanischen Gebietes) in Bulgarien, Rumänien, Mazedonien, Albanien, Bosnien, Serbien und Teilen Kroatiens (Dalmatien, mit Ausnahme eines kleines Landgürtels mit den Küstenstädten und dem gesamten Nordosten, der als Slawonien bekannt wurde).
Nicht nur gebildete europäische Bürger, sogar einige professionelle Historiker äußern offenes Misstrauen, wenn ihnen gesagt wird, dass die Muslime seit dem 7. Jahrhundert auf allen mediterranen Inseln lebten. Einer der offensichtlichen Gründe dafür ist, dass diese Fakten nicht nur im europäischen Bildungssystem auf allen Ebenen unterrepräsentiert sind, sie wurden auch systematisch aus Büchern, Medien und beinahe allen Ebenen der Information entfernt.
Fakt ist, dass der erste arabisch-muslimische Vorstoß auf Sizilien – unter Muawija im Jahre 652 – ein kompletter Erfolg war, nachdem die byzantinische Armee von den Muslimen bei Alexandria besiegt wurde. In der Mitte des 8. Jahrhunderts griff die arabische Marine Korsika und Sardinien an, aber auch das ostsizilianische Syrakus. Die Landnahme in Sizilien begann 827 unter den Aghlabiden, einer Dynastie im tunesischen Al-Qairawan (Kairuan). 902 hatten die Muslime die volle Kontrolle über die Insel. Von 827 bis 1092 war Sizilien ein integraler Bestandteil des Khalifats.
Obwohl die Aghlabiden Sizilien einnahmen, führten sie keine bedeutende Architektur oder ökonomischen Veränderungen der bisherigen Lebensweisen in Sizilien ein. Die volle Entwicklung der ganzen Insel wurde unter der kalbitischen Herrschaft erreicht. Damals blühte Palermo als eine der bevölkerungsreichsten und entwickeltsten Städte Europas. Zeitgenössische Chroniken bezeugen, dass „… Palermo eine wahrlich erstaunliche Hauptstadt war. Die Stadt von 300.000 Bürgern und 300 Moscheen (…)“ Aus diesem Grund galt sie damals als eine Hauptstadt der islamischen Welt.
Zur ungefähr gleichen Zeit breitete sich der Islam im westlichen Mittelmeerraum aus. Zuerst wurden die Balearen eröffnet (698-1229), dann Sardinien (707-1015) und wesentlich später Korsika (850-1077). 886-7 wurde Malta, der Schlüssel zum zentralen Mittelmeer, von den Arabern erobert und blieb 130 Jahre lang (bis 1090) in muslimischem Besitz. Fakt ist, dass die Inselgruppe der Balearen zuerst eingenommen und zuletzt verloren wurde. Eine mehr als 500-jährige Geschichte einer im Wesentlichen islamischen Kultur illustriert die Tiefe einer interkulturellen Mischung, die in diesem Teil unseres Kontinents vorherrschend war. Der Konflikt um diese Inseln war von Dauer – außer kurzen Pausen, in denen die Gegner Kraft schöpften. Die Muslime nannten diese Inseln im Mittelmeer „At-Tughur Al-Dschazarij“ (Grenze der Inselfestungen).
Kreta wurde zwei Mal von einer muslimischen Autorität regiert. Zuerst in der Zeit von 824 bis 961 und das zweite Mal zwischen 1645/68 bis 1898. Es ist erwähnenswert, dass zeitgenössische griechische Quellen voller Berichte über Massenmorde an lokalen nicht-muslimischen Bewohnern sind, während viele überlebende Christen gezwungen worden sein sollen, Muslime zu werden. Das wird üblicherweise nicht durch Fakten belegt. Die meisten griechischen Bücher über die Geschichte der Insel sind in der Darstellung der islamischen Geschichte Kretas eleganter. Entweder ignorieren sie diese vollkommen oder sie erwähnen sie nur mit einem Halbsatz.
Ein interessantes und sehr lehrreiches Beispiel von religiösem Verständnis und Respekt findet sich in der Geschichte Zyperns. Mehrfach wechselte die Kontrolle der Insel zwischen Arabern und Byzantinern hin und her. 688 wurde Zypern gleich vom Kaiser Justinian II. und dem Khalifen Abdalmalik (auch bekannt als „Vater der Könige“, weil vier seiner Söhne Khalifen wurden) aufgeteilt. Sie unterzeichneten einen Vertrag, in dem sie sich unter anderem darauf verständigten, dass es auf der Insel keine Garnisonen geben sollte und dass die Steuereinnahmen gerecht aufzuteilen seien. 985 wurde Zypern vom byzantinischen Kaiser Nikifor eingenommen. Die Osmanen fügten die Insel 1571 ihrem Territorium zu und behielten sie bis 1878.
Die Macht der muslimischen, arabischen, beziehungsweise berberischen Herrschaftsregionen der Khalifate und Taifas war so groß, dass im Jahre 837 der Hafen von Neapel und die Stadt arabischen Angriffen ausgesetzt waren und sogar eine kurze Zeit besetzt blieben. Vier Jahre später (841) wurde Bari an der Adriaküste von den Arabern eingenommen. Zur gleichen Zeit „(…) erschienen triumphale Araber vor den Toren Venedigs (…)“. 847 wurden Bari (erneut) und Taranto (zum ersten Mal) den Muslimen geöffnet und zwei kurzlebige Emirate gegründet. Das Emirat Bari hielt von 847 bis 871 an. Im Jahre 849, und erneut drei Jahre später, landeten Muslime in Ostia, dem Hafen von Rom.
Es ist wichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass die islamische Zivilisation, Kultur und Wissenschaft zu dieser Zeit sehr fortgeschritten war und dass die europäische Philosophie sowie die Sozial- und Naturwissenschaften gleichermaßen unter direktem und entscheidendem Einfluss muslimischer Gelehrter entwickelt wurden. Viele Forschungsgebiete wurden zu Beginn des 14. Jahrhunderts an den Universitäten in Italien, Frankreich und England sowie in anderen Teilen Westeuropas direkt von muslimischen Wissenschaftlern eingeführt. Gleichzeitig waren Arabischstudien Teil der Lehrpläne von Oxford und Paris.
Es ist Zeit, uns zu fragen, welche Schlussfolgerungen wir aufgrund dieser Beweise ziehen können. Einer ist, dass die Geschichte der islamischen Gemeinwesen Europas die Hoffnung stützt, dass wir ein Europa erleben könnten, in dem Juden, Christen, Muslime und andere religiöse, kulturelle und ethnische Gemeinschaften im aufrichtigen und rückhaltlosen Respekt ihrer gegenseitigen Unterschiede leben können.
Es gibt Dinge, von denen wir leben, und Dinge, für die wir leben. Das heißt, dass die Kategorien von Eigeninteresse und Duldsamkeit graduell auf ein höheres Niveau gebracht werden sollten, um durch die Kategorien Respekt und Zuneigung ersetzt zu werden. Um es kurz zu machen: Sie alle wussten, wie man brüderlich zusammenlebt, wenn auch nur für eine kurze Zeit.
Diese Periode macht, auch wenn sie nur kurz war, den Wunsch plausibel, ein multi-religiöses und multi-kulturelles Europa zu sehen, in dem wir in Übereinstimmung mit dessen pluralistischem Hintergrund leben; ein Europa, dass seine muslimische Identität genauso anerkennt, wie es seine christliche und jüdische Identität akzeptierte. Alle haben Anspruch auf die gleichen Rechte auf diesem Kontinent. Diese Rechte gehören jedem durch die Tatsache, dass die politische, kulturelle und spirituelle Identität des modernen Europas durch den intensiven Austausch und den historischen Beitrag von allen geschaffen wurde!