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Muslime in Großbritannien: Die eigene Vielfalt als Stärke nutzen

Ausgabe 330

Pandemie Muslime Großbritannien
Foto: Rocketclips, Inc., Shutterstock

Die muslimische Bevölkerung Großbritannien mit rund 3,37 Millionen Angehörigen (2019) hat jetzt schon erhebliche Stärken bei Soft und Hard Power. Man kann den Standpunkt vertreten, bei ihr handelt es sich um die wortgewaltigste Minderheit im Westen. Bisher ist es ihr trotz der Versicherheitlichung nach 9/11 gelungen, ein staatlich erzwungenes Vertretungsgremium zu verhindern. Von Yahya Birt

(Ayaan Institute). Die wichtigsten strategischen Schritte für sie sind Professionalisierung und Konsolidierung der Interessenvertretung, die Diversifizierung der politischen Zugkraft auf lokaler Ebene, das Überdenken des öffentlichen islamischen Diskurses weg von der Dreiecksbeziehung zwischen dem muslimischen Minderheitenstatus und der unreflektierten Förderung dekontextualisierter auswärtiger Agenden sowie der Ausbau der Kapazitäten muslimischer Onlinemedien und des Kreativsektors im Allgemeinen.

Die Muslime des Landes haben sich bereits erhebliche Stärken als eine Minderheit aufgebaut, der es gelungen ist, ihren Einfluss zu projizieren. Nach der letzten Schätzung des landesweiten Büros für Statistik leben in England und Wales 3,37 Millionen Muslime (Stand: 2019, 5,7 Prozent der Bevölkerung). Auch wenn ihr zunehmender Einfluss ab 1989 einsetzte, gehen die Wurzeln ihrer Interessenvertretung über 100 Jahre zurück. 1885 wurde die erste islamische Vereinigung in London gegründet. 1890 kam eine Moscheegemeinschaft von Konvertiten in Liverpool hinzu. Innerhalb des imperialen Kontextes setzten sie sich für muslimische Rechte ein. Beispielsweise machten sie sich für bessere britisch-osmanische Beziehungen stark. Während und nach dem Ersten Weltkrieg kritisierten sie das Sykes-Picot-Abkommen, die Auflösung des Osmanischen Reiches und forderten ein Ende der Kolonialherrschaft in Indien.

Dieser anfängliche Einsatz nahm mit der Nachkriegszuwanderung von Muslimen aus der Arbeiterklasse zu, die auf der Arbeitssuche kamen. In den 1960ern schlossen sich ihnen Angehörige im Rahmen eines Familiennachzugs an. Sie kooperierten mit Intellektuellen, Aktivisten und Studenten aus der Mittelklasse. Ab den 1950er Jahren beteiligten sie sich an Kampagnen für Arbeiterrechte, Antirassismus sowie zur Palästinafrage. Daneben engagierten sie sich in lokalen Fragen wie Halal-Schulspeisung, Baugenehmigungen für Moscheegebäude sowie verwandte Themen.

Ab 1989 kamen diese Gemeinschaften zu landesweiten Protestaktionen zusammen. Das leitete eine Periode des Aufbaus nationaler Interessenvertretungen in den frühen 1990ern ein. Diese Phase prägt weiterhin konservativere Ansätze bei Repräsentation und Lobbyarbeit. Von vergleichbarem Umfang war die massive Antwort auf den Bosnienkrieg (1992-1995), der ein neues Gefühl von Bedürfnissen und Solidarität unter europäischen Muslimen schuf – insbesondere nach dem Völkermord von Srebrenica 1995.

In den zwei Jahrzehnten nach dem 11. September hat sich die institutionelle Trennung zwischen den Vertretungsorganen und den Organisationen, die sich nur für ein Thema einsetzen, verfestigt, auch wenn es einen personellen Austausch gibt. Die bedeutendste Koalition in diesem Zeitraum war die Antikriegskoalition, die gegen den Irakkrieg 2003 protestierte: Sie führte zur größten Straßendemonstration in der britischen Geschichte mit über einer Million Teilnehmern, die von britischen Muslimen und den Gewerkschaften organisiert wurde.

Diese Zeit war geprägt von der Ablehnung britischer Muslime, die sich dagegen wandten, als Problem der inneren Sicherheit betrachtet zu werden. Das hat sich mit der Unterwerfung öffentlicher Einrichtung unter die Sicherheitsdiskurse ab 2015 beschleunigt. Diese zielte insbesondere darauf ab, muslimische Kinder auf frühe Anzeichen von Radikalisierung und Extremismus zu überwachen. Diese Versicherheitlichung hat mit internen Divergenzen gespielt, um Spaltungen auszunutzen, indem Muslime als „extremistisch“ oder „gemäßigt“ etikettiert wurden. Das wurde benutzt, um die Bemühungen zur Überwindung der Benachteiligung von Muslimen an weiterführenden Schulen durch kulturelle Anerkennung und hohe Hoffnungen auf akademische Leistung ab 2014 zurückzudrängen. Eingeleitet wurde das durch die „Trojanisches Pferd“-Affäre.

Zu den Vorteilen von sanftem Einfluss, (oder Soft Power) die britische Muslime genießen, gehört ihre führende Rolle bei der Entwicklung des Englischen, der meistgesprochenen Sprache der Welt, zu einer globalen islamischen Sprache, die sich im grenzenlosen anglophonen Internet manifestiert und ihren wichtigsten Ausdruck im „muslimischen Atlantik“ findet zwischen Muslimen in Großbritannien und Nordamerika.

London ist mit einer geschätzten muslimischen Bevölkerung von 1,28 Millionen (14,3 Prozent, 2019) zu einer der bedeutendsten muslimischen Städte des 21. Jahrhunderts geworden, die jahrzehntelang als Zufluchtsort für muslimische Migranten und politische Exilanten diente, um sich unter Bedingungen relativer Sicherheit und Freiheit neu zu formieren und neu zu denken. Im Laufe der Jahrzehnte sind in der Stadt viele wichtige Publikationen, Debatten, Netzwerke und sogar einige Denkfabriken und Forschungsinstitute entstanden, darunter das Muslim Institute (gegründet 1974) und das Institute of Muslim Minority Affairs (gegründet 1979).

Londons Muslime profitieren von der kosmopolitischen Natur ihrer ethnischen Vielfalt – die globale Umma ist hier vertreten und bietet den perfekten Boden für eine kosmopolitische, gemeinschaftliche Solidarität, die artikuliert, verfeinert und gefördert werden kann. Unterstützt wird ein solches Vorhaben durch eine wachsende Zahl muslimischer Berufstätiger aus der Mittelschicht, die über das Geld, die Fähigkeiten und die Visionen verfügen, um die weitere Institutionalisierung eines solchen Vorhabens zu unterstützen. Ein solches Versprechen ist ebenso in anderen Städten mit großen muslimischen Bevölkerungsgruppen wie Birmingham, Bradford, Manchester und Leicester sichtbar.

Es gibt mehrere vielversprechende Vektoren des weichen und harten Einfluss britischer Muslime:

1. Eine wachsende Wirksamkeit ihrer kreativen und medialen Sektoren im Internet. Hier kann sich noch einiges tun wie die Entwicklung überzeugter und unabhängig finanzierter Medien.

2. Hier hat sich ein starker Wohltätigkeitssektor entwickelt, der heute weltweit aktiv ist. Trotz bestimmter Einschränkungen aus dem Jahre 2014, die muslimischen Organisationen im Namen der „Terrorbekämpfung“ auferlegt wurden, spenden Muslime hier jährlich beinahe 800 Millionen Euros, was sie zur größten Spender-Gruppe macht.

3. Im Rahmen von London als finanziellem Zentrum erster Ordnung schicken Unternehmer und Geschäftsleute mit Migrationshintergründen jährlich große Summe zur Unterstützung in ihre Ursprungsländer wie Pakistan. So werden hier beispielsweise beinahe 400.000 digitale, pakistanische Auslandskonten unterhalten. Innerhalb von zwei Jahren belief sich ihre Bilanz auf ca. 3,74 Mrd. US-Dollars.

Gleichzeitig stehen die britischen Muslime auch vor Herausforderungen ihrer gemeinschaftlichen Solidarität. Die erste besteht darin, dass sich das politische Klima derzeit verschlechtert. Nach dem Brexit von 2015 verschlimmert sich der einheimische Nationalismus und wird von erheblichen islamophoben und fremdenfeindlichen Ressentiments angetrieben. Trotz des oben erwähnten Engagements aus der Zivilgesellschaft hat sich der Sicherheitsstaat von der Terrorismusbekämpfung auf die Extremismusbekämpfung verlagert; und zwar von öffentlichen Einrichtungen auf religiöse Institutionen, die Wirtschaft und den Wohlfahrtssektor. Ein Teil davon war eine Verschiebung des Ethos in der Schulbildung weg von multikultureller Inklusion und Antirassismus zu einer assimilatorischen Betonung britischer Grundwerte und der Extremismusbekämpfung.

Im Allgemeinen haben jugendliche Erweckungsbewegungen, die in den 1980ern und 1990ern entstanden, an Einfluss verloren. Derzeit kämpfen sie darum, sich selbst neu zu erfinden. Traditionelle und neue Gönner wie die Saudis oder Türken sehen sich nicht mehr zu einer Unterstützung veranlasst, wie sie es früher taten. In soziologischer Hinsicht handelte es sich bei ihren Mitgliedern um aufstiegswillige Klassen. Jetzt sind sie in die Jahre gekommen und haben ihre Bindung an Muslime aus der Arbeiterklasse verloren.

Bewegungen, die mit den muslimischen Heimatländern in der Diaspora verbunden sind, entfernen sich entweder zu langsam von alten sektiererischen Kämpfen oder sind weiterhin in eine transnationale Ökonomie verwickelt, die nach Finanzierung und Unterstützung durch wohlhabendere Muslime in Großbritannien strebt. Die größte Herausforderung besteht darin, dass die rivalisierenden Nationalismen im Großen und Ganzen nicht bereit sind, mit muslimischen Minderheiten eine reife, wechselseitige Beziehung einzugehen. Entweder versuchen sie eigennützig, den Einsatz gegen Muslimfeindlichkeit in Europa zu dominieren – ohne angemessene Beratung mit den Betroffenen. Noch schlimmer ist, dass teilweise auch bestimmte Tendenzen gefördert werden, die Islamfeindlichkeit und Sicherheitsdiskurse verschlimmern. Damit wird dem Empowerment britischer Muslime geschadet. Mit anderen Worten, diese gelten nicht als Partner, sondern vielmehr als strategische Aktiva oder als Belastungen.

Derzeit überwiegen beim Einsatz für muslimische Bürgerrechte kleinere Kampagnenorganisationen, die sich auf zwei Themen konzentrieren: Islamophobie und Sicherheitspolitik. Das führt zu Dopplung und einem Mangel an strategischer Gesamtkoordination. Ein weiteres Ergebnis ist, dass Schlüsselthemen wie mangelnde soziale Mobilität, niedrige schulische Leistungen (insbesondere bei muslimischen Jungen) oder die muslimische Flüchtlingskrise nicht genügend Aufmerksamkeit erhalten.

Mentoring und Schulungen im Bereich der Interessenvertretung müssen stärker in den Mittelpunkt gerückt werden, um ein post-ideologisches Berufsethos zu fördern. Dieser Zweig muss außerhalb des gemeinnützigen dritten Sektors umstrukturiert werden, da er zunehmend politischen Zwängen unterworfen ist.

Die sich abzeichnende Trennung zwischen Interessenvertretung und Repräsentation muss weiter zementiert werden, da die Repräsentationspolitik dem Staat zugewandt und risikoscheu ist und den kleinsten gemeinsamen Nenner in Bezug auf die Interessen der muslimischen Gemeinschaft bedient. Schließlich muss die Interessenvertretung ihr Augenmerk wieder auf den Aufbau innermuslimischer Solidarität durch öffentliche Aufklärung und den Aufbau unabhängiger Institutionen richten – in der Vergangenheit hat sie sich mit unzureichendem Einfluss an den britischen Staat gewandt, um Abhilfe zu schaffen, was eine verlorene Strategie ist, die sich ändern muss.

Im Großen und Ganzen hat die britische muslimische Gemeinschaft in der Vergangenheit die Labour-Partei sowohl lokalen und nationalen Wahlen mit einer solchen Beharrlichkeit unterstützt, dass ihre Stimme als selbstverständlich angesehen wurde. Da die repräsentative Demokratie die Erwartungen der Muslime in Bezug auf Gleichheit und Anerkennung nicht erfüllen kann, muss die Zunahme des Bewusstseins im Land anderswo in transversalen Koalitionen und Bündnissen einen Hebel ansetzen. Eine formale Trennung ist vor allem auf lokaler Ebene erforderlich. Hier besteht eine symbiotische Beziehung zwischen einigen Moscheen und lokalen Labour-Ratsmitgliedern – insbesondere in den Midlands und im Norden; auch wenn dies für jüngere Muslime eine Herausforderung darstellt, da eine ältere Generation von Gatekeepern weiterhin übermäßigen Einfluss ausübt.

Während sich das Zentrum der Gemeinschaftsdebatte ins Internet verlagerte, haben die Gemeinschaften nicht die Ressourcen bereitgestellt, um ein unabhängiges Medienorgan zu unterstützen, das Nachrichten aus ihr auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene auf hohem Niveau recherchieren, Herausforderungen und Mängel diskutieren und bewährte Verfahren und Erfolge weitergeben kann. Das bedeutet, dass uns zentrale, vertrauenswürdige Plattformen fehlen, die die Gruppensolidarität fördern und gleichzeitig als unabhängige, fördernde und selbstkritische Räume fungieren können.

Für ein solches Unterfangen muss es ein gewisses Maß an kontinuierlicher, unabhängiger finanzieller Unterstützung geben, denn es ist unklar, wie eine seriöse Nachrichtenberichterstattung im neuen digitalen Medienumfeld aufrechterhalten werden kann.